Sie standen sich gegenüber, der Vampir und der Dämonenjäger.
Das Feuer, das im Kamin brannte, warf zuckende Schatten über ihre Gesichter. Ein Holzscheit knackte und sprühte Funken auf den Teppich, aber weder Mensch noch Vampir schienen das zu bemerken.
Sie starrten sich nur an, stumm und reglos, als lauere einer auf die Schwäche des anderen. Schließlich war es der Vampir, der das Schweigen brach.
»Tee oder Kaffee?«, fragte Fu Long.
In seinen Träumen saß Baal, der Moloch, bereits auf dem Thron des Höllenfürsten. Stygia war geschlagen und lag bettelnd im Staub, während die Erzdämonen in Ehrfurcht ihre Köpfe neigten. Die Realität sah jedoch anders aus: Die Erzdämonen, deren Unterstützung Baal so dringend benötigte, verweigerten sich ihm und schienen bemüht zu sein, die momentanen Machtverhältnisse nicht zu gefährden.
Ich könnte Stygia mit einem Augenzwinkern vom Thron fegen, dachte er, aber die Macht allein nützt mir nichts…
Er benötigte die anderen Dämonen und ihre Gefolgschaften auf seiner Seite, um nach Stygias Vernichtung als neuer Fürst der Finsternis akzeptiert zu werden. Vor allem aber brauchte er Astardis, denn mit seiner Anerkennung war die Unterstützung durch die Erzdämonen nur noch eine Formsache. Niemand, der seine Existenz schätzte, widersprach einem Wunsch von LUZIFERS direktem Stellvertreter.
»Die Hölle ist nicht bereit für einen Krieg.«
Baal drehte sich um. In der sternenklaren Nacht war sein Gegenüber, eine pferdefüßige, mehr als drei Meter hohe Gestalt mit geschwungenen Hörnern, leicht zu erkennen.
Er neigte knapp den Kopf. »Astardis, ich dachte gerade an dich.«
»Du solltest lieber an dich denken und an den Platz, den du unter meiner Regentschaft einnehmen willst.«
Baal sah hinaus auf die schneebedeckten Berge. Wenn er nachdenken wollte, zog er sich meistens aus der Hölle zurück und wählte einen einsamen Ort auf der Erde, wo er ungestört und vor allem unbelauscht war. Dass Astardis, beziehungsweise der Doppelkörper, den er wie immer schickte, ihn trotzdem gefunden hatte, irritierte und beunruhigte den Moloch.
»Du weißt, wo mein Platz ist«, antwortete Baal nach einem Moment, »und wer vernichtet werden muss, damit ich ihn einnehmen kann.«
Astardis trat neben ihn. Der Schnee verdampfte unter seinen nackten Füßen und hüllte ihn in Nebelschwaden.
»Stygia ist nur dein Problem, Baal, nicht das der Hölle. Es gibt wichtigere Dinge, um die wir uns kümmern müssen, Dinge, die unser aller Existenz bedrohen könnten.«
Er machte eine Pause und strich langsam über seinen Schädel. »Hast du jemals von Kuang-shi gehört?«
Baal lächelte. »Der angeblich unbesiegbare Götterdämon? Jeder kennt wohl seinen Namen, aber niemand hat ihn je gesehen. Er ist eine Legende, nichts weiter. Er war damals schon eine Legende.« Er spielte auf die Zeit an, bevor er selbst für tot gehalten worden war, hinabgestürzt in die Tiefen des ORONTHOS. Wie lange lag das nun schon zurück… und ausgerechnet Stygia hatte damals Baal besiegt. Durch einen Trick, natürlich, wie immer. Sie konnte nur durch Tricks siegen. In einer offenen Auseinandersetzung musste sie immer verlieren. Wohl nicht nur gegen Baal…
»Diese Legende ist Realität geworden. Kuang-shi lebt.«
Stille legte sich über die winterliche Landschaft. Baal lauschte auf das Zischen des verdampfenden Schnees und zwang seine Gedanken zur Ordnung. Kuang-shi, der Vampir, der keiner war, der Götterdämon aus einer längst vergessenen Zeit - sein Name beflügelte die Fantasie und eröffnete neue, ungeahnte Möglichkeiten.
»Du glaubst, dass er eine Gefahr für die Hölle darstellt?«, fragte Baal schließlich.
Astardis’ rote Augen starrten ihn durch die Nebelschwaden an. »Wir wissen weder, wie mächtig er ist, noch wie viele Gefolgsleute er kontrolliert. Nur eins ist sicher: Er steht nicht auf unserer Seite.«
»Teilen die Erzdämonen deine Ansicht?«
»Natürlich teilen sie meine Ansicht«, sagte Astardis hörbar wütend. »Ich dulde keinen Widerspruch in solch wichtigen Angelegenheiten.«
Gut, dachte Baal. Laut entgegnete er. »Dann lasst mich eure Angelegenheit zu meiner machen. Während Stygia auf ihrem Knochenthron sitzt und nichts tut, werde ich Kuang-shi finden, vernichten und dir, Astardis, seinen abgeschlagenen Kopf als Zeichen meiner Loyalität bringen. Die Erzdämonen sollen erfahren, wie mächtig ich bin - und wie großzügig zu denen, die mich unterstützen.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust und hielt dem Blick aus roten Augen stand.
»Kuang-shis Kopf gegen Stygias Thron«, sagte Astardis nach einer Weile. »Der Tausch erscheint mir angemessen.«
»Dann ist es beschlossen?«
Astardis nickte. »So soll es sein.«
Sein Doppelkörper löste sich auf und wurde mit dem Nebel hinweggeweht. Baal begann zu lachen, erst leise, dann immer lauter, bis der Schnee vibrierte und in Lawinen von den Berghängen stürzte.
Er hatte sein Ziel erreicht.
***
Los Angeles
Captain Butch »die Qualle« Sanders war aus mehreren Gründen nicht sonderlich beliebt bei seinen Untergebenen. Zum einen trug er ein derart penetrantes Rasierwasser, dass es Detective Jack O'Neill, der im Büro seines Chefs um Atem rang, die Tränen in die Augen trieb. Zum anderen hatte er die Angewohnheit, sich während Unterhaltungen ständig in den Schritt zu greifen, als wäre er eine übergewichtige, weiße Version von Michael Jackson. Der wichtigste Grund für die Abneigung, die ihm im Großraumbüro der LAPD entgegenschlug, war jedoch…
…dass er ein Arschloch ist, dachte O'Neill.
»Hören Sie mir überhaupt zu, Detective?«, unterbrach Sanders seine Gedanken.
»Ja, Sir.« Der scharfe Geruch des Rasierwassers lag wie ein Pelz auf seiner Zunge. Er räusperte sich. »Sie sprachen gerade über die Vermisstenstatistik der letzten Monate.«
»Die niemand außer mir zu lesen scheint.«
O'Neill ignorierte die Spitze und beobachtete, wie Sanders seine Hand aus dem Schritt nahm und einen Aktenordner aufschlug. Dunkel erinnerte er sich daran, einen ähnlichen Ordner vor Wochen in seiner Ablage bemerkt zu haben. Mittlerweile war er wohl längst im Papierkorb gelandet.
»Eine Steigerung von vierzehn Prozent rund um Venice Beach«, fuhr Sanders fort. »Wissen Sie, was das bedeutet?«
»Dass mehr Leute verschwinden, Sir?«
Der Aktendeckel wurde mit einem Knall geschlossen. »Nein, Detective, es bedeutet, dass jemand hier seine Arbeit nicht vernünftig erledigt. Die Zahl der Vermissten steigt, die Aufklärungsrate sinkt. Und damit sinkt auch die Wahrscheinlichkeit, dass ich noch in diesem Jahr auf einen Posten befördert werde, wo ich mit Klugscheißern wie Ihnen nichts mehr zu tun habe. Verstehen Sie jetzt, was das bedeutet?«
»Ja. Je schneller Sie weg sind, desto besser - für Sie selbstverständlich, Sir…«
Sanders verzichtete auf eine Antwort und warf ihm nur die Akte entgegen. »Kümmern Sie sich darum. Bis Ende der Woche will ich Ergebnisse sehen.«
»Ja, Sir.«
O'Neill stand auf und klemmte sich den Ordner unter den Arm. Er wollte gerade nach dem Türknauf greifen, als Sanders' Stimme ihn zurückhielt.
»Noch eine Sache, Detective…«
Er drehte sich um. »Sir?«
»Es wäre schön, wenn Sie ausnahmsweise menschliche Täter in Ihren Berichten erwähnen könnten. Ich weiß, dass es Sie nicht stört, vor Ihren Vorgesetzten wie ein Idiot dazustehen, aber ich lege Wert darauf, von meinen ernst genommen zu werden. Okay?«
Touché, dachte O'Neill und schloss ohne ein weiteres Wort die Tür hinter sich. Der Lärm des Großraumbüros schlug ihm wie eine Welle entgegen. Telefone, Faxgeräte und Handys klingelten ununterbrochen. Beamte in Uniform und Zivil saßen an Schreibtischen oder standen Kaffee trinkend in kleinen Gruppen zusammen. Ein paar nickten O'Neill zu, als er sich vorbeidrängte und an seinen Tisch zurückkehrte.
Er warf den Aktenordner auf einen der Stapel im Eingangskorb und setzte sich. Bis Ende der Woche wollte Sanders die ersten Resultate, wohl wissend, dass das völlig unmöglich war. Bei Tag zog Venice Beach mit seinen Souvenirgeschäften, Straßenkünstlern und Cafés zwar Teenager und Touristen gleichermaßen an, aber nach Einbruch der Dunkelheit änderte sich das Bild schlagartig. Drogendealer, Junkies, Obdachlose und Prostituierte hockten jetzt in den Schatten der Vergnügungsmeile und boten sich oder ihre Waren an, während andere die Mülleimer durchstöberten und unter den Piers nach einem Nachtlager suchten. Als normaler Mensch war es schon schwer genug, zu dieser Szene Kontakt aufzunehmen, als Polizist hatte man keine Chance.
»Scheiße«, sagte O'Neill.
Am Nebentisch hob sein Kollege, Detective Sergeant Obadiah P. Rutherford Jr. den Kopf. »Macht die Qualle wieder Stress?«
Sein Südstaatenakzent klang schwerfällig und...