Die tausend Verbrechen des Ming Tsu (eBook)
304 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77437-3 (ISBN)
1869, als der Westen der USA durch den Bau der Eisenbahnstrecken erschlossen wird. Der chinesische Gangster und Hitman Ming Tsu ist auf einem Rachefeldzug: Weil er Ada, eine weiße Frau, heiraten wollte, wurde er von deren Vater, einem Eisenbahnbaron, beinahe umgebracht und an eine Eisenbahngesellschaft als Arbeitssklave verkauft.
Aber Ming Tsu lässt sich nicht unterkriegen, schließlich ist er ein professioneller Killer mit sehr eigener Moral. Mit Hilfe eines greisen Chinesen, genannt »Der Prophet«, und einer gemischten Zirkustruppe, deren Personal zu veritablen Wundern fähig ist, liquidiert er nach und nach seine Peiniger. Er arbeitet sich dabei zielstrebig nach Kalifornien vor, wo er Ada wiederzutreffen hofft. Dort erwartet ihn ein explosiver und unerwarteter Showdown ...
Tom Wentao Lin, geboren 1996 in Beijing. Umzug als Vierjähriger mit seiner Familie nach Flushing, Queens, NYC. Seit 2021 promoviert er an der California State, Davis, in englischer Literatur. <em>Die tausend Verbrechen des Ming Tsu</em> ist sein literarisches Debüt, das 2022 mit der Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction ausgezeichnet wurde. Tom Lin ist der jüngste Autor, der diese Auszeichnung je bekommen hat.
ZWEITER TEIL
23
Der Viehtrail war schmal und gewunden, befestigt von den Hufen unendlich vieler Rinder. Der Prophet sagte, sie würden den Spuren einer urzeitlichen Flut folgen, die das Land überschwemmt habe, lange bevor es Menschen gab. Das Wasser, sagte er, habe breite Schneisen in das einstige Hochplateau geschnitten und in seinen unermesslichen Tiefen Felsblöcke groß wie Häuser davongetragen. Die Felsen seien von den tosenden Wassermassen zu knochenweißem Sand zermahlen und über das Land verstreut worden, winzige Erinnerungen an die arktischen Seen, wo die Flut entstanden sei. Der Ringmeister fragte den alten Mann, woher er all das wissen wolle, wenn kein Mensch diese Flut gesehen hätte. Der Prophet lächelte, zeigte mit einer großen Armbewegung auf das Land und sagte, die Erde selbst erzähle diese Geschichte, offen sichtbar und für jedermann zu lesen.
Sie zogen bergab durch die karge Landschaft, vorbei an einem verlassenen Kupfertagebau, ausgebeutet von Glückssuchern, die dort nicht den erhofften Reichtum gefunden hatten und weitergezogen waren. Hinter ihnen am Horizont schrumpfte Battle Mountain zu einem dunklen Fleck, dann löste es sich im schimmernden Dunst auf, der aus dem Wüstenboden aufstieg. Sie quälten sich durch die brennende Hitze.
Als die Dämmerung hereinbrach, schlugen sie schweigend ihr Lager auf, und Notah errichtete nach Mings Anweisungen ein prasselndes, Funken sprühendes Feuer. In einem Eisenkessel schmolz Ming das Blei, das der Ringmeister besorgt hatte, und schöpfte das flüssige Metall in Gussformen. Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Hunter sah ihm fasziniert zu. Als die Kugeln gegossen waren, grub Ming eine Kuhle in den Sand, benetzte die Wände mit Wasser aus seiner Feldflasche und schüttete das restliche Blei in das Loch. Es knackte und zischte.
Sie aßen Trockenfleisch und Schiffszwieback, während das Feuerholz langsam zu Kohle verbrannte. Als er aufgegessen hatte, löste Ming mit schwieligen Fingern den Bleiklumpen aus der Kuhle, wischte Sand von der furchigen Oberfläche. Er hielt den noch warmen Klumpen dem Jungen hin, der ihn im dunkelroten Schein der Glut gebannt hin und her drehte.
Hazel stand auf, tippte dem Jungen auf die Schulter, zeigte auf die Zelte und machte eine Schlafgeste. Ab ins Bett. Widerwillig gab der Junge Ming den Bleiklumpen, und die beiden wünschten den anderen gute Nacht. Die Holzkohle zerfiel zu kleinen Aschekokons. Notah und Gomez zogen sich in ihre Zelte zurück, kurz darauf folgten Proteus und der Prophet. Ming und der Ringmeister saßen alleine am Feuer.
Der Ringmeister trank in kleinen Schlucken Whisky, zwischendurch rieb er den angelaufenen Flachmann an seiner Weste, bis das Metall matt schimmerte. »Schlückchenweise«, sagte er, als würde er sich zurechtweisen, »immer schlückchenweise, damit der billige Fusel drinnen bleibt.« Er führte den Flachmann zum Mund, unterdrückte ein Husten, würgte den Whisky hinunter und schüttelte sich. Dann kniff er ein Auge zu, guckte in die Flasche und richtete den Blick auf Ming. »Mr Tsu«, sagte er, »wie viele Menschen haben Sie getötet?«
»Selbst wenn ich das wüsste«, antwortete Ming, »und ich weiß es nicht, würde ich es Ihnen nicht sagen.«
Der Ringmeister lachte leise. »Verständlich. Was halten Sie von einem Tausch? Eine Antwort für eine Antwort.«
Ming kratzte mit dem Fingernagel Sandkörner aus dem Blei. »Einverstanden.«
»Wunderbar.« Der Ringmeister spuckte auf den Flachmann und begann, die andere Seite zu polieren. »Was schätzen Sie, wie viele Männer Sie getötet haben?«
»Um die zweihundert, denke ich.«
Der Ringmeister pfiff beeindruckt. »Wer war der erste?«
Ming schüttelte den Kopf. »Ich bin dran.« Er drehte den Bleiklumpen um, untersuchte die andere Seite auf Verschmutzungen. »Wo haben Sie Hazel entdeckt?«
In Omaha, sagte der Ringmeister. Sie sei dort mit ihrem Mann auf dem Jahrmarkt aufgetreten. Er habe ihnen Schutz angeboten, und sie hätten eingewilligt, für ihn zu arbeiten. In Green River seien sie von Indianern überfallen worden. Hazels Mann sei dabei getötet worden, wie auch drei seiner eigenen Leute. Ein blutiger Tag. Hazel sei trotzdem bei ihm geblieben – sein erstes Wunder und, bis er Hunter Reed entdeckt habe, sein einziges.
Also hatte Ming mit einer Witwe geschlafen. Er blickte hinüber zu Hazels Zelt, um sich zu vergewissern, ob sie lauschte, aber es war zu dunkel. Unschlüssig, was er von der Geschichte des Ringmeisters halten sollte, kümmerte er sich wieder um den Bleiklumpen. Ein Stück Erde hatte sich in einer Ritze eingenistet. Ming zückte den Schwellennagel und hebelte den Schmutz geduldig heraus. »Sie sind dran«, sagte er.
»Ihr Englisch ist so gut wie meins«, sagte der Ringmeister. »Wo haben Sie es gelernt?«
»Ich habe nie etwas anderes gesprochen.«
»Eine befriedigende Antwort für eine befriedigende Antwort, Mr Tsu. So lautet die Abmachung. Etwas ausführlicher bitte.«
Ming legte Blei und Nagel beiseite und sah den Ringmeister an. »Na schön.« Er nahm eine frisch gegossene Bleikugel aus der Form, testete die Temperatur. Kalt genug. Er sammelte die Kugeln in der Hand. Er sei ein Waisenkind, sagte er. Seine Eltern seien aus China gekommen, seine Mutter sei hier in Amerika bei seiner Geburt gestorben. Sein Vater habe nicht gewusst, was er mit einem Baby anfangen sollte, und ihn ins Waisenhaus gegeben. Er sei bei einem Vormund aufgewachsen, einem Mann namens Silas Root.
»Ach ja«, sagte der Ringmeister. »Ein Amerikaner. Ich entsinne mich, dass ich mit Ms Lockwood über ihn gesprochen habe.«
»Dann wissen Sie ja Bescheid«, sagte Ming. »Und ich kann mir die Geschichte sparen.«
»Ich wollte sie gerne aus erster Hand hören.« Der Ringmeister grinste. »Dann hat Silas Root Ihnen Englisch beigebracht?«
»Ja.« Ming hielt das Gesicht ins schummrige Licht und machte den Mund auf. »Hier«, sagte er und legte die Zungenspitze an den Gaumen.
Der Ringmeister beugte sich vor. Eine dünne, silbrig glänzende Narbe verlief auf der Unterseite von Mings Zunge. Ming schloss den Mund und lehnte sich zurück.
Als kleiner Junge habe er nicht sprechen können, sagte er. Die meisten Leute hätten ihn für stumm gehalten, nur Silas habe gewusst, dass die Ursache ein verkürztes Zungenbändchen war. Eines Abends sei ein Chirurg gekommen. Er habe Ming ein mit Whisky getränktes Tuch gegeben, das er sich unter die Zunge legen sollte. Ming habe auf ein mit Leder umwickeltes Stück Holz beißen müssen, dann habe der Chirurg das Zungenbändchen durchtrennt. Sechs Tage lang habe er Blut gespuckt. Am siebten, sagt er, habe er sprechen können. Ming nahm die letzte Kugel aus der Form und schüttete die Munition in einen Beutel.
»Silas hat mich im Waisenhaus gefunden«, sagte Ming. »Er hat mich vor einem Leben in Elend gerettet.«
»Ein guter Mensch.«
»Ja, aber er hat mich nicht aus Herzensgüte bei sich aufgenommen. Er hatte einen Plan.«
»Mord.«
»Ja.« Mings Stimme wurde leiser, sanfter. »Klingt nicht sehr edelmütig, oder?« Er zupfte einen Kiesel aus seiner Schuhsohle, rollte ihn zwischen den Fingern. »Einen Chinesen, sagte Silas immer, würde niemand beachten, und keiner würde sich gut genug an ihn erinnern, um dem Sheriff eine Beschreibung zu liefern. Für die Gesetzeshüter und die Bahnleute sehen wir alle gleich aus. Verdammt, in der Sierra haben sie nicht mal unsere Namen aufgeschrieben, nur jeden Tag unsere Köpfe gezählt. Na ja, bis auf Ellis. Der Hurensohn hat mir den Zopf abgeschnitten, damit er mich von den anderen unterscheiden konnte.« Seine Gedanken schweiften ab, und er schwieg einen Augenblick. »Der Alte hatte wie immer recht. Die Leute haben mich gar nicht wahrgenommen.« Plötzlich dachte er an Silas, an Sacramento und die finsteren Häuser, durch die er geschlichen war, die Hände beschmiert mit dem Blut seiner Opfer. »Ja, Silas...
Erscheint lt. Verlag | 21.11.2022 |
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Übersetzer | Volker Oldenburg |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Thousand Crimes of Ming Tsu |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | aktuelles Buch • Amerika • Arbeitssklave • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • bücher neuerscheinungen • central pacific railroad • China • Circus • Cowboy • Eisenbahn • Gangster • Hitman • Kalifornien • Kill Bill • Krimi • Krimi-Bestenliste • Krimi-Bestseller • Neuerscheinungen • neues Buch • Nordamerika (USA und Kanada) • Rache • Rachefeldzug • Revolverheld • Spannung • ST 5284 • ST5284 • suhrkamp taschenbuch 5284 • The Thousand Crimes of Ming Tsu deutsch • Thriller • USA Westen • USA Westen Pazifikstaaten Pacific States • USA Westen: Pazifikstaaten Pacific States • Vereinigte Staaten von Amerika USA • Western • Wilder Westen • Wild West • Zirkus |
ISBN-10 | 3-518-77437-9 / 3518774379 |
ISBN-13 | 978-3-518-77437-3 / 9783518774373 |
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