Der Einundzwanzigjährige, der freiwillig in ein Pflegeheim zog und von seinen Mitbewohnern mit Demenz lernte, was Menschlichkeit bedeutet (eBook)
216 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46626-1 (ISBN)
Teun Toebes (*1999) ist ausgebildeter Altenpfleger und Kämpfer für eine bessere Pflege für Menschen mit Demenz. Für sein Engagement hat er zahlreiche Preise erhalten. Er ist ein beliebter Speaker auf internationalen Konferenzen une gefragter Gesprächspartner der Medien.
Teun Toebes (*1999) ist ausgebildeter Altenpfleger und Kämpfer für eine bessere Pflege für Menschen mit Demenz. Für sein Engagement hat er zahlreiche Preise erhalten. Er ist ein beliebter Speaker auf internationalen Konferenzen une gefragter Gesprächspartner der Medien.
I
Das Licht sehen
Mein Herz gestohlen
»Redest du mit Teun, geht es bestimmt um Demenz«, sagen die Leute in meinem Umfeld oft. Täglich werde ich gefragt, woher meine Leidenschaft für Menschen mit Demenz kommt. Das ist nicht verwunderlich, schließlich ist es nicht gerade ein Thema, über das man für gewöhnlich auf der Geburtstagsparty eines Zweiundzwanzigjährigen spricht. Alle gehen davon aus, Demenz müsse wohl in meiner Familie vorkommen. Das stimmt zwar, war aber sicher nicht der Hauptgrund für mich. Mein Interesse wurde während eines Pflichtpraktikums im Rahmen meines Pflegestudiums geweckt. Ich arbeitete in der geschlossenen Abteilung eines Pflegeheims, die speziell für Demenzkranke eingerichtet worden war. Ich muss ehrlich zugeben, was ich dort zu sehen bekam, hat mich ziemlich aus der Fassung gebracht. Es entsprach nicht unbedingt dem Bild, das ich im Kopf hatte, als ich mich für diesen Studiengang entschied.
Vielleicht war ich ein wenig naiv, denn auch ich bin mit amerikanischen Serien aufgewachsen, in denen attraktive Ärzte und junge Krankenschwestern die Welt retten, während sie hauptsächlich damit beschäftigt sind, miteinander zu flirten. Dass diese Vorstellung gesundheitlicher Fürsorge nicht ganz zutraf, war mir schon klar, aber die Realität fand ich so enttäuschend, dass ich das Studium eigentlich direkt abbrechen wollte. Ich fühlte mich bedrückt beim Anblick all der Menschen, die den ganzen Tag an langen Tischen vor sich hin dämmerten und benommen ins Leere starrten. Sah so meine Zukunft aus?, fragte ich mich. Wie um Himmels willen konnte ich in dieser tristen Welt hinter verschlossenen Türen etwas Sinnvolles tun?
So lieb meine Mutter meistens ist, so leidenschaftlich und energisch kann sie reagieren. Als sie mitbekam, dass ich über die Wahl meines Studienfachs klagte, machte sie mir unmissverständlich klar, dass ein sofortiges Aufgeben keine Option war. »Gute Pflege kann nur von lieben Menschen geleistet werden, und wenn ich eines ganz sicher weiß, mein Junge, dann, dass du ein solcher Mensch bist.« Obwohl mir klar war, dass meine Mutter, die übrigens auch in der Pflege tätig ist, ziemlich voreingenommen war, nahm ich das Kompliment doch gern an und betrat eine Woche später mit einer gesunden Portion Widerborstigkeit die Abteilung.
Ich schaute mich um, hielt ein Schwätzchen, trank hier und da eine Tasse Tee, und plötzlich begriff ich, was ich als pubertierender Teenager nicht hatte wahrhaben wollen: Meine Mutter hatte recht! Ich fand den Kontakt zu den dort lebenden Menschen gleich sehr angenehm, vor allem mit John Francken, einem ehemaligen Bauleiter. Er brachte mich dazu, nicht nur die Pflege, sondern auch die Menschen mit Demenz zu mögen, und nicht zuletzt ihn. Er machte mir siebzehnjährigem Jungen bewusst, dass wir als Gesellschaft »die Pflegeheimbewohner« noch überhaupt nicht gut kennen, weil wir nicht begreifen wollen, dass »sie« in dieser besonderen Innenwelt, in der sie leben, genau die gleichen Bedürfnisse haben wie »wir« in der Außenwelt.
»Hör ma’ zu, Teun«, sagte John mit seinem Amsterdamer Akzent. »Mein ganzes Leben lang hat sich jeder mir gegenüber normal verhalten, bis sie mir beim Arzt sagten: ›Du hast Parkinson-Demenz.‹ Von da an ging’s bergab, nicht so sehr mit mir selbst, sondern besonders damit, wie alle mit mir umgegangen sind und mit mir geredet haben. Der Kontakt zu meinen alten Arbeitskollegen hat sich verändert, die Leute in der Nachbarschaft haben mich anders angesehen, weil sie mich bemitleidet haben. Und ich wurde ständig gefragt, ob es mir noch gut ging. Kurz gesagt: Mein Leben als normale Person war vorbei … Und ich kann es ihnen nicht verdenken, mein Junge, denn niemand da draußen weiß etwas über diese verfluchte Krankheit. Was ich aber ganz schlimm finde, Teun«, fuhr er fort, »ist, wie ich hier behandelt werde, wo es doch lauter Menschen gibt, die an etwas leiden und das verdammt gut wissen. Hier sollten sie doch kapieren, dass wir nicht verrückt sind, dass wir nicht alle gleich sind oder uns im selben Stadium der Krankheit befinden. Sollten wir denn nicht gerade hier normal sein dürfen? Aber sie behandeln mich, als wäre ich verrückt, als wüsste ich nicht mehr, was ich tue, als wäre ich zu nichts mehr zu gebrauchen. Sie vergessen, dass es sich bei dem Mann, den sie vor sich sehen, um John Francken handelt, und dass dieser Mann ein schönes Leben gehabt hat und jeden Tag kleine menschliche Freuden genießen konnte, ein Gespräch, einen Witz oder einfach nur Menschen, die fröhlich an der Baustelle vorbeigingen. Sie vergessen, dass diese Dinge denselben Mann immer noch glücklich machen, auch wenn ich manchmal verwirrt bin und Dinge vergesse. Es mag sein, dass ich Dinge vergesse, aber seit ich hier lebe, haben sie mich vergessen, Junge, so sieht’s aus …«
Schluck. Einen Moment lang sahen wir uns schweigend und mit Tränen in den Augen an. Plötzlich saß mir kein harter Kerl gegenüber, sondern ein Mensch mit dem liebsten und zugleich traurigsten Blick, den ich je gesehen hatte. Ich räusperte mich und sagte vorsichtig: »Ich werde mich nicht so verhalten, John. Ich vergesse dich nicht, versprochen.«
Wegen meines Versprechens hatte ich das Gefühl, John etwas beweisen zu müssen: nämlich, dass wir als Gesellschaft ihm und den Tausenden anderen Johns, die mit Demenz leben, sehr wohl zuhören können. So wurde John nicht nur zu meinem Kumpel, sondern auch zur Inspirationsquelle für meine Mission, die Lebensqualität von Menschen mit Demenz zu verbessern. Und diese Mission begann sofort.
In meiner Freizeit ging ich mit John vergnügt Eis essen. Wir lachten gemeinsam über die manchmal etwas sexistischen »Männerwitze vom Bau«, und wir rasten mit meinem Oldtimer durch das Dorf, zumindest so weit das mit meiner alten rostigen Karre überhaupt möglich war. Zu allem Überfluss war ich, der leicht eitle angehende Pfleger, der Einzige im Team, der Johns Schnurrbart stutzen durfte. Auf den ersten Blick mag das nicht als besondere Ehre erscheinen, aber wer John gekannt hat, weiß es besser. John hat mir nicht nur beigebracht, Menschen mit Demenz wahrzunehmen und ihnen zuzuhören, sondern mir auch etwas vor Augen geführt, was ich bei meinem ersten Besuch noch nicht hatte entdecken können: den Menschen hinter der Krankheit.
Der zweite Beweggrund, warum ich Menschen mit Demenz so gern helfen will, ergab sich Jahre später. Bei Greet, der jüngsten Schwester meiner Großmutter, wurde Alzheimer, die häufigste Form von Demenz, diagnostiziert. Ich erinnerte mich an Greet von den Geburtstagsfeiern meiner Großmutter, auf denen sie für gewöhnlich ziemlich viel herumnörgelte und sich über alles, jede und jeden beschwerte. Ich weiß auch noch, wie gut gekleidet sie immer war und dass sie eine Perlenkette trug. Der Begriff »alleinstehend« charakterisierte Greets Leben recht gut: Ihr Mann starb früh, und so blieb sie ungewollt kinderlos. Um trotzdem für etwas sorgen zu können, hatte sich Greet zwei Hunde angeschafft, kleine Schoßhündchen oder »Schrotthündchen«, wie sie selbst sie nannte, die sie jedes Jahr mit einer roten Schleife fotografieren ließ, um das Bild dann in einem prächtigen Rahmen an ihre Wand zu hängen.
Zu ihrer Verwandtschaft hatte Greet kaum Kontakt, aber mit zunehmendem Alter entwickelte sie eine immer engere Beziehung zu ihrer Cousine, meiner Tante. Als bei Greet nach einer langen Phase der Scham und des Vertuschens der Symptome Alzheimer diagnostiziert wurde, übernahm meine Tante ihre gesetzliche Vertretung und bekam die Vollmacht über Greets Angelegenheiten. Eine Formalität, an die ich damals nicht einmal einen Gedanken verschwendet habe, die aber genau definiert, wie das eigene Leben von nun an aussehen wird: ein Leben ohne formale Stimme, ohne eigenen Willen und ohne Selbstbestimmung. Ein Leben, in dem man gesetzlich kein Gehör mehr findet, weil man einfach kein Recht mehr hat, für sich selbst zu sprechen, egal was man sagt. Ein Federstrich, der vielleicht unbeabsichtigt die Grundlage dafür bildet, wie wir als Gesellschaft Menschen mit Demenz betrachten.
Vom Zeitpunkt ihrer Diagnose an isolierte sich Greet noch stärker. Die Fensterläden blieben geschlossen, und die Mahlzeiten, die ihr die Familie vorbeibrachte, verfütterte sie direkt an die Hunde weiter, denn für die musste schließlich gut gesorgt werden. Was sie unter anderem manchmal vergaß, war, dass sie neben Demenz auch an Diabetes litt, eine gefährliche Kombination. Das zeigte sich, als die Polizei zweimal ihre Tür aufbrechen musste, weil Greet bewusstlos auf dem Boden lag. Es wurde offenkundig, dass sie allein zu Hause nicht mehr sicher war – in dem Haus, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Eine Feststellung, die wie eine Bombe einschlug, denn ein Leben in eigener Regie war für sie doch das Allerwichtigste – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass sie den größten Teil ihres Lebens alles selbst hatte regeln und entscheiden müssen. Aber nach einem guten Gespräch mit meiner Tante sah Greet selbst ein, dass ihre Sicherheit zunehmend in Gefahr geriet. Ein Risiko, das sie im Nachhinein wahrscheinlich lieber in Kauf genommen hätte, als sich auf das einzulassen, was ihr bevorstand.
Es bedurfte nur noch einer richterlichen Verfügung, um den Umzug in ein Pflegeheim einzuleiten, was bald geschah. Vielleicht lag es daran, dass es nun ein Familienmitglied betraf, oder auch daran, dass ich zum ersten Mal sah, wie der Weg ins Pflegeheim verlief: Die Tatsache, dass eine Frau nach achtundfünfzig Jahren ihr Zuhause verlassen musste, ließ mich nicht mehr los. Wie fühlte sich das an, vor allem wenn man...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2023 |
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Übersetzer | Bärbel Jänicke |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alte • Altenbetreuung • Altenhilfe • Altenpflege • Altenpflege Bücher • Altenpfleger • Altenpflegerin • Altern in Würde • Altersheim • Älter werden • Alzheimer • Alzheimer Buch • Alzheimer Demenz • Alzheimer Diagnose • Appell • bekannter Altenpfleger • Berühmt • berühmter Altenpfleger • Bestseller aus den Niederlanden • Bestseller Holland • Bestseller Niederlande • Buch • Debatte • Demenz • Demenz Betreuung • Demenz Buch • Demenz Erfahrung • Demenz Pflege • Erfahrungsberichte • Erinnerungen • Geriatrie • Gesellschaftskritische Bücher • In Würde alt werden • junger Altenpfleger • junger Pfleger • kommunikation mit demenzkranken • Medizinischer Dienst • Menschenwürde Demenz • Pflegeberufe • Pflegedienst • Pflegeheim • Pflege im Alter • Pflegekraft • Pflegekräfte • Pflegenotstand • Pfleger zieht in Pflegeheim • Pflegesystem • Sachbuch Gesellschaft • Senioren • Seniorenheim • sozialkritische Bücher • Teun Toebes • umgang mit demenzkranken • Wahre Begebenheit • Wahre GEschichte • wahre geschichten bücher • Wen kümmern die Alten • würdevoll altern • würdevoll leben • Zukunft Altenpflege • Zukunft Pflege |
ISBN-10 | 3-426-46626-0 / 3426466260 |
ISBN-13 | 978-3-426-46626-1 / 9783426466261 |
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