Der Unschuldigen Blut (eBook)
432 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-22092-1 (ISBN)
An einem regnerischen Novemberabend wird die junge Ärztin Sasha Johnson mitten auf einem belebten Londoner Platz erstochen. Detective Superintendent Duncan Kincaid übernimmt den Fall und erhält dabei inoffizielle Unterstützung von seiner Frau Inspector Gemma James. Schnell wird klar, dass Sasha nicht in das übliche Opferprofil passt: Die Tochter einer bildungsbürgerlichen Familie hatte keine Missbrauchsvorgeschichte oder Verbindungen zu Gangs. Aber sie hatte gefährliche Geheimnisse. Während Kincaid eine beunruhigende Verbindung zu seinen Freunden Wesley und Betty Howard aus Notting Hill entdeckt, geschieht ein weiterer Messermord. Und Gemma, die undercover ermittelt, gerät in tödliche Gefahr ...
Deborah Crombies höchst erfolgreiche Romane um Superintendent Duncan Kincaid und Inspector Gemma James von Scotland Yard wurden mit dem »Macavity Award« ausgezeichnet und für den »Agatha Award« und den »Edgar Award« nominiert. Die Autorin lebt mit ihrer Familie im Norden von Texas, verbringt aber viel Zeit in England, wo ihre Romane angesiedelt sind.
1
Sie stand da und sah auf ihre schlafende Tochter hinunter, auf die feuchten, zerzausten Haarsträhnen, die halb weggestrampelte Bettdecke. Das Kind hatte immer schon einen unruhigen Schlaf gehabt. Aber diese Nächte, verbracht mit Auf-und-ab-Gehen und In-den-Schlaf-Wiegen, waren jetzt zu weit weg – eine Erinnerung, die ihr mehr und mehr entglitt, wie auch die an die warme Last des Babys in ihren Armen. Jetzt verwandelte das schwache Licht, das durch die offene Zimmertür fiel, die Einhörner auf dem zerknitterten Pyjama des Mädchens in Hieroglyphen – als ob die Fabelwesen im diffusen Mondlicht tanzten.
Wie konnte sie es ertragen, ihre kleine Tochter zurückzulassen, und gar für Monate? Aber sie musste es tun, das war ihr klar. Sie musste sie selbst sein, brauchte Platz zum Atmen, Platz zum Nachdenken, um Entscheidungen treffen zu können, frei vom andauernden Druck seines Missfallens.
Sie spürte seine Anwesenheit, noch ehe sie die Schritte auf dem Flur hörte und sein Schatten das Licht in ihrem Rücken verdrängte. Er packte ihre Schultern. »Du gehst nicht.«
Sie drehte sich nicht um, versuchte nicht zusammenzuzucken. »Ich muss. Das weißt du doch. Ich kann helfen …«
»Das ist dein Gottkomplex, mein Schatz«, sagte er leise. »Dein Platz ist hier. Als Mutter. Als Ehefrau.«
»Ja, aber …« Ihr Protest erstarb, als sich seine Finger in das weiche Fleisch ihrer Oberarme bohrten.
Seine Stimme war jetzt ein Flüstern, ein Hauch in ihrem Ohr. »Wenn du das tust, wird es dir noch leidtun. Das garantiere ich dir.«
Duncan Kincaid dehnte seinen von der Schreibtischarbeit verspannten Nacken und trank genüsslich einen Schluck Bier. Das viktorianische Pub in der Lamb’s Conduit Street füllte sich allmählich mit Gästen, angelockt von der Happy Hour am frühen Freitagabend – offenbar überwiegend Krankenhauspersonal, das sich aus dem Great Ormond Street Hospital auf der anderen Straßenseite hierher geflüchtet hatte. Kincaid selbst war auf dem Heimweg vom Polizeirevier Holborn, hatte sich aber mit seinem Detective Sergeant Doug Cullen im Pub verabredet, um sich von der Vernehmung berichten zu lassen, die Doug am Nachmittag in der Theobalds Road durchgeführt hatte. Das Team war noch mit ein paar abschließenden Arbeiten zu einem Fall beschäftigt, einem Raubüberfall auf einen Nachbarschaftsladen, bei dem der Inhaber, ein älterer Asiate, niedergestochen worden war. Die Täter waren bei all ihrer Brutalität offenbar nicht besonders helle – ihre Gesichter hatten sie mit Sturmhauben verdeckt, aber das auffällige Tattoo auf dem Handrücken des Messerstechers vergessen, das auf dem Überwachungsvideo des Ladens zu sehen war. Die beiden hatten ihre magere Beute in Sixpacks Lagerbier investiert, das sie in einem Laden um die Ecke gekauft hatten – diesmal unmaskiert.
Idioten. Es war eines dieser sinnlosen Verbrechen, die Kincaid so satthatte. Er nahm noch einen Schluck aus seinem Pintglas und sah auf die Uhr. Doug verspätete sich. Die junge Frau, die allein am Nebentisch saß, schien Kincaid zu imitieren – mit irritierter Miene sah sie zuerst auf ihre Uhr, dann auf ihr Handy. Trotz des windigen Novemberabends war der Raum warm vom Kaminfeuer, und sie hatte ihren pelzbesetzten Anorak ausgezogen, unter dem OP-Kleidung zum Vorschein kam. Die hellgrüne Farbe des Kittels hob sich von ihrer dunklen Haut und ihrem krausen schwarzen Haar ab. Eine Ärztin, dachte er, da das Pflegepersonal in der Regel Uniform trug, und er korrigierte seine Schätzung ihres Alters um ein paar Jahre nach oben. Als sie ihr Handy wieder in ihrer Handtasche verschwinden ließ, wandte er rasch den Blick ab, weil er merkte, dass er sie angestarrt hatte.
Die Tür in der Nähe des Kamins schwang auf und ließ einen kalten, feuchten Windstoß herein, begleitet von einem Schwall brauner Blätter. Die junge Frau blickte mit erwartungsvoller Miene auf, doch es war Doug Cullen, sein Anorak und die hellen Haare feucht glänzend, die Wangen rosig von der Kälte. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ließ Doug sich auf den Stuhl gegenüber von Kincaid sinken und nahm seine mit Tropfen gesprenkelte Brille ab.
»Was für ein Tag«, stöhnte er, während er die Brillengläser mit einem Taschentuch abtrocknete. Er deutete mit einem Nicken auf Kincaids Glas. »Was immer du da trinkst, so eins könnte ich auch gebrauchen.«
»Bloomsbury IPA. Die Runde geht auf mich«, erwiderte Kincaid und stand auf. Während er sich einen Weg durch das Gedränge zum Tresen bahnte, sah er, wie die junge Frau ihre Sachen zusammenzusuchen begann. Als er sich wenige Minuten später mit den Biergläsern in der Hand umdrehte, war sie verschwunden.
Sie hielt inne, die einladende Wärme des Pubs im Rücken. Noch einmal sah sie auf ihr Handy, dann schrieb sie eine kurze Textnachricht.
Sie drehte sich um und warf einen letzten Blick hinein. Der gut aussehende Weiße, der sie so interessiert gemustert hatte, stand am Tresen. Auch ohne das blaue Umhängeband, das aus seiner Anzugjacke hervorschaute, hätte sie ihm den Polizisten angesehen. Und verheiratet war er auch – sie hatte den Ring an seiner linken Hand aufblitzen sehen. War ja klar, dachte sie und verzog das Gesicht. Dann drehte sie sich von dem erleuchteten Fenster weg, überquerte die Straße, hüllte sich fest in ihre Jacke und ging nach Norden.
Als sie in die Guilford Street einbog, signalisierte ihr Handy eine Antwort. Treffpunkt wie immer? Gib mir 15 Min, OK?
Nachdem sie mit einem Daumen-hoch-Emoji geantwortet hatte, steckte sie ihr Handy wieder ein und beschleunigte ihre Schritte. Sie könnte gerade rechtzeitig im Café sein, wenn sie die Abkürzung über den Russell Square nahm. Am Fitzroy Hotel angekommen, lief sie um die Ecke und betrat die Grünanlage von der Nordecke.
Inzwischen war es völlig dunkel, die Illumination des Springbrunnens verdeckt von den Scharen von Menschen, die mit gesenkten Köpfen von der Arbeit nach Hause eilten. Ein Frösteln überlief sie, und sie dachte an die Sommerabende zurück, an denen sie sich im Gras ausgestreckt oder auf der Terrasse des Caffè Tropea einen Wein genossen hatte. Wie um sie zu verhöhnen, schleuderte ihr eine Windbö Wassertropfen von den Bäumen am Wegrand ins Gesicht.
Ein Radfahrer raste an ihr vorbei, so dicht, dass sie den Luftzug spürte. Sie fuhr herum und wollte ihn anschreien, doch er war bereits verschwunden. Alles rücksichtslose Spinner, diese Radfahrer – und sie hatte weiß Gott schon genug von dieser Sorte in der Notaufnahme zusammenflicken müssen.
Als sie weitergehen wollte, rammte jemand sie heftig von vorne und packte sie an der Schulter, als sie von der Wucht des Zusammenstoßes wankte. Ehe sie protestieren konnte, war die dunkle, schattenhafte Gestalt schon wieder verschwunden, ebenso schnell in der Menge untergetaucht wie der Radfahrer.
Ihr Herz machte einen eigenartigen kleinen Hüpfer. »Was zum …«, flüsterte sie, doch die Worte erstarben in ihrer Kehle. Dann verschwammen die Ränder ihres Gesichtsfelds, und sie brach zusammen.
»Mummy.« Trevor zupfte am Saum ihrer Jacke.
Lesley Banks seufzte genervt und fixierte weiter das Display ihres Handys. »Also wirklich, Trev«, fuhr sie ihn an, »kannst du dich nicht mal eine Minute lang mit dir selbst beschäftigen? Du bist doch jetzt ein großer Junge.« Eine Angestellte des Hotels hatte ihr gerade eine Nachricht geschickt, dass sie nicht zur Abendschicht kommen könne, und Lesley musste das sofort regeln. Der Weg quer durch die Grünanlage war das einzige Stück, wo sie ihren fünfjährigen Sohn nicht permanent im Blick – und an der Hand – behalten musste.
»Aber Mummy …«
»Trev, schau dir doch einfach den hübschen Brunnen an, okay?«, unterbrach sie ihn, während sie sich durch ihre Kontakte scrollte auf der Suche nach jemandem, der bereit wäre, kurzfristig einzuspringen.
»Mummy.« Trevor zerrte jetzt noch hartnäckiger an ihrer Jacke. Etwas in seiner Stimme veranlasste sie, den Blick vom Display zu wenden. »Mummy, ich glaub, die Frau da ist krank.«
»Welche Frau meinst du, Schatz?«
Trevor zeigte darauf. »Die Frau da drüben, bei dem Baum.«
Lesley konnte eine dunkle Silhouette unter den Bäumen ausmachen, gerade außerhalb des Bereichs, der von der Brunnenillumination erhellt wurde. Sie schüttelte den Kopf. »Das geht uns nichts an, Schatz.«
»Aber Mummy.« Trevor scharrte mit den Füßen im Laub. »Sie ist so komisch gegangen. Und dann ist sie hingefallen.«
»Hör mal, Liebling, die Frau hat wahrscheinlich einfach nur ein bisschen zu viel …« Lesley brach ab. Warum brachte man den Kindern bei, freundlich und hilfsbereit zu sein, wenn man dann selbst nicht dazu bereit war? Mit einem Seufzer steckte sie ihr Handy ein und ergriff Trevors Hand. »Okay, dann lass uns mal nachsehen.« Sie trat ein paar Schritte näher und rief: »Miss? Ist alles in Ordnung, Miss?«
Die Gestalt rührte sich nicht. Lesleys Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte Beine erkennen, die Umrisse eines Stiefels. Sie zögerte. Diese Reglosigkeit hatte etwas an sich, das ihr ungut vorkam. Selbst Betrunkene waren normalerweise noch irgendwie ansprechbar. Sie blickte sich um in der jähen Hoffnung auf Unterstützung durch andere hilfsbereite Passanten, doch die Menge hatte sich zerstreut, während sie gezaudert hatte.
Sie könnte natürlich den Notruf wählen, aber sie würde ganz schön dumm dastehen, wenn sich herausstellte, dass es nur eine Obdachlose war, die hier ihren Vollrausch...
Erscheint lt. Verlag | 23.8.2023 |
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Reihe/Serie | Die Kincaid-James-Romane | Die Kincaid-James-Romane |
Übersetzer | Andreas Jäger |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A Killing of Innocents |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2023 • berühmte Ermittler • eBooks • Geheimnis • Krimi • Kriminalromane • Krimis • krimi und thriller • London • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2022 • Reihe • spannend • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Taschenbuch |
ISBN-10 | 3-641-22092-0 / 3641220920 |
ISBN-13 | 978-3-641-22092-1 / 9783641220921 |
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