Unsere Stimmen bei Nacht (eBook)

Roman
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2023 | 1. Auflage
288 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8288-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unsere Stimmen bei Nacht -  Franziska Fischer
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In einer Villa im Berliner Südwesten finden sich sechs Menschen zu einer ungewöhnlichen WG zusammen - aus Geldmangel, aus Einsamkeit, auf der Suche nach einer raschen Lösung. Die fünfundfünzigjährige Gloria kocht für alle - und sie kocht hervorragend -, nur ihr griesgrämiger Ehemann Herbert war von vornherein dagegen, dass sich andere Menschen in ihrem Heim einnisten. Als Erstes Chemieprofessor Gregor mit seiner Tochter Alissa, die permanent schlecht gelaunt unter der Trennung ihrer Eltern leidet. Wenigstens reißt sich Alissa zusammen, wenn sie sich in Herberts hauseigenem Antiquariat aufhält. Dann ist da noch Jay, ein Student, der sich dagegen sträubt, die Erwartungen seiner Familie zu erfüllen, und bemüht ist, Herbert den Internetversandhandel nahezubringen. Schließlich zieht Lou-Ann, genannt Lou, in die Villa ein. Mit Mitte dreißig hätte sie längst irgendwo ankommen müssen, doch stattdessen ist in ihrem Leben alles ungeplant und unfertig. Vielleicht ist sie gerade deshalb diejenige, die all die um sich selbst kreiselnden Gestalten zusammenbringt. Etwas verschiebt sich in dem Gefüge. Die Zweckgemeinschaft wird zur Wahlfamilie, aber das Konstrukt ist zerbrechlich.

FRANZISKA FISCHER wurde 1983 in Berlin geboren, hat einige Zeit im Ausland verbracht und ist mittlerweile aus der Stadt herausgezogen. Sie studierte Germanistik und Spanische Philologie an der Universität Potsdam und arbeitet als freiberufliche Autorin und Lektorin. Bei DuMont erschien zuletzt der SPIEGEL-Bestseller >In den Wäldern der Biber<.

Kapitel 1

Die Dämmerung klammerte sich an den schwermütigen Morgen, wie um ihn zu beschützen, und hüllte die Straße in dunstig-graues Licht. Eine Autotür wurde zu schwungvoll zugeworfen, kurz darauf startete der Motor, ein Fahrradfahrer fuhr eilig über den Asphalt. Unbeirrt von den Geräuschen des Aufbruchs lief eine junge Frau in einem zu großen Mantel an den Wohnhäusern vorbei und blieb schließlich vor einem Gartentor stehen. Aus der Manteltasche holte sie einen zerknitterten Zettel, überprüfte noch einmal die Adresse und richtete den Blick dann auf das in einem gelbstichigen Weißton gestrichene Haus. Eigentlich war es eher eine Villa, eine Villa mit zwei Etagen und eierschalenfarbener Fassade und Säulen vor dem Eingang, nicht wirklich prunkvoll und klein im Vergleich zu anderen in der Gegend. Als Lou genauer hinsah, bemerkte sie die Risse in der Fassade, sie bemerkte die Rostspuren an dem Metallzaun und das leicht schief hängende Gartentor. Mit einem hellen Quietschen schwang es nach innen.

Sachte schleiften Lous Schuhsohlen über einen Weg aus vorwiegend lapislazuliblauen Mosaiksplittern, der bis zum Haus führte. Nur kurz blieb sie stehen, um das elegante Muster zu bewundern, dann erklomm sie die Stufen zu einer breiten Eingangstür aus dunklem Holz, neben der ein großer mit Erde und den Resten einer längst verstorbenen Pflanze gefüllter Blumentopf stand. Eine halbe Sekunde bevor sie die Klingel berühren konnte, öffnete sich mit einem Mal die Tür, ein Mädchen kam heraus, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Beinahe stieß sie mit Lou zusammen, blieb aber gerade rechtzeitig stehen und schwenkte dann in einem Bogen um Lou herum, ohne den Blick von ihr zu wenden. Am Absatz der Treppe hielt sie inne, noch immer eher Lou zugewandt als dem Weg, den sie eigentlich vorhatte zu gehen, so wie fast jeden Morgen, seit einem Monat schon.

»Durch die Fenster zieht es durch, die Heizung funktioniert nur manchmal, und zwar meistens nachts, und dein Zimmer geht nach Norden raus«, sagte sie. Damit wandte sie sich ab und ging die Stufen hinunter. Ihr vollgestopfter schwarzer Rucksack lag schwer auf ihren Schultern.

»Was?« Lous Blick war dem Mädchen gefolgt.

Am Gartentor hielt Alissa inne und drehte sich noch einmal um. »Dein Zimmer. Deshalb bist du doch hier, oder?« Die olivefarbene Beanie betonte das helle Blond ihrer glatten langen Haare, selbst um diese Jahreszeit wirkten sie wie gerade erst von der Sonne ausgeblichen. »Such dir lieber was anderes.«

»Was anderes?«

»Ja, ein anderes Zimmer in einer anderen WG. Kann ja nicht so schwer sein.« Damit öffnete sie das Gartentor und warf Lou einen letzten Blick zu. »Das Essen ist aber ganz gut.« Nun musste sie sich wirklich beeilen, wenn sie ihren Bus noch erwischen wollte.

Immerhin, das Essen ist ganz gut, dachte Lou, und sie dachte das wie einen Slogan, wie ein Motto, das sie weitertrug. Sie betätigte die Klingel und wartete, drückte, als nichts geschah, die von dem Mädchen nur angelehnte Haustür weiter auf und rief ein »Hallo« in die dahinterliegenden Räume.

Ihre Antwort wurde verschluckt von dunkler Stille. Lou suchte im Graublau der Dämmerung nach einem Lichtschalter, löste dabei wohl einen Bewegungsmelder aus, der helle Deckenlampen entflammen ließ. Sie befand sich in einem kleinen Eingangsbereich. Durch einen offenen Durchgang war er mit dem anschließenden Zimmer verbunden, in dem es kaum etwas anderes gab als Bücher, Bücher in deckenhohen Wandregalen, in Stapeln auf Tischen und auf dem Boden und auf jedem herumstehenden Hocker, sie stand vor einer Bibliothek. Zwischen allen Möbelstücken war eben so genügend Platz, dass Lou sich hindurchquetschen könnte. Das konnte wohl kaum der richtige Weg sein. Gerade wollte sie das Haus wieder verlassen, als sie das Geräusch einer sich öffnenden Tür hörte. Kurz darauf lief eine Frau zwischen den Büchertischen hindurch auf den Eingang zu.

»Sie müssen Lou-Ann Weber sein.« Gloria streckte Lou die Hand zur Begrüßung entgegen, zog sie jedoch sofort wieder zurück. »Entschuldigen Sie, ich habe gerade Zwiebeln für das Mittagessen geschnitten.« Sie lächelte ein schmales Lächeln, das einladend hatte wirken sollen, jedoch im Entstehungsprozess ein wenig verrutschte, einfach weil Gloria für einen Moment an einen Spätsommertag vor vierzig Jahren dachte, als sie sechzehn Jahre alt und zum ersten Mal verliebt gewesen war und der Geruch der Zwiebelsuppe ihrer Mutter genau dieses Haus erfüllte, während Gloria am Fenster saß und dem zwei Jahre älteren Alain hinterherblickte. Er würde nicht mehr wiederkommen, das wusste sie damals noch nicht, aber sie ahnte es bereits.

»Jetzt schon?«, unterbrach Lou Glorias Gedanken. In dem Moment, in dem sie die Frage stellte, wurde ihr bewusst, dass sie wahrscheinlich unhöflich klang.

»Ja, Eintopf schmeckt am besten, wenn er gut durchziehen konnte.« Nun gelang Gloria das Lächeln. »Kommen Sie doch herein. Ich bin Gloria Sobrowski, wir haben miteinander telefoniert.«

»Danke. Die meisten nennen mich Lou.«

»In Ordnung, Lou.« Gloria trat ein Stück zur Seite, um ihren Gast in die Diele zu lassen. In dem gelbweißen Licht glänzten ihre von grauen Strähnen durchzogenen rotbraunen Haare wie frisch nach einer Haarkur, sie trug einen hellen Pullover und eine dunkle Jeans. Manche Menschen strahlten eine natürliche Eleganz aus, fand Lou, sie war wie eine zweite Haut, eine unsichtbare Hülle.

Hintereinander schlängelten sie sich durch zwei Räume voller Bücher und landeten erneut in einem Eingangsbereich, von dem aus eine Treppe in die obere Etage führte. Auch ohne Aufforderung streifte Lou ihre Stiefel ab und hängte ihren Mantel an einen freien Garderobenhaken, sie achtete darauf, alles ordentlich abzulegen, sodass ihre Sachen kaum zwischen denen auffielen, die schon da waren. Anschließend folgte sie Gloria in den nächsten Raum.

»Das ist unser Salon.« Gloria blieb völlig ernst, als sie das Wohnzimmer so bezeichnete, und immerhin wirkte es mit der ausladenden Sofaecke, dem gemütlichen Sessel und der antiken Schrankwand recht groß. Dominiert wurde die Einrichtung jedoch von einer Harfe, die bei den Fenstern stand. Schwaches, durch schlichte Gardinen gefiltertes Morgenlicht streichelte über den Korpus und die Saiten, es spielte stumm auf dem Instrument. Lou hatte noch nie eine echte Harfe von Nahem gesehen, und es juckte in ihren Fingerspitzen, sie wenigstens einmal zu berühren.

»Die habe ich vergessen abzudecken«, sagte Gloria und holte eine zusammengefaltete Schutzhülle vom Sofa, geradezu hastig zog sie sie über das Instrument, als müsse sie es rasch vor fremden Blicken verbergen wie ein peinliches Hobby, während sie gleichzeitig damit begann, etwas zur Geschichte des Hauses zu erzählen. »Ich weiß nicht mehr genau, wann das Haus gebaut wurde, aber es war ungefähr Mitte des neunzehnten Jahrhunderts.«

Lou nickte, etwas irritiert von der zusammenhanglosen Information, sie war schließlich nicht hier, um das Anwesen zu erwerben.

Gloria beschloss, die Hülle später ordentlich zurechtzuziehen und sich jetzt auf ihre eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. »Nach dem Krieg stand das Haus eine Weile leer und ging durch diverse Hände, bis mein Großvater es in den Sechzigerjahren kaufen konnte.« Gemeinsam verließen sie den Raum und betraten einen weiteren Flur.

Lou spürte die vielen Jahrzehnte, in die sich das Haus gekleidet hatte, so viele Leben hatte es bereits beobachtet, so viele Anfänge und so vieles, das zu Ende ging.

Die an den Flur anschließende Küche wurde von angenehmer Wärme erfüllt, es roch nach Zwiebeln, und das große Bambusbrett voller geschnittenem Gemüse zeugte von der Beschäftigung, bei der Lou Gloria unterbrochen hatte.

»Die Küche haben wir vor ein paar Jahren neu machen lassen, aber wir wollten sie nicht komplett modernisieren«, fuhr Gloria fort, und Lou versuchte, aufmerksam zu bleiben, spürte dabei jedoch mit plötzlicher Wucht die Sehnsucht nach der Wärme eines Bettes, eines richtigen Bettes, nicht nach dem Schlafsofa in Mels Wohnzimmer, das auch heute wieder viel zu früh von den beiden Kindern erobert worden war. Mit beeindruckender Selbstverständlichkeit waren sie um sechs Uhr mit fünf Büchern unter ihre Decke gekrochen und hatten ihr genau erklärt, in welcher Reihenfolge diese vorgelesen werden sollten, am besten sofort, damit sie alle schafften, bevor sie zur Kita aufbrechen mussten, und Mel hatte Lou nur mit verständnisvoll-dankbarem Lächeln eine Tasse Kaffee gereicht.

Von dem Zwiebelgeruch begannen ihre Augen zu tränen.

Schlichte weiße Fliesen kleideten die Wände ein, die Fronten der Einbauküche waren aus weißem Holz mit schwarzen Knaufgriffen und verströmten den rustikalen Charme moderner Landhausküchen. Für einen Moment blieb Lous Aufmerksamkeit an dem fünfflammigen Gasherd mit den kupferfarbenen Knäufen hängen, sie hatte so einen noch nie in einem normalen Wohnhaus gesehen.

»Möchten Sie einen Kaffee?«, bot Gloria an und hoffte, dass die Fröhlichkeit in ihrer Stimme die darunterliegende Unsicherheit verbarg, obwohl Lou bei Weitem nicht die Erste war, der Gloria das Haus zeigte, ihr Haus, ihr Leben eigentlich, genau genommen war sie bereits die Vierunddreißigste. Dieses eine letzte Zimmer war das schwerste von allen, bisher war keine Person die richtige gewesen.

»Danke, gern.« Lou ließ sich an dem kleinen Tisch unter dem Fenster nieder. Die bordeauxfarbene Jalousie war hochgezogen und eröffnete freie Sicht auf den Vorgarten, nur der Rhododendron malte eine grüne Oase in die spätwinterliche Landschaft.

»Kommen Sie aus Berlin?«, fragte Gloria, während sie die wiederverwendbare Kaffeekapsel mit Kaffeepulver befüllte.

»Hm....

Erscheint lt. Verlag 17.5.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Antiquariat • Familie • Familiengeschichte • Freundschaft • Garten • Gemeinschaft • In den Wäldern der Biber • Liebe • Mehrgenerationen-WG • Miteinander • Trennung • Wahlfamilie • Wohngemeinschaft • Zusammen ist man weniger allein
ISBN-10 3-8321-8288-8 / 3832182888
ISBN-13 978-3-8321-8288-5 / 9783832182885
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