Requiem (eBook)
320 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12043-1 (ISBN)
Karl Alfred Loser wurde am 5. September 1909 in Berlin als jüngerer Bruder des Musikers, Komponisten und Musikkritikers Nobert Loeser geboren. Er arbeitete in Berlin bei einer Bank und für einen Kaffeehändler und sprach mehrere Sprachen. Im Alter von 25 Jahren flüchtete er nach Amsterdam, wo sein Bruder Norbert bereits lebte. Dort lernte er seine Frau Helene kennen und emigrierte kurz darauf mit ihr nach Brasilien. Er ließ sich in São Paulo nieder und arbeite bis zu seiner Pensionierung für eine niederländische Bank, die dort eine Filiale betrieb. Sein Leben lang schrieb er im Schatten seines Berufs
Karl Alfred Loser wurde am 5. September 1909 in Berlin als jüngerer Bruder des Musikers, Komponisten und Musikkritikers Nobert Loeser geboren. Er arbeitete in Berlin bei einer Bank und für einen Kaffeehändler und sprach mehrere Sprachen. Im Alter von 25 Jahren flüchtete er nach Amsterdam, wo sein Bruder Norbert bereits lebte. Dort lernte er seine Frau Helene kennen und emigrierte kurz darauf mit ihr nach Brasilien. Er ließ sich in São Paulo nieder und arbeite bis zu seiner Pensionierung für eine niederländische Bank, die dort eine Filiale betrieb. Sein Leben lang schrieb er im Schatten seines Berufs
1. Kapitel
Fritz Eberle setzte den Bogen ab; sein Körper verharrte für Augenblicke gebeugt über dem Instrument, während seine Augen weiterhin auf den Saiten des Cellos hafteten. Sekundenlang blieb es still im Saal, dann aber brach plötzlich und unerwartet der Beifall los. Man klatschte in die Hände, man rief »bravo«, erhob sich von den Stühlen, lärmte und tobte vor Begeisterung, und die Mutter, die rundliche Frau des Bäckermeisters Eberle, eilte stolz auf ihren Sohn zu, um ihn zu umarmen, um vor aller Augen den Künstler in die Arme zu schließen. Sogar Herr Arthur Eberle, der Direktor der Musikschule und Veranstalter dieser »ersten öffentlichen Schüleraufführung«, ließ sich herbei, seinem Neffen Fritz die Hand zu reichen und ihm jovial auf die Schulter zu klopfen: »Bravo, mein Junge«, sagte er mit sonorer Stimme, »mach’ nur weiter so.« Worte, die der aufgeregten Mutter Tränen in die Augen trieben.
Es war unbestreitbar ein Erfolg, die beste Leistung des Abends; und der Beifall war wohl auch deshalb so reichlich und anhaltend, weil man den ganzen Abend wenig Grund gehabt hatte zu applaudieren, obwohl sich das Konzert schon über zwei Stunden hinschleppte. Nach einer endlosen Reihe von nichtssagenden, ermüdenden und minderwertigen Darbietungen wirkte der mittelmäßige Vortrag des jungen Eberle wie eine Erlösung, so, wie einem durstigen Wanderer ein Tropfen Wasser die herrlichste Erfrischung scheinen mag.
Noch immer wollten die Zuhörer sich nicht beruhigen, und Direktor Eberle sah sich veranlasst, streng um sich zu blicken und energisch an seinem Schnurrbart zu zupfen. Denn es war offensichtlich, dass man nicht mehr an den soeben gehörten Vortrag dachte, sondern lärmte, um des Lärmens willen und aus Freude am Händerühren. Die beiden Herren, zum Beispiel, dort hinten in der Ecke, die Bravo rufend fortwährend mit den Bierseideln auf den Tisch stießen, waren ohne Zweifel dieselben, die eben erst bei dem Gesangsvortrag der einzigen Gesangsschülerin Eberles so unverschämt »lauter« gerufen hatten, was das arme Mädchen in schreckliche Verwirrung gestürzt hatte.
Währenddessen brachte man Fritz im Triumph an den Tisch, an dem sein Vater ihn erwartete. »Ganz nett«, sagte er ernst und glaubte, damit genug Lob gespendet zu haben. Der Bäckermeister war ein vierschrötiger, schwerfälliger Riese, vor dem der Sohn, schmal von Gestalt und engbrüstig, fast verschwand.
So war es mehr Furcht als Zuneigung, was Fritz gegenüber seinem Vater empfand, und das soeben geäußerte Lob, diese zwei eher Geringschätzigkeit als Anerkennung ausdrückenden Worte, verwirrten ihn mehr als der tosende Beifall. Ängstlich stand er vor dem Alten und blickte ihn aus wasserblauen Augen schüchtern an. Die Mutter und die Onkel, Tanten und Cousinen, die zugegen waren, zeigten sich keineswegs zufrieden mit dem Verhalten des Bäckermeisters. Es sei doch endlich an der Zeit, seine strenge Haltung aufzugeben, schalten sie, nun, da aus seinem Sohn ein Künstler werden wolle.
Plötzlich verstummte der Lärm um sie herum, denn Arthur Eberle griff selbst zur Violine, und als glänzender Abschluss erklang die Lustspielouverture von Béla Kéler. Da leuchteten alle Augen, da atmeten alle auf! Fast schien es, als hätte Eberle die Schar der Stümper nur aufmarschieren lassen, um danach in umso hellerem Glanz erstrahlen zu können. Wie er mit dem Bogen über die Saiten strich, wie er die Finger setzte, den Kopf warf, dabei aber nicht vergaß, gewinnend ins Publikum zu lächeln, das war unvergleichlich. Die anwesenden Eltern waren begeistert, dass ein so flotter und gewandter Musiker ihre Kinder unterrichtete. Die zuvor zur Schau gestellten minderwertigen und unfertigen Leistungen schadeten seinem Ansehen nicht, vielmehr verstärkten sie den Eindruck, den er selbst hervorrief, und dieser brachte die guten Leute dahin, ihre Kinder zu ermahnen, es dem Lehrer fleißig nachzutun; denn unüberhörbar war ja, dass es nicht an ihm liegen konnte, wenn die Kinder keine Fortschritte machten, der Arthur Eberle verstand etwas. Ein paar bravouröse Akkorde, die Eberle allerdings geschickt zu vereinfachen verstand, ein Absetzen des Bogens, der Violine, und das Konzert war beendet. Dieses Mal war der Beifall spontan, ohne Beimengung von Schabernack oder Böswilligkeit. Von allen Seiten drängten sich die Besucher um den Veranstalter, man beglückwünschte ihn zu der Idee, denn es sei doch immer ein Ansporn für die Schüler, auch wenn ihre Leistungen noch nicht ganz vortragsreif seien, sich einmal öffentlich produzieren zu können. Und Arthur Eberle nickte, lächelte, stimmte zu oder lehnte ab, drückte herzlich die Hände, die sich ihm entgegenstreckten, und war bei allem stets derselben Meinung wie seine Kunden.
Eberle war sehr geschäftstüchtig. Die Eltern seiner Schüler als Kunden zu bezeichnen, war dem Musiklehrer selbst eingefallen und erhellte seine ganze Einstellung. Er hatte die Musikschule erst vor wenigen Jahren gegründet und erzielte bereits beträchtliche Gewinne. Es war ja nicht schwer, ein derartiges Unternehmen zu eröffnen. Arthur Eberle hatte nichts weiter getan, als ein Klavier in sein gutes Zimmer zu stellen und die Aufschrift: »Conservatorium der Musik Arthur Eberle« kursiv auf Glas malen lassen. Als ehemaliger Militärmusiker genoss er allseitig größtes Ansehen. Und dies reichte aus, um seine gänzlich fehlende Musikalität wettzumachen. Eberle spielte Violine, wie ein Tischler zimmert, sauber und fleißig, aber ohne jedes innere Erleben. Dass er auch ein paar Melodien auf dem Klavier, der Klarinette und der Trompete spielen konnte, hatte ihn ermutigt, sein Geschäft auszudehnen. Mit der Zeit hatte er so eine beträchtliche Anzahl Schüler um sich geschart. Die lernten zwar nur wenig, bezahlten aber jeden Monatsersten pünktlich ihren Beitrag. Den Klavierunterricht hatte er seiner Frau übertragen. Und die Tochter eines niederen Beamten, eine kreuzbrave Seele, fand sich mit bewundernswertem Geschick in die nicht leichte Rolle einer Musiklehrerin. Zwar machte sie, wenn sie mit ihren kurzen, dicken Armen und den roten Händen, die so recht für die Hausarbeit geschaffen schienen, an dem Instrument saß, eine seltsame Figur, dennoch gelang es ihr, ihre Autorität zu wahren, und das, obwohl sie keine Ahnung vom Klavierspielen hatte. Die Klavierklasse wuchs, denn die Schüler hatten es bequem bei Frau Eberle. Man brauchte nicht zu lernen, nicht aufzupassen, denn die gute Frau unterließ jeden Tadel, weil sie ständig fürchtete, sich zu blamieren. Sie beschränkte sich darauf, die Zeit im Auge zu behalten und den Jüngeren zuweilen einen Schlag auf die Finger zu versetzen.
Frau Eberle hatte zur Feier dieses außergewöhnlichen Ereignisses die ganze Familie zu einer Tasse Kaffee geladen, und allmählich füllte sich die gute Stube. Auch Arthur machte sich, nachdem er abgerechnet hatte, von Wilhelms Bierhallen, wo die Aufführung stattgefunden hatte, auf den Nachhauseweg. Er wurde begeistert begrüßt, was ihm sichtlich wohltat, denn er strich behaglich über seinen Schnurrbart und blickte aus seinen kleinen, listigen Augen voll verhaltenen Stolzes auf seine rundliche Frau, die sich mit einem rettungslos altmodischen Hut und einem ererbten Pelzkragen gewaltig herausgeputzt hatte. Inzwischen war man so weit gekommen, Fritz für ein verkanntes Genie zu erklären, und wenn man bedenkt, dass er noch bis vor wenigen Stunden von allen kaum beachtet worden war, lässt sich ermessen, wie enorm der sommersprossige Junge seinen Erfolg empfand. Das Musikstudium verdankte er eigentlich nur einem Zufall, dem Umstand nämlich, dass sein Vater vor langen Jahren von einem falliten Geschäftsmann das Violoncello, das Fritz nun spielte, gepfändet hatte. Jahrelang hatte es halb vergessen und verstaubt herumgestanden, dann hatte der Junge es für sich entdeckt, und seine höchste Wonne war es gewesen, an den Saiten zu zupfen und auf die tiefen Töne zu lauschen, die von irgendwoher zu kommen schienen. Und sah dieser Zufall heute nicht fast wie eine Fügung der Vorsehung aus?
Bäckermeister Eberle, der bislang nur wenig gesprochen hatte, nahm nun das Wort: »Ich verstehe nicht, warum mein Sohn, wenn er nun schon ein Künstler ist, nicht auch etwas davon haben soll.« Man muss verstehen, dass Fritz in der Bäckerei seines Vaters half, sich dort aber ungeschickt anstellte. Der Alte hätte seinen Jungen liebend gern in einen anderen Betrieb gegeben, aber unter Fremden machte dieser einen beinahe blöden Eindruck. Auch ließ er sich von viel Jüngeren herumstoßen und zur Seite drängen. Fritz war ein denkfauler Mensch, einer, der wenig sprach, nicht, weil er zurückhaltend war, sondern weil er nichts zu sagen wusste. Er war froh, wenn er sich mit seinem Cello beschäftigen durfte, und fühlte sich seltsam geborgen,...
Erscheint lt. Verlag | 18.2.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Literarische Moderne • Musik • Nationalsozialismus • NS-Zeit • Verfolgung • Wiederent • Wiederentdeckung |
ISBN-10 | 3-608-12043-2 / 3608120432 |
ISBN-13 | 978-3-608-12043-1 / 9783608120431 |
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