Die Möglichkeit von Glück (eBook)
384 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12161-2 (ISBN)
Anne Rabe, geboren 1986, ist Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin. Ihre Theaterstücke wurden mehrfach ausgezeichnet. Als Drehbuchautorin war sie Teil der Kultserie »Warten auf'n Bus«. Seit mehreren Jahren tritt sie zudem als Essayistin und Vortragende zur Vergangenheitsbewältigung in Ostdeutschland in Erscheinung. Anne Rabe lebt in Berlin. »Die Möglichkeit von Glück« ist ihr Prosadebüt.
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 05/2024) — Platz 14
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 03/2024) — Platz 19
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 45/2023) — Platz 15
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 44/2023) — Platz 12
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 43/2023) — Platz 15
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 42/2023) — Platz 13
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 40/2023) — Platz 16
Anne Rabe, geboren 1986, ist Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin. Ihre Theaterstücke wurden mehrfach ausgezeichnet. Als Drehbuchautorin war sie Teil der Kultserie »Warten auf'n Bus«. Seit mehreren Jahren tritt sie zudem als Essayistin und Vortragende zur Vergangenheitsbewältigung in Ostdeutschland in Erscheinung. Anne Rabe lebt in Berlin. »Die Möglichkeit von Glück« ist ihr Prosadebüt.
6
An mehr als die Sache mit den Fahnen erinnere ich mich kaum vom letzten Geburtstag der Republik. Ich war auch nicht bei der Demo auf dem Marktplatz. Dabei waren viele Kinder da. Als Schutz vor Verhaftungen. Es war die größte Demonstration in Norddeutschland gegen die Machthaber der SED. Man ist vor die Stasizentrale gelaufen und forderte das Ende des Überwachungsterrors. Und als Zeichen des friedlichen Protests hatte man vor das Büro der Kreisleitung der SED Kerzen gestellt.
Warum hat man uns davon nie erzählt? Warum wurde darüber auch in der Schule nicht gesprochen?
Die neue Zeit kommt mit dem Mittagessen. 1990. Als alles vorbei ist. Der Gruppenraum im Kindergarten ganz am Ende des Flurs im Flachbau, nur fünf Minuten zu Fuß von der Wohnung mit der separaten Toilette.
Aus einem Radio knarzt die Stimme von Matthias Reim. »Verdammt, ich lieb dich, ich lieb dich nicht …« Während das Land um euch zusammenbricht, singt ihr mit piepsigen Stimmen: »Hier kommt Kurt – ohne Helm und ohne Gurt.« Und genau wie Frank Zander ruft ihr: »Schluss jetzt, wir wollen tanzen!«
Das Mittagessen wird nicht mehr gekocht, es werden Styroporkisten angeliefert, in die du neugierig lugst.
Es gibt echte Corny-Riegel mit Erdbeergeschmack!
Doch die bunte Verpackung hält nicht, was sie dir versprochen hat. Der Riegel schmeckt scheußlich, und du musst würgen. Aber die Kindergärtnerin, Frau Preußler, sagt, dass du aufessen sollst.
Während die anderen Kinder sich zum Mittagsschlaf hinlegen, sitzt du vor dem Riegel. Der ist nicht zu schaffen. Wie sehr du dich auch bemühst, du bekommst das klebrige Ding nicht runter.
Aber. Du. Musst.
Alles hatte sich verändert, heißt es.
Und das stimmte ja auch!
In diesem Sommer war ich mit Oma Ursel und Opa Arnd bei McDonald’s.
Das neue Land schmeckte anders, aber die Regeln, denen wir uns unterzuordnen hatten, waren noch dieselben.
Du isst gefälligst auf, wenn du dir etwas genommen hast.
Wer Frau Preußler eine Freude machen wollte, massierte ihr den schweren Rücken. Und wer frech war oder laut, musste beim Mittagsschlaf neben dem rothaarigen Bettnässer Kim liegen. Wenn es regnete, stellten wir uns in Zweierreihen im Flur auf und sangen: »Liebe, liebe Sonne, komm ein bisschen runter, lass die Wolken oben, dann wollen wir dich loben …«
Meine Eltern waren Mitglieder der Staatspartei SED. Die Großeltern auch. Das weiß ich, und dass sie nach der Wende noch eine ganze Weile Mitglieder in der von Gregor Gysi geführten PDS blieben. Irgendwann, als ich alt genug war und der ganze Umbruch weit genug weg, haben sie es mir erzählt. Es war ihnen wichtig, dass sie erst ausgetreten sind, als es plötzlich darum ging, Posten zu verteilen und sich Vorteile zu verschaffen. Sie wollten nicht einfach umfallen. Keine Wendehälse sein. Aus dem, was sie alle vier Jahre in der Wahlkabine ankreuzten, machten sie ein Geheimnis, dabei wusste ich, dass sie die PDS wählten.
Wendehals – ein Wort, über das ich als Kind viel nachgedacht habe. Aber ich habe mich nicht getraut zu fragen.
Unter einem Wendehals habe ich mir einen langen Schwanenhals vorgestellt, den Schwanenkopf, der sich darauf im Kreis dreht. Immer im Kreis. Aber wozu?
Als ich zehn Jahre alt war, das war 1996, erklärte Vater mir den Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus.
Wir saßen in unserem roten Opel Kadett auf dem Parkplatz vor dem Marktkauf.
Sommerhitze. Und die Autos hatten noch keine Klimaanlage. Um an Luft zu kommen, musste man die Scheiben händisch herunterkurbeln. Trotzdem machte der Opel etwas her. Kurz nach der Wende hatte dieser unseren Trabbi ersetzt. Er hatte Anschnallgurte, ein Radio und einen Kassettenspieler.
Mutter war mit Tim in den Supermarkt gegangen, und ich wartete, mit Vater in der Hitze brütend, auf ihre Rückkehr. An dem Supermarkt gefiel mir, dass die Menschen ihre Einkäufe in Papptüten ohne Henkel heraustrugen, wie in den amerikanischen Filmen, die ich manchmal mit Katja sah, denn Katja hatte Videokassetten. Ansonsten mochte ich es nicht, einkaufen zu gehen. Langweilig. Ich blieb lieber im Wagen und hörte im Radio »die Hits der 70er, 80er und das Beste von heute!«.
»Im Kommunismus«, setzte Vater an, »sind alle Menschen gleich und verdienen das gleiche Geld. Eigentlich braucht es im Kommunismus überhaupt kein Geld mehr. Das wird dann wahrscheinlich abgeschafft.«
Das Geld brauche es im Kommunismus deshalb nicht, da allen alles gehören würde. Es würde sich also nicht mehr lohnen, Dinge anzuhäufen oder sich zu bereichern. Vielmehr würden die Menschen in eine Kaufhalle gehen und sich nur das nehmen, was sie wirklich bräuchten. Die Vorstellung gefiel mir, ohne dass ich hätte sagen können, warum. Es klang gerechter, vielleicht.
Im Kommunismus, erläuterte Vater weiter, würde der Müllmann genauso viel verdienen wie ein Professor, der Maurer genauso viel wie ein Architekt. Denn wenn man es genau nähme, dann sei kein Mensch mehr wert als der andere. Wie sollte ein Architekt ein Haus bauen, wenn er niemanden hätte, der ihm die Mauern hochzieht? Was würde passieren, würde niemand mehr den Müll fahren?
»Klassenunterschiede sind eine Erfindung der Herrschenden«, stellte Vater fest.
Im Radio rief jemand nach Macarena.
Ich wusste nicht, was er mit Klassen meinte, aber ich nickte und sagte ab und zu: hmm. Ich wollte ihm wirklich gern glauben, und das mit dem Geld und dem Wert der Menschen leuchtete mir sofort ein.
Du denkst daran, dass du einmal in der Grundschule eine Welt ohne Geld geschrieben hast, auf die Frage, was ihr euch wünscht. Eine Welt ohne Geld und Weltfrieden.
»Und was ist mit dem Sozialismus?«, fragte ich ihn.
»Der Sozialismus ist die Vorstufe vom Kommunismus. Das war die DDR.«
Dass wir in der ehemaligen DDR lebten und dass ich selbst noch in der DDR geboren war, wusste ich. Auf meinem roten Impfpass waren Hammer und Zirkel eingestanzt. Ich mochte das kleine rote Heft, nahm es manchmal aus der Schublade, in der Mutter ihre Dokumente aufbewahrte, und strich mit den Fingern über das Emblem. Der Kranz um die Symbole der SED-Diktatur verliehen diesem Nachweis meiner Immunität gegen Masern, Tetanus und Windpocken etwas Feierliches. Ich wusste aber auch, dass dieser Impfpass aus einer anderen Zeit stammte, dass hier alles einmal ganz anders gewesen war, dass meine Eltern unsere Vergangenheit in zu Ostzeiten und zu Westzeiten einteilten, dass es Ossis und Wessis gab, dass die Wessis schlecht und die Ossis, also auch ich, irgendwie besser waren, auch wenn die Wessis das ganz anders sahen.
Jon Bon Jovi brüllte so laut, dass Vater sich genötigt sah, das Radio abzudrehen.
Ich sah aus dem Fenster den Menschen zu, die vollbepackte Einkaufswagen über den Parkplatz bugsierten. Dabei drohten die Wagen, plötzlich auszuscheren und einem fremden Auto den Lack zu zerkratzen. Sie alle hatten vor wenigen Jahren die Mauer eingerissen, stellte ich mir vor. Sie alle hatten sich also gegen den Sozialismus gewandt? Wieso? Ich hatte dafür kein Verständnis. Was Vater gerade erzählt hatte, war doch vollkommen richtig. Wäre doch idiotisch, in einer solchen Welt nicht leben zu wollen. Arbeit und Versorgung für alle statt der drohenden Arbeitslosigkeit, die in den 90er Jahren so selbstverständlich war wie das Salzwasser der Ostsee.
Aber Vater kannte die Gründe. Die Menschen in der DDR seien noch nicht bereit gewesen, behauptete er. Sie hätten noch nicht verstanden, dass der Kapitalismus ihnen nur schaden würde. Sie würden eben nur an sich denken, an ihren eigenen Vorteil, und seien viel zu gierig. Aber eines Tages, wenn der Krieg um die Ressourcen ausbreche, wenn alle erkannt hätten, dass es kein unendliches Wachstum geben könne, dann käme der Sozialismus zurück. Dann würden die Menschen wieder für den Kommunismus und eine gerechtere Welt kämpfen. Dann würden sie verstehen, dass man nicht zwanzig verschiedene Sorten Joghurt bräuchte, sondern eine einzige eben auch satt mache.
Ich hatte mich schon manchmal gefragt, was diese DDR war, und nun war alles klar. Sie war das bessere Land, die bessere Idee. Ihre Zeit würde kommen.
Ich erinnere mich daran, wie sehr ich mir als Jugendliche ein FDJ-Hemd gewünscht...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aspekte Literaturpreis 2023 • Bestenliste • Bestseller 2023 • Buch • DDR • DDR-Heime • DDR-Kinderheime • Deutscher Buchpreis • Deutscher Buchpreis 2023 • Generationkonflikt • Gewalt • Heimkind • Heimkinder • Herkunft • Jugendwerkhof • JWH • Leerstelle • Mauerfall • Misshandlung Heimkinder • Ostdeutschland • Ostsee • Rassismus • Roman • Shortlist • Shortlist Aspekte Literaturpreis 2023 • Shortlist Deutscher Buchpreis 2023 • Wende • Werkhof • Wiedervereinigung |
ISBN-10 | 3-608-12161-7 / 3608121617 |
ISBN-13 | 978-3-608-12161-2 / 9783608121612 |
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