Die Stunde der Hyänen (eBook)
265 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77434-2 (ISBN)
Johannes Groschupf, 1963 in Braunschweig geboren, wuchs in Lüneburg auf. Studium der Germanistik, Amerikanistik und Publizistik an der Freien Universität in Berlin. Viele Jahre als freier Reisejournalist für Die Zeit, FAZ, FR u. a. unterwegs. 1994 Hubschrauberabsturz in der Sahara. 1998 entstand aus dieser Erfahrung das Radio-Feature Der Absturz, das im Jahr darauf den Robert-Geisendörfer-Preis erhielt. Danach literarische Arbeiten, v. a. im Jugendbuchbereich, und Artikel für Tagesspiegel und Berliner Zeitung. Zuletzt erschienen: Berlin Prepper. Thriller (2019), für den er den Deutschen Krimipreis (1. Platz) und den Politikkrimipreis der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg 2020 erhielt, sowie Berlin Heat. Thriller (2021), für den er mit dem Deutschen Krimipreis (2. Platz) ausgezeichnet wurde.
Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Herausgeber der »global crime«-Reihe metro in Kooperation mit dem Unionsverlag (1999 – 2007), der Reihe »Penser Pulp« bei Diaphanes (2013-2014). Gründete 2013 zusammen mit Zoë Beck und Jan Karsten den (E-Book-)Verlag CulturBooks und gibt ein eigenes Krimi-Programm für Suhrkamp heraus. Co-Herausgeber des Online-Feuilletons CULTurMAG.
1
Radek Malarczyk drehte die Flasche Rachmaninoff auf und nahm einen Schluck. Er saß in seinem altenVW Bulli in einer Parkbucht am Rande Kreuzbergs, nicht weit vom Landwehrkanal. Am anderen Ufer lag Treptow. Er war erschöpft von seinen Wanderungen. Seit drei Wochen stand er hier mit seinem Wagen, tagsüber war er draußen unterwegs, nachts schlief er in seinen Schlafsack eingerollt auf der Rückbank. Das störte niemanden. Auch andere hatten ihre Camper Vans in der Parkbucht abgestellt, doch jetzt im Februar war Radek der Einzige, der hier lebte.
In einer Plastiktüte hatte er sein Frühstück und Abendessen. Brot, Wurst und Käse, Apfel und Banane, er brauchte nicht viel. Außerdem seinen Chesterfield-Tabak, Filter und Blättchen, dazu zwei Flaschen Rachmaninoff. Das Wageninnere roch nach alten Socken, kaltem Zigarettenrauch und Laub, nachts war es schneidend kalt, doch obdachlos war er nicht.
Der Rachmaninoff brannte in seiner Kehle, das tat gut. Brennen musste es, damit die Erinnerungen aufhörten. Am Nachmittag war Radek wieder an der Oberbaumbrücke beim weißen Rad gewesen. Jeden Tag ging er zum Rad und erinnerte sich an den Unfall. Die Kreuzung war stark befahren, niemand achtete auf das weiße Rad, nur Radek stand davor, mit zitternden Händen. Er hatte die Radfahrerin zu spät gesehen, als er abbiegen wollte. Ein halbes Jahr war das jetzt her, doch es hörte nicht auf. Immer wieder trat Radek auf die Bremse, sein Laster kam mit einem Knirschen zum Halt. Draußen die Schreie der Passanten, das Hupen der Autos, er stieg aus und verstand sofort, was geschehen war, als er das verbogene Fahrrad unter dem Hinterrad seines Lasters sah, die Radfahrerin lag da wie eine große Puppe, die jemand weggeworfen hatte.
Die Bilder gingen ihm nicht aus dem Kopf, standen ihm scharf und klar vor Augen, tagsüber und nachts. Jeden Tag ging Radek zur Oberbaumbrücke, um Abbitte zu leisten, jeden Tag kniete er vor dem weißen Rad nieder und sprach mit schwerer Zunge zu Gott. »Hör mir zu. Ich habe die Frau nicht gesehen, hörst du, ich habe sie nicht gesehen. Vergib mir. Lass mich hier nicht allein. Zrobię wszystko, co chcesz. Ich mache alles, was du willst.«
Gott gab ihm keine Antwort.
Radek stand schwankend auf, er brauchte schon morgens den Schluck Rachmaninoff, ehe er hierherkam. Die Fußgänger wichen ihm aus. Radfahrer schossen an ihm vorbei. Die Stralauer Allee stadtauswärts war voll, Donnerstagnachmittag, alle mussten noch einkaufen, wollten nach Hause. Das war Berlin. Immer in Eile. Kein Ort für Gott. Das weiße Rad war an der Kreuzung zur Oberbaumbrücke festgekettet, das blieb an Ort und Stelle, für immer und ewig. Über ihm war der graue Himmel, und Gott antwortete nicht. Neben ihm das kalte Wasser der Spree. Radek erinnerte sich an sein Dorf, an die Feldwege, die er barfuß lief, als er ein Kind war. Damals hatte Gott ihn gehört, als er mit seiner Großmutter betete, und hatte ihm seine Kinderwünsche erfüllt. Wieder kniete Radek vor dem weißen Rad, doch Gott wollte von seinem betrunkenen Bitten und Flehen nichts wissen.
Seine Kehle war trocken. Als es dunkel wurde, ging er durch den Park zurück zu seinem Bulli, schaute unterwegs in den Abfalleimern nach Pfandflaschen. Danach saß er stundenlang im Dunkeln auf der hinteren Bank am Campingtisch, drehte sich Zigaretten auf Vorrat und teilte sich den Rachmaninoff ein, immer nur kleine Schlucke, langsam. Die Kälte saß in seinen Knochen. Drei Unterhosen hatte er angezogen, zwei Jeans übereinander, Pullover, zwei Jacken, eine Mütze, mit jedem Schluck wurde ihm ein wenig wärmer. Endlich verblasste die Erinnerung an die Radfahrerin.
Draußen ging ein Anwohner mit seinem Hund vorbei, Radek hörte das Schnüffeln des Tieres nah an seiner Autotür, ein heiseres Bellen. Der Mann rief seinen Hund zu sich. Niemand beschwerte sich über ihn. Radek wurde wehmütig, summte ein altes Lied. Rauchte noch eine Zigarette, rollte sich in seinen Schlafsack, drehte sich zur Seite, schlief ein.
Er träumte von seinem ersten Winter in Berlin. Ende der Achtzigerjahre. Die Solidarność-Jahre. Ein eisiger Winter, minus zehn, minus zwanzig Grad, doch er war jung, wach, immer auf dem Sprung. Ihm machte die Kälte nichts aus. Er verkaufte auf dem Polenmarkt am Potsdamer Platz. Die Deutschen kauften alles, Kristallgläser, Fotos, Jazz-Platten, Kaffeetassen. Die polnischen Mütterchen saßen neben ihm auf dem hart gefrorenen Boden, hatten rote Wangen von der Kälte, doch das Geschäft lief. Das waren Zeiten. Da war er reich, die Geldbündel lagen schwer in seinen Hosentaschen. Jede Woche fuhr er zweimal, dreimal zwischen Warschau und West-Berlin hin und her, lieferte Waren für den Markt, nahm Landsleute mit zurück nach Hause. Er sang am Steuer, ging breitbeinig durch den Winter, das Hemd aufgeknöpft unter dem Ledermantel, ihm war nicht kalt.
Jäh endete der Traum, Radek war plötzlich wach, lag wieder in seinem stinkenden Bulli, riss die Augen auf, rang nach Luft, der Wagen war voller Rauch, jeder Atemzug bitter. Irgendwo brannte es, er konnte nicht sehen, wo das Feuer war, doch er spürte die wabernde Hitze. In Panik schlug er um sich, um aus dem engen Schlafsack herauszukommen, die Flaschen klirrten zu seinen Füßen, der restliche Wodka lief aus. Durch seinen Rücken schnitt ein scharfer Schmerz, das war jetzt egal, er musste raus hier. Sofort raus. Riss sich den Schlafsack von den Beinen, suchte seine Schuhe, tastete nach dem Türgriff.
Der ganze Innenraum lohte plötzlich auf, die Luft schien zu brennen. Radek schloss die Augen, legte einen Arm vor sein Gesicht, suchte mit der anderen Hand nach der Tür. Nur raus hier, auf den Gehweg. Seine alten Zeitungen loderten auf, er hörte den Fraß der Flammen, er wischte sie zur Seite, griff in die Glut und roch das verbrannte Fleisch, sein Fleisch, spürte noch keinen Schmerz, sondern dachte an den Benzintank unter sich, in jedem Moment konnte er in die Luft gehen, dann war es vorbei mit ihm.
Seine Hand fand den Griff und riss die Tür auf. Kühle Nachtluft strömte ein. Radek atmete auf. Er ließ sich nach draußen fallen, die Füße immer noch verheddert in den Schlafsack. Er rollte aus dem Fahrzeug auf den Bürgersteig und drehte sich auf dem nassen Pflaster, um die Flammen zu ersticken. Drei Schichten hatte er an gegen die Kälte, jetzt rann ihm der warme Schweiß den Rücken hinunter.
Er kam auf die Beine und taumelte auf den Bürgersteig. Die Flammen schlugen hoch über das Auto hinaus.
Im Schatten der Toreinfahrt des letzten Wohnhauses gegenüber, zwanzig Meter von ihm entfernt, sah er einen Mann stehen, der heftig zu zittern schien. Radek ging auf ihn zu, er brauchte selbst Hilfe, hob schon seine verletzten Hände, dann sah er den Mann genauer. Sein Mantel stand offen, der Hosenstall auch, der junge Kerl starrte auf die Feuerwolke des Bullis und rieb dabei wie besessen seinen bleich hervorstehenden Schwanz. Auf Radek achtete er nicht, er war in seiner eigenen Welt aus Lust, Scham und Überschwang. Die Bewegungen wurden immer rascher, sein Körper bog sich zusammen. Der junge Mann keuchte mehrmals hell auf und legte den Kopf zurück, als sein Samen hervorschoss.
»Chuj! Was machst du?«, sagte Radek. Er kannte seine eigene Stimme nicht wieder. »Sag mal, geht’s noch? Verrecken sollst du. Hast du keinen Respekt?«
Der junge Mann erschrak. Sein Gesicht war schmal, er atmete immer noch in Stößen. Die Augen standen eng beieinander, sie waren dunkel und still. Er antwortete nicht, zog hastig die Hose hoch, verstaute seinen Schwanz, schlug den Mantel darüber und drückte sich von der Toreinfahrt ab.
»Warte«, sagte Radek und hob die Hand. »Bleib stehen! Idioto!«
Der junge Kerl wich voller Entsetzen vor dem Mann zurück, dessen Haare und Augenbrauen versengt waren, dessen Haut von Stirn und Nase abgeschält war, dessen Kleidung schwelte und qualmte und der ihn auf Polnisch verfluchte. Mit vorgestreckten Händen kam er auf ihn zu. Hinter ihm der orange Widerschein der Flammen, die über den Bulli hinausloderten. Der junge Mann rannte...
Erscheint lt. Verlag | 21.11.2022 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Berlin • Berlin-Thriller • brennende Autos • Bürgerwehr • Deutscher Krimipreisträger • Gefährliches Berlin • Hauptstadt • Höllentrip • Nächtliches Berlin • neues Buch • Staatsschutz • Super-Recognizer • Thriller • Verbrechen |
ISBN-10 | 3-518-77434-4 / 3518774344 |
ISBN-13 | 978-3-518-77434-2 / 9783518774342 |
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