Damals im Sommer (eBook)
192 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-26146-7 (ISBN)
Ein Sommerurlaub Ende der 90er, zwei Brüder mit ihren Eltern am Meer. Der eine knapp 17, vorlaut, sportlich und schon erfahren im Umgang mit Mädchen; der andere 15, oft in Gedanken versunken, schüchtern und ohne Sixpack. Doch alles wird anders, als der Jüngere am Strand dem geheimnisvollen Filip begegnet. Dieser fasziniert ihn auf eine Weise, die er schwer einordnen kann: mit seinem Lächeln, seinen Segelohren, seinem muskulösen Körper. Am letzten Ferientag geschieht das Undenkbare und doch insgeheim so Ersehnte: Sie verbringen eine gemeinsame Nacht. Danach ebbt der Kontakt ab, Filipbleibt schmerzhaft unerreichbar, verblasst. Bis der 15-Jährige etwas über den Franzosen erfährt, was ihn über Nacht erwachsen werden lässt ...
Florian Gottschick erzählt faszinierend direkt, wehmütig und voller Humor von der Euphorie der ersten Liebe und davon, wie ein Erlebnis in der Jugend dem Leben eine ganz eigene Wendung geben kann.
Florian Gottschick machte 2013 sein Diplom in Filmregie an der Filmuniversität Babelsberg. Die Filme unter seiner Regie liefen auf über 70 internationalen Filmfestivals. Sein Diplom-Film 'Nachthelle' wurde für den Grimme-Preis nominiert und ist, wie seine anderen Werke, auf VoD-Plattformen verfügbar. Seine aktuellen Projekte umfassen drei Serien für ARD und ZDF sowie eins (von insgesamt drei) 2020 produzierten deutschen Netflix Originals. Er lehrt als Dozent Filmschauspiel, Drehbuch/Dramaturgie und Filmregie. »Henry« ist sein Romandebüt, ein weiterer Roman ist in Vorbereitung.
7.
Unerträglich glühte die Sonne am Himmel, und die Bäume senkten ihre Äste matt und braun gen Erde. Die Vegetation bot einen traurig kargen Anblick.
Am nächsten Tag war Fer wieder kurz davor, dem Auto meines Vaters einen Schwall Verdautes zu überantworten. Wir verbrachten die meiste Zeit auf Serpentinen, die Klimaanlage war außerstande, es mit vier schwitzenden Körpern und den Sommertemperaturen aufzunehmen, und so fuhren wir mit offenen Fenstern. Die Straßen waren eng, hin und wieder überholten wir einen Pulk aus Rennradfahrern, die sich verbissen die Berge hinaufmühten oder waghalsig Kurven schneidend herunterrasten, als gäbe es kein Morgen mehr. Für mich aber sollte es unbedingt ein Morgen geben und auch ein Übermorgen, denn danach war Wochenende – ein ebenso lockendes wie in freudiger Erwartung verunsicherndes Wochenende.
Wir besuchten ein hitzekahles Dorf mit einem stillen Kloster, das der Reiseführer als Sehenswürdigkeit ausgewiesen hatte, und fuhren dann weiter in eine Ortschaft, die sich terrassenförmig bis ans Meer herunter an einen Hügel schmiegte. Ich musste mir unter allerlei Belehrungen vormaurische Zisternen und gemauerte Kanäle anschauen, die die Hänge bewässerten, aber nicht die sengende Hitze milderten. Unten an der steinigen Bucht versprach selbst das Meer keine Abkühlung. Es war so erfrischend wie Mimis Thymian-Erkältungsbad im Winter. In mein Herz schlich sich ein Gefühl, das mir neu war, doch das mich fortan ein Leben lang begleiten sollte. Vielleicht kommt ihm der Ausdruck Phantomschmerz am nächsten. Ausgelöst wurde es von etwas, das nicht da war. Von der bloßen Nichtexistenz dessen, was mich komplettierte, was mich erst zu einem vollkommenen Ganzen werden ließ. An diesem Tag fühlte ich zum ersten Mal dieses dumpfe Bohren, und wenn es eine Farbe hatte, dann ein rostiges Rot.
Nächster Tag. Das Wochenende lag noch weit in der Zukunft: Morgen erst! Bis dahin versuchte ich, mir in der Hängematte die Zeit zu vertreiben. Ich schaute in die Wipfel der Bäume, die in den Himmel pinselten, und hörte zum 47. Mal die einzige Alf-Folge, die ich auf Kassette hatte. Alf rief bei irgendeinem hohen Tier der Regierung an, und die Vorzimmerdame sagte, der Mann sei indisponiert.
»Indisponiert?«, wiederholte Alf. »Das heißt, er ist aufm Klo?« Ich verdankte den Großteil meines Wortschatzes meinen Hörspielkassetten. Fer hatte selten die Muße, sich mit mir abzugeben, was sollte ich also anderes tun? Es gab eine Zeit, in der ich nur wenige Freunde in der Schule hatte, weil ich wie Justus Jonas von Die drei ??? redete. Hochtrabend, besserwisserisch und selbstüberzeugt mit einem Hauch Arroganz in der Stimme. Der einzige Freund, der mir das in aller Regel vergab, war Olivier. Er wohnte in meiner Straße, wir kannten uns, seit wir Fahrrad fahren und die Gegend unsicher machen konnten. Wir sind noch heute befreundet. Er ist halb Slowake, halb Marokkaner und sprach damals halb Deutsch, halb Französisch. Als Olivier und ich einmal mit seinem Vater Igor in Bratislava und Prag waren und von dort aus allein mit dem Zug nach Hause fuhren, brach es aus ihm heraus. Ich ließ mich gerade mal wieder klugscheißerisch aus und will gar nicht bestreiten, dass ich das seinerzeit regelrecht zelebrierte, erst recht mit so einem dankbaren Opfer wie Olivier. Da schleuderte er mir über die Sitze des leeren Zugabteils entgegen, was für eine Feine-Pinkel-Sprache ich doch hätte und wie wenig sie unserem Alter entspreche. »Benimm dich doch mal wie ein Junge in deinem Alter. Erwachsen wirst du doch noch schnell genug!«
Ich setzte wie gewohnt mein überhebliches Lächeln auf, nicht wissend, dass er eben hier, im staubigen Zug von Prag zurück nach Hause, den Kern meines Problems getroffen hatte. Ich war so damit beschäftigt, erwachsen zu wirken, vielleicht auch weil ich glaubte, meinem Bruder dadurch ebenbürtig zu sein, dass ich ganz vergaß, meine Jugend zu genießen. Selbst jetzt, nachdem ich schon längst volljährig bin, studiert habe, arbeite, schreibe und damit Geld verdiene, habe ich das Gefühl, Erwachsene nur zu imitieren. Ich habe nie gelernt, ich selbst zu sein, denn in diesem Sommer passierte etwas mit mir, das einen großen, wahrscheinlich den größten Seelenanteil von mir an damals fesselte. An das Dünenhaus, die Hängematte, den Nadelwald, den Silberstein, das Dieselgestank verströmende Boot am Ende des Stegs – und natürlich das Hotel mit seinen toten Fenstern.
Olivier brach später die Schule ab und zockte mit seinen Kumpels Videospiele in der Garage. Er ärgerte sich, wenn er sie innerhalb kürzester Zeit durchgespielt hatte und dann für teure D-Mark neue kaufen musste, und so gründeten sie zusammen eine Firma, eine Art Tauschbörse, an die man sein durchgespieltes Spiel schicken und für ein paar Pfennige gegen ein anderes gebrauchtes tauschen konnte. Eineinhalb Jahre nachdem sie die Firma gegründet hatten, verkauften sie sie für eine halbe Million D-Mark.
Ruhe wollte sich in der Hängematte partout nicht einstellen, denn Filip schob sich mir regelmäßig wieder ins Bewusstsein. Plötzlich erfüllte meinen Körper ein Beben, das einerseits von meinem lauten Herzschlag herrührte, andererseits von etwas anderem, Tieferem. Heute weiß ich, es war keine Liebe und kein Verlangen. Wann immer ich an Filip dachte, war mir, als schaute ich in einen Spiegel. Wenn ich versuchte, mich an Filips Gesicht zu erinnern, schob sich ein Nebel vor mein inneres Auge. Ich konnte mich trotz allen Bemühens nicht an sein Gesicht erinnern. Dennoch fühlte er sich nah an, unendlich nah, als sei er eins mit mir. Dass es sich nicht, jedenfalls nicht nur, um Liebe handelte, sollten mir all die Male zeigen, in denen ich mich verliebt wähnte. Das hier war anders. Wenn ich daran zurückdenke, fühle ich mich, als träfe ich einen jahrhundertealten Freund wieder, der als Einziger auf der Welt imstande war, in die dunkle Tiefe meiner Seele ein Licht hineinzutragen.
Natürlich war es an diesem Tag in der Hängematte und überhaupt in meinem Alter viel zu verfrüht, um ernsthaft über Liebe nachzudenken, geschweige denn über sie zu philosophieren. Und so hatte ich alle Gedanken, die mit Filip zu tun hatten, mehrfach erörtert und sie ad acta gelegt, als wir zum Abendessen von einem alten Schulfreund unseres Vaters Besuch bekamen. Es sollte gegrillt werden, und so bereitete Mimi den ganzen Nachmittag alles Mögliche vor. Fleisch und als Beilage ihre neue Spezialität: klein geschnittenes Gemüse, das sie mit Schafskäse vermengt in eine Wurst aus Alufolie wickelte, um sie dann auf den Grill zu werfen. »Büdi« nannten wir unseren Besuch, seinen richtigen Namen kannte ich nicht. Büdi hatte mit meinem Vater studiert und war in diesem Sommer mit einer Russin zusammen, die ihn begleitete. Sie arbeitete offenbar etwas Ähnliches wie unser Vater und betrieb ein städteplanerisches Büro in irgendeiner Ortschaft in Russland. Sie hatte ein paar Kilo mehr drauf, nicht zuletzt an den Lippen, und trug ein sehr eng anliegendes und sehr rosafarbenes Kleid. Die beiden luden uns für das kommende Wochenende zu einer Kunstausstellung in einer nahe gelegenen Großstadt ein. Mimi war sofort Feuer und Flamme: Kunst und Kultur, vor allem die Gelegenheit, sich zu zeigen und gesehen zu werden, begeisterte sie. Sie wollte endlich mal wieder unter Menschen, und diese Stadt versprach ihr die willkommene, lang herbeigesehnte Abwechslung. Wenn es It-Girls gab, als unsere Mutter noch ein Fräulein war, dann muss sie eins gewesen sein. Sehr gut aussehend, wurde sie gerne von reichen Geschäftsmännern zu Events eingeladen, auf denen sie Kleider anziehen konnte, die Mimi, so wirkt es auf den Fotos, erst so richtig zur Geltung brachten. Später lernte sie unseren Vater kennen, der aus einfachen Verhältnissen vom Land kam. Sportlich, bodenständig, gut aussehend, stark, Beschützertyp, angehender Architekt. Attribute, die damals ein Stadtmädchen wie Mimi in romantische Schwärmerei versetzten. Er fuhr eine Ente und studierte im Süden, während Mimi im Norden der bundesdeutschen Republik bei meinen Großeltern wohnte. Er erzählte uns öfter, dass er die Strecke bis über beide Ohren verliebt zweimal im Monat in fünfzehn Stunden fuhr und stets nach zwei Dritteln eine kurze Pause einlegte, in der er sich zwanzig Minuten Schlaf gönnte. Ihren Eltern hatte Mimi unseren Vater in einer Bäckerei vorgestellt, und sie sollen direkt einen guten Eindruck von »ihrem Peterle« gehabt haben. Wenn unser Vater sie an den Wochenenden besuchen kam, schliefen sie gemeinsam in Mimis Jugendzimmer auf einer engen Ausklappcouch, auf der auch Fer und ich Jahrzehnte später übernachteten, wenn wir unsere Großeltern besuchten. In dem Zimmer hing eine gezeichnete Karte von Ostpreußen, von wo unsere Oma mit Mimi, als diese noch ein Kind war, mit einem der letzten Schiffe aus Königsberg geflohen war, während unser Großvater im Krieg gekämpft hatte. Mimi soll zur Unterhaltung der Soldaten für ein Stück Schokolade auf den Tischen gesungen und getanzt haben. Wenn sie früher schon so sang wie heute, wird sie dabei wohl nicht viel verdient haben. Unsere Eltern heirateten mit Mitte zwanzig am gleichen Tag, an dem Jahre später Fer geboren werden sollte. Nach zwei weiteren Stationen zog die kleine Familie wieder aufs Land, ganz den Genen unseres Vaters folgend, in besagtes Dorf meiner Kindheit und Jugend. Doch heimisch fühlte sich Mimi hier nie. Immerhin war es nur einen Steinwurf von einer größeren Stadt entfernt, in der mein Vater seiner Arbeit nachging. Dennoch, wenn Mimi aus der Tür trat, stand sie eben nicht im prallen Leben, auf den Steigen einer glänzenden Großstadt mit einer Fülle an Kultur und stets bereiten Fotografen. Sondern im Zweifelsfall neben...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • André Aciman • Benedikt Wells • Call me by you name • Coming of Age • Coming out • eBooks • Erste Liebe • Gayreader • Grimme-Preis-Nominierung • Hardland • Henry • Homosexualität • LGBTQ • Neuerscheinung • Roman • Romane • Ruf dich bei deinem Namen • Schwul • Sex Education • Sexualität • Sommer • Trauer • Urlaub • Verlust |
ISBN-10 | 3-641-26146-5 / 3641261465 |
ISBN-13 | 978-3-641-26146-7 / 9783641261467 |
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