Wenn sie nicht gerade schreibt, arbeitet Grace Curtis in der Game-Industrie. Sie veröffentlichte Artikel in Magazinen wie »Eurogamer« und »Edge« und arbeitet bei einer Indie-Game-Firma namens »Future Friends«. »Das Raumschiff, das vom Himmel fiel« ist ihr Debütroman. In ihrer Freizeit findet man Grace Curtis in den Bergen, beim Klettern und Wandern oder beim Faulenzen im Gras. Die Autorin lebt im englischen Bristol.
Eine Handvoll Romane
Eines wird sich niemals ändern: Die beste Anlaufstelle, um sich zu informieren, ist eine Bibliothek. Selbst wenn man unendlich weit weg ist von zu Hause, verdreckt und voller Sorge, selbst wenn Kupfergeschmack den Mund füllt, weil man sich bei der Landung auf die Zunge gebissen hat, selbst wenn man nur noch schreien oder mit den Fäusten auf den Boden hämmern oder eine Wand einreißen oder auf etwas eintreten will aus lauter Angst und Frustration, und selbst wenn man eigentlich nicht gern liest: Der Weg in die nächste Bibliothek ist der richtige. Dort findet man heraus, was man wissen muss.
Eine Fremde betrat die Stadt – und beschloss, sie so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Die Blicke, die sie erntete, feindselig zu nennen, wäre eine lupenreine Untertreibung gewesen. Die Einheimischen beobachteten sie mit unverhohlenem Hass, also ging sie weiter, ohne auch nur jemandem zuzunicken, denn sie befürchtete, jede noch so zaghafte Kontaktaufnahme könne als Aufforderung zum Kampf aufgefasst werden. Zwar würde sie diesen Kampf vermutlich gewinnen, aber darum ging es nicht. Sie brauchte Hilfe.
Genauer gesagt: Sie musste ganz dringend eine Nachricht senden.
Eine Nachricht an jemanden, der vielleicht tot war.
Sie wusste es nicht genau. Es gab eine Menge, was sie nicht wusste.
Also ging sie in die Bibliothek.
Die Bibliothek befand sich in einem Anhänger, der auf verrosteten Achsen einen guten Kilometer vom Stadtzentrum entfernt parkte. Ein an der hinteren Stoßstange befestigter Karren war mit einem leuchtend bunten Schild versehen, auf dem stand: Gute Bücher zu vermieten! Günstige Preise!
Als Türstopper diente ein Ziegelstein.
Nachdem sie sich einen Moment Zeit genommen hatte, um andere Möglichkeiten abzuwägen – sie kam auf die schöne Zahl null –, duckte sich die Fremde unter der Tür hindurch und betete darum, drinnen ein freundliches Gesicht vorzufinden.
Der Innenraum war eng, düster und so niedrig, dass ihr Ranger-Hut fast an die Decke stieß. Sämtliche Wände verschwanden hinter den zerrissenen Einbänden von Taschenbüchern, und auch auf dem Boden lagen sie stapelweise. Im hinteren Teil der Bibliothek standen zwei Leute an einer behelfsmäßigen Theke und ruinierten die gemütliche Atmosphäre durch einen heftigen Streit.
Die Bibliothekarin war klein, wohlwollend geschätzt vielleicht eins siebenundfünfzig, aber optisch ein wenig vergrößert durch ihre Dreadlocks, die sie mit einem leuchtend orangen Tuch auf dem Kopf zusammengebunden hatte. Um die Taille trug sie eine Art Gürtel, an dem neben anderem Krimskrams fünf Stifte, ein kleines Messer, eine Rolle Klebeband, ein Inhalator, ein Taschenbuch und ein handbetriebener Quittungsapparat befestigt waren. Das rechte Bein steckte in einer steifen Schiene. Sie stritt sich, fast Nase an Nase, mit einem ihrer Kunden. Seine Stimme klang sanft, aber der Fremden entging nicht, dass er mit beiden Händen so fest die Thekenkante umklammerte, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Miss Keeper«, sagte er, »seien Sie nicht albern. Ich gebe nichts zurück, was ich gekauft habe.«
»Sie haben überhaupt nichts gekauft, Sheriff«, blaffte ihn die Bibliothekarin an. »Sie haben es geliehen. Ich verleihe Bücher, ich verkaufe sie nicht.«
»Ich glaube nicht, dass das stimmt.«
»Ach ja? Sie haben es eigenhändig unterschrieben.« Sie knallte etwas auf den Tresen – einen Plastikordner mit vergilbten Blättern, so dick wie ihr Oberarm. »Hier steht es.« Sie zeigte ihm die Stelle auf der Seite. »Genau hier. Sehen Sie?«
Der Mann beugte sich vor und zupfte nachdenklich an einem Büschel weißer Haare an seinem Kinn. »Genau hier?«, fragte er und zeigte auf dieselbe Stelle wie sie.
»Mhm!«
Immer noch scheinbar unaufgeregt packte er die Seite und riss sie aus der Mappe. Die Bibliothekarin kreischte vor Empörung auf und riss den Ordner zurück, aber das half natürlich auch nichts mehr.
»Ich wiederhole«, sagte er und zerknüllte das Blatt, »seien Sie nicht albern. Sie wissen, was ich will.«
»Sie …« Die Bibliothekarin atmete tief durch und stieß dann hervor: »Sie können Ihr heidnisches Scheißgeld behalten, bis zum letzten kleinen heidnischen Scheißpenny. Lieber werfe ich meine gesamte Sammlung in einen Minenschacht und überlasse es der Göttin selbst, herauszufinden, wer Mr. Darcy heiratet, als eine einzige Seite an Sie zu verkaufen. Stecken Sie doch Ihr Gesicht in den nächstbesten Scheißhaufen!«
Der Kunde ballte die Fäuste, und jetzt waren nicht mehr nur die Knöchel weiß, sondern die ganzen Hände. Die Fremde war sicher, dass er gleich zuschlagen würde – sie trat näher, um ihn festzuhalten. Aber da kicherte er auf einmal und ließ die Fäuste sinken. »Das werden Sie bereuen.«
»Zum Weltraum noch mal, das werde ich ganz sicher nicht«, knurrte sie. »Raus hier.«
Der Kunde ging Richtung Ausgang und nickte der Fremden, die sich halbherzig hinter einem Bücherregal zu verstecken versuchte, knapp zu. »Ma’am.« Im Rausgehen trat er gegen den Ziegelstein, und die Tür fiel hinter ihm mit einem Knall zu.
Die Bibliothekarin murmelte vor sich hin, riss hängen gebliebene Papierfetzen aus den Metallklammern des Ordners und schnippte sie an die Wand. Es schien ein schlechter Zeitpunkt zu sein, um mit ihr zu sprechen, also spazierte die Fremde stattdessen durch den Trailer und inspizierte die Sammlung. So abgenutzt die Bücher auch waren, überall entdeckte sie Spuren sorgfältiger Reparaturen: sauber gesetzte Nähte, mit Bedacht platzierter Kleber.
»Tut mir leid, dass Sie das mitansehen mussten, meine Liebe«, sagte die Bibliothekarin und schloss seufzend den Ordner. »Ich bin Amber. Also, was kann ich … bei den Titten der Göttin!« Sie zeigte auf die Hüfte der Fremden. »Was ist das?«
Die Fremde zuckte zusammen und sah nach, was die Bibliothekarin meinte. Es war ein schlankes, gebogenes Gerät aus Chrom und schwarzem Glas, ohne Magazin oder Zielfernrohr. Das glatte Stück Metall steckte in einem verblichenen Lederholster.
»Woher kommen Sie?«, fragte Amber. »Gehören Sie zum Sheriff?«
»Nein …«
»Haben Sie einen Sheriff getötet? Woher im Namen der Göttin haben Sie das?«
»Ich, äh …«, stammelte sie. »I-ich habe es gefunden.«
»Oh.« Die Bibliothekarin beruhigte sich. »Sie sind wohl Schrottsammlerin, was? Ist das Weltraumschrott?«
Sie nickte.
»Sie sind wohl zum ersten Mal so weit oben im Norden?«
»Ja.«
Amber schüttelte den Kopf. »Immer dasselbe.« Dann wurde ihre Stimme schärfer. »Hören Sie mal zu, meine Gute. Sie sind hier nicht im Süden. Dies ist ein gottesfürchtiges Land, und unsere Heilige Mutter unter uns missbilligt solche unnatürlichen Maschinen. Kapiert?«
»Es tut mir leid«, sagte die Fremde aufrichtig. »Das wusste ich nicht.«
»Nun, jetzt wissen Sie es.«
Es entstand eine unangenehme Pause – zumindest unangenehm für die Fremde –, dann fragte die Bibliothekarin: »Was ist mit Ihren Haaren passiert?«
»Ich habe sie abrasiert.«
»Und Ihr Gesicht?«
»So sehe ich nun mal aus.«
»Sie sehen aus, als hätten Sie schon den einen oder anderen Kampf hinter sich.«
»Ja.« Unwillkürlich griff sie sich an die Nase und betastete die schief zusammengewachsene Stelle. »Den einen oder anderen.«
»Hmmm. Und was für ein Buch suchen Sie?«
»Kein Buch. Ich brauche einen Kommunikator.«
Amber legte den Kopf schief. »Einen was?«
Die Fremde verzog das Gesicht und überlegte. »Ein, äh, Radio.«
»Ein Radio? Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass wir so was in dieser Gegend nicht haben.«
»Oh.« Die Fremde ließ die Schultern hängen. »Richtig. Ja.«
Amber beobachtete sie noch einen Moment, und ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. »Was ist denn Ihr Problem? Haben Sie sich verirrt?«
»Ja«, gab sie zu. »Völlig verirrt.«
Die Bibliothekarin stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und sah sie an wie ein freundlicher Barkeeper. »Wollen Sie drüber reden?«
»Ich sollte nicht, äh …« Die Fremde zog den Hut tiefer ins Gesicht und räusperte sich. »Nein, schon gut.«
»Na kommen Sie schon, ist doch kein Problem. Und außerdem«, die Bibliothekarin deutete auf die Taschenbücher ringsum, »freue ich mich immer über gute Geschichten.«
»Es ist nicht besonders spannend.« In den Schläfen der Fremden pochte es schmerzhaft. »Ich suche jemanden, der vermisst wird. Möglicherweise bin in Wirklichkeit allerdings ich diejenige, die vermisst wird. Wie auch immer, es ist dringend.«
»Klingt schlimm. Es geht wohl um jemand Besonderen.«
»Ja, also …« Sie spürte, wie sie errötete. »Ja.«
Beide grübelten einen Moment lang. Dann schlug Amber mit der Faust in ihre Handfläche. »Ich sage Ihnen jetzt mal, wer so was hat wie das, was Sie suchen. Das Wiesel nämlich, das gerade gegangen ist. Der Sheriff.«
Das Gesicht der Fremden hellte sich auf. »Wirklich?«
»Mhm! Ich habe gesehen, wie er es benutzt hat. Kackdreist.« Die Miene der Bibliothekarin verdüsterte sich. »Aber seien Sie besser auf der Hut. Er ist eine schleimige, stiefelleckende, staubschluckende kleine Kakerlake von einem Mann. Der denkt, weil ihm der Brunnen gehört, gehört ihm die ganze Stadt.« Sie packte mit beiden Händen in die Luft, als wollte sie jemanden erdrosseln. »Er hat immer noch meine einzige Ausgabe von Der Graf von Monte...
Erscheint lt. Verlag | 13.9.2023 |
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Übersetzer | Maike Hallmann |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Frontier |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | 2023 • Abenteuer • eBooks • erde in der zukunft • gay romance • LGBTQ • Liebesgeschichte • Neuerscheinung • Space Western |
ISBN-10 | 3-641-29352-9 / 3641293529 |
ISBN-13 | 978-3-641-29352-9 / 9783641293529 |
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