Die Inkommensurablen (eBook)

Roman - Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023
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2023 | 1. Auflage
352 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12157-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Inkommensurablen -  Raphaela Edelbauer
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SPIEGEL-Bestseller ORF-Bestenliste SWR-Bestenliste »Ein überragendes Talent. Die Amerikaner haben Joyce Carol Oates als erzählerisches Universalgenie, wir haben Raphaela Edelbauer.« Clemens Setz »Was für ein Buch! Raphaela Edelbauer verwandelt den August 1914 in eine Traumnovelle. Wir schlafwandeln mit ihr durch ein erregtes Wien voll höherer Mathematik und niederem Wahn. Und wir galoppieren mit ihren vier apokalyptischen Reitern Adam, Hans, Klara und Helene in eine Zukunft, die diese schon als Vergangenheit erinnern. Ja, man stürzt in dieses Buch und in die letzten Tage des alten Europa, als fiele man in einen wilden Fiebertraum.« Florian Illies In fiebriger Erregung warten die Einwohner Wiens am 31. Juli 1914 das Verstreichen des deutschen Ultimatums ab. Unter ihnen sind drei, deren bekannte Welt zu zerfallen droht: Der Pferdeknecht Hans, der adlige Adam und die Mathematikerin Klara. Der spektakuläre neue Roman der preisgekrönten Wiener Autorin ist ein literarisches Ereignis. Wien, Zentrum der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, steht Kopf. Noch sechsunddreißig Stunden, dann läuft das deutsche Ultimatum ab. Die Stadt ist ein reißender Strom, in allen Straßen bricht sich die Kriegsbegeisterung der jungen Generation bahn. Mitten in diesen Taumel gerät Hans, ein Pferdeknecht aus Tirol, der sich auf den Weg in die Metropole gemacht hat, um die Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufzusuchen. Dort angekommen trifft er auf Adam, einen musisch begabten Adligen, und Klara, die sich als eine der ersten Frauen an der Universität Wien im Fach Mathematik promovieren wird. Gemeinsam verbringen die drei jungen Menschen den letzten Abend vor der Mobilmachung - in einer Stadt, die sich ihrem Zugriff mehr und mehr zu entziehen droht.

Raphaela Edelbauer, geboren in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst. Für ihr Werk »Entdecker. Eine Poetik« wurde sie mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage ausgezeichnet. Außerdem wurde ihr der Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, der Theodor-Körner-Preis und der Förderpreis der Doppelfeld-Stiftung zuerkannt. Ihr Debütroman »Das flüssige Land« stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, für ihren zweiten Roman »DAVE« erhielt sie den Österreichischen Buchpreis. Raphaela Edelbauer lebt in Wien.

Raphaela Edelbauer, geboren in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst. Für ihr Werk »Entdecker. Eine Poetik« wurde sie mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage ausgezeichnet. Außerdem wurde ihr der Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, der Theodor-Körner-Preis und der Förderpreis der Doppelfeld-Stiftung zuerkannt. Ihr Debütroman »Das flüssige Land« stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, für ihren zweiten Roman »DAVE« erhielt sie den Österreichischen Buchpreis. Raphaela Edelbauer lebt in Wien.

Kapitel 1

Wien


Es war sechs Uhr zweiunddreißig am 30. Juli 1914, als der siebzehnjährige Bauernknecht Hans Ranftler nach kaum halbstündigem Schlaf von einem Beamten der k. u. k. Eisenbahnen, der den Besen in der Hand trug, unsanft aus dem Schlaf befördert wurde.

Die leere Garnitur der Tiroler Nordbahn, in der er die Nacht durchwacht hatte, trug noch den Geruch von Zwiebeln und Petroleum in sich. Abends hatte die rumänische Familie, mit der er sich das Abteil teilte, unter lautem Getöse Brot und Zervelatwürste, Krautrollen und Salzgurken aus den Gepäcknetzen gefuhrwerkt.

Bei Fahrtantritt hatte Hans versucht, es sich mit dem Lodenrock, den er dem Bauern aus dem Schrank gestohlen hatte, einigermaßen behaglich zu machen, und die über Innsbruck liegende Dunkelheit schon als Komplizin seiner baldigen Rast gesehen – da hatte ihn der Mann in die Rippen gestoßen und ein Glas vor ihn gestellt. »Țuică«, sagte die Frau. Hans hatte den Kopf geschüttelt, ohne zu wissen, ob auf eine Aufforderung oder eine Frage hin – doch hatte man ihm längst eingeschenkt. Die Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, baumelten schreiend am Gepäcknetz.

»Trebuie sa beți, austrieci!«, sagte der Mann und prostete Hans zu, der peinlich berührt gleich den ganzen Becher leerte. Er schüttelte sich unter dem Brennen des Fusels, und die ganze Familie brach in Lachen aus. Hans amüsierte sich erst mit ihnen, wusste aber nicht, ob und wie er sich bedanken sollte, und wandte sich bald dem Fenster zu. Die harten Holzbänke der dritten Klasse vernichteten ohnehin jede Hoffnung auf Schlaf.

»So unendlich weit«, dachte er, als die tiefen Kessel Tirols sich langsam ins moosige Grün verschlierten; die Tuxer Alpenmassive waren dem freiliegenden Horizont gewichen wie eine fortgezogene Stellwand.

Er hatte sein Tal seit sieben Jahren nicht verlassen.

Als sein Vater mit achtundzwanzig von einem Stapel niederfallender Tannenstämme erschlagen worden war, hatte der Prokurist der Firma seines Erzeugers angekündigt, ihn von Imst ins Unterland zu deportieren. Nach einer grauenhaft langen Messe, während derer Herr Jesu Christ, dein teuer Blut Hans’ stille Fürbitte begleitete, das Gespann des Prokuristen möge gestohlen werden, war er wie eine widerspenstige Ware verladen worden. Der Hof, an dem seine Mutter vermutet wurde, war so weit vom nächsten Gymnasium entfernt, dass der Hofbesitzer es nicht einmal aussprechen musste, dass es mit seiner Bildung schlagartig vorbei war. Düstere Gesichter an den Heuwendern und Ackerwalzen starrten ihn an, als ihm ohne ein einziges Wort – allein durch Gesten und das Zeigen einer Pritsche – sein Schicksal verkündet worden war. Er war zehn Jahre alt gewesen und war dem Hof nicht für einen einzigen Tag entkommen.

Vor dem Fenster fächerte sich die Landschaft auf wie frisch erdacht: Dort drüben konnte man an der Moldau entlang nach Prag gelangen – die Karlsbrücke hatte Hans einmal als Kupferstich auf einer Postkarte gesehen. Auf der anderen Seite, viel schwärzer dort, lagen Slavonien und Kroatien, wo im fruchtbaren Slave-Drau-Zwischenland Zuckerrüben und Mais besser gediehen als überall sonst im Kaiserreich. Er konnte Böden und Heu und die grasenden Bestutschew-Rinder beinahe greifen, so plastisch standen sie ihm vor Augen. Zerstreut begann er an den Kartoffeln zu kauen, die er sich roh als Wegzehrung in die Manteltaschen gestopft hatte, und versuchte in Dantes Inferno zu lesen, nur fand er keine Konzentration für Francescas Klagen. Er sah wieder hinaus auf die Landschaft, die sich vor ihm eröffnete wie eine immer weiter werdende Bucht.

Dort, wo viele Stunden später die Sonne aufgehen würde, lagen Siebenbürgen und die Bukowina, in der Robinienwälder die Karpaten ankündigten; da fielen ihm endlich die Augen zu.

Nun, als er erwachte, waren die Rumänen fort, und der Eisenbahner machte bereits Anstalten, mit der Schaufel unter die Bank zu tauchen, sodass Hans sein hastig ausgestoßenes »Südbahnhof« nur mehr am Rande erriet.

Im Versuch, den Mann möglichst wenig zu stören, turnte er um den eindringenden Stiel und angelte den Sack, den er mit breiter Zaunschnur verknotet hatte, aus den Gepäcknetzen. Dann stolperte er durch die gelbschwarz vertäfelten Wagons mit einer Schwere, die einem nur viel zu kurzer Schlaf aufbürden konnte. Er stieß die Tür auf und war mit einem Schlag ausgenüchtert. Als er zum ersten Mal auf den Wiener Boden stieg, in die Bahnhalle, die mächtig vom Doppeladler des Kaiserreichs überflaggt war, war es ihm, als wollten die Posaunen von Jericho ihm das Fleisch von den Knochen reißen.

Rings um ihn schossen die Menschen wie Projektile; einander Zurufende, mit Hüten Winkende, Koffer Bugsierende, Dienende, Tragende, Fluchende. Aufgespannte Weite der Halle, die all diese gegeneinander taumelnden Menschen umfasste. Es pfiff und dampfte an der gläsernen Decke, dass Hans sich verschlungen wähnte.

Sowie er endlich die Beherrschung fand, die Halteschiene loszulassen, war er mitten im babylonischen Wirrwarr. Tschechische Arbeiter umringten ihn.

»Rozdávejte dávky!«, schrie der Vorderste, und Hans duckte sich gerade noch rechtzeitig, ehe ein in Leinen gewickelter Klumpen über seinen Kopf segelte, den ein junger Mann hinter ihm behände auffing. Unter den rußigen Hemden der Männer spannten sich die Bizepse, während sie den riesenhaften Laib Brot auswickelten, an dem sich jeder der Reihe nach schadlos hielt. Vielleicht Heizer, dachte Hans zerstreut und hielt nach dem Ausgang Ausschau, als einer der breiten Männer ihm ein handtellergroßes Stück Brot auf die Brust drückte. Wie im Schock über diese Großzügigkeit hielt er es dort an seinem Hemd, bis die Gruppe sich entfernt hatte. Erst dann wagte er zu essen.

Den Ausgang hatte er wieder aus den Augen verloren. Schnaubend fuhr eine schwarzglänzende Garnitur ein, deren goldene Schriftzüge vor ihm auf und ab geschleudert wurden. Pagen in leuchtendblauen Uniformen sprangen voller Unrast auf die Bahnsteige, und aus ihren Gasanzündern schossen schon im Niederfallen die Funken, als müsste man sich um sein Leben beeilen. Dann drehten sie, die Drama-Zigaretten im Mundwinkel, die Türen auf und hievten schwere Koffer hervor. Hans beobachtete fasziniert ihre mühelos lachenden Gesichter; bubenhaft – sie mussten jünger sein als er.

Kaum waren die Gepäckstücke auf die eilig herbeigeschafften Wagen verladen, stiegen langsam die Fahrgäste aus – Frauen und Männer, gekleidet in so feine Stoffe, dass wohl ein Faden an ihrem Leib wertvoller sein musste als alles, was Hans in seinem Leben besessen hatte. Ein galanter Herr hielt seiner Begleiterin den Arm hin, die die Bewegung der Bahnhofshalle gar nicht beachtete, als wäre sie vollkommen gewohnt, im Durchhaus ihre Morgentoilette zu vollziehen. Das Paar behielt trotz der drückenden Julihitze die Pelze um die Schultern und schwätzte in einer ihm unbekannten, wohl slawischen Sprache; Hans wunderte sich noch einen Augenblick, bevor er schließlich die glänzenden Lettern am Abteil bemerkte. »Venedigexpress«, las er und erinnerte sich, dass er morgens am Innsbrucker Bahnhof ein Werbeplakat gesehen hatte, das für die sündteuren Luxusbilletts von Konstantinopel oder Moskau nach Paris warb. Vielleicht ein russisches Paar?

Ein dicklicher Italiener, der schimpfend ein Mädchen hinter sich herschleifte, stieß ihn in die Flanke. Rasch lief er weiter; auf einmal schämte er sich, zwischen all diesen weltgewandten Leuten mit seinen groben Stiefeln, der Leinenhose und den braunen Hosenträgern zu lange zu verweilen. Den breitkrempigen Hut warf er von sich fort. Wo nur war die Tür? Fast stolperte er über eine Frau, die neben den Gleisen einen Säugling fütterte – »sajnálom« –, und wie sollte man all diese Völker auseinanderhalten können? Wie diese Eindrücke ertragen? Ein beißender Geruch: Zwei Buben brieten etwas über offenem Feuer – Feuer im Bahnhofsgebäude! –, und ein Aufseher kam unter lautem Schreien heran, um die Flammen auszudämpfen. Da sank Hans an einen Blumenkasten nieder und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

Im Grunde wusste er nichts. Niemand, den er kannte, war je in Wien gewesen, und er hatte niemanden von seinen Plänen in Kenntnis gesetzt oder auch nur einen Brief hinterlassen, ehe er um Mitternacht nach Telfs geritten war. Dort war er abgestiegen und hatte der Stute, an deren Seite er jahrein, jahraus die Äcker bestellt hatte, einen Schlag auf die Kruppe gegeben, sodass sie in der grillenschweren Sommernacht verschwunden war. Das Pferd kannte den Weg heim, er machte sich um es keine Sorgen. Er hingegen besaß nicht einmal das Geld für die Rückfahrt. Das heißt: Er hatte genau vier Kronen bei ...

Erscheint lt. Verlag 14.1.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Augusterlebnis • Buch • Deutscher Buchpreis • Deutscher Buchpreis 2023 • Erster Weltkrieg • Europa • Habsburger • Jugend • Kriegsausbruch 1914 • Kriegsbegeisterung • Moderne • Positivismus • Psyche • Psychoanalyse • Roman • Traum • Wien • Wiener Kreis • Wissenschaft
ISBN-10 3-608-12157-9 / 3608121579
ISBN-13 978-3-608-12157-5 / 9783608121575
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