Ecce Machina (eBook)

Die Seele der Maschine
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
416 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60350-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ecce Machina -  Neil Sharpson
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200 Jahre in der Zukunft. Androiden leben als gewöhnliche Bürger unter den Menschen, außer in der isolierten Diktatur der Kaspischen Republik: Hier hat man jegliche künstliche Intelligenz verboten. Als Lily Xirau, die Witwe des ermordeten politischen Propagandisten Paulo Xirau, ins Land kommt, um seine Überreste zu identifizieren, bekommt Agent Nikolai South den Auftrag, sie zu eskortieren. Doch Lily sieht Souths verstorbener Ehefrau zum Verwechseln ähnlich, und wie sich herausstellt, war der Ermordete selbst eine KI. South ahnt schnell, das irgendetwas hier ganz und gar nicht stimmt ...

Neil Sharpson schreibt seit seiner Jugend Theaterstücke und hat inzwischen auch den Roman für sich entdeckt. So wurde aus seinem ursprünglich für die Bühne angedachten Stück »The Caspian Sea« der Roman »Ecce Machina«. Er bloggt unter dem Namen »Unshaved Mouse« über animierte Filme und Comicverfilmungen und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Dublin.

Neil Sharpson ist Theaterautor und Schriftsteller und lebt in Dublin mit seiner Frau und seinen zwei Kindern. Seit seiner Jugend hat er Theaterstücke geschrieben, ist aber inzwischen zum Romane schreiben übergegangen. Aus seinem Stück »The Caspian Sea« wurde schließlich »Ecce Machina«. Er bloggt unter dem Namen »Unshaved Mouse« über animierte Filme und Comicverfilmungen.

Prolog


Ich werde mit Leon Mendelssohns Erhängung beginnen.

So. Das wäre entschieden.

Meine geliebte Frau ist Schriftstellerin und hat mich darauf hingewiesen, dass das Finden eines Anfangs das Schwierigste am Geschichtenerzählen sei. Damit sollte sie, wie in allem anderen auch, recht behalten. Lange Zeit wollte ich nämlich mit der Gründung der Kaspischen Republik vor ungefähr vierundneunzig Jahren beginnen oder mit meiner Geburt drei Jahre später in ebendiesem unausgegorenen Staatsgebilde. Doch bei der ersten Variante wäre ich Gefahr gelaufen, in Geschichtsschreibung zu verfallen (die ich nicht betreiben möchte), und bei der zweiten, eine Autobiografie abzuliefern (die, das kann ich euch versichern, ihr nicht lesen möchtet). Deshalb beginnen wir an einem strahlend klaren, ziemlich grausam kalten Septembertag, an dem der gute arme Mendelssohn in den Hof vor eine Gruppe Parteifunktionäre, Gewerkschaftsvertreter und einen Journalisten geführt und am Hals aufgehängt wurde. Die Anwesenden sahen dabei zu und traten vor Kälte auf der Stelle.

Sie gehörten nicht zu der Sorte Mensch, die vor Gewalt zurückschreckte. Eine jede und ein jeder von ihnen wusste, dass die Kaspische Republik die Wächterin einer unermesslich kostbaren Sache war, nämlich der letzten Ascheglut der menschlichen Rasse. Und um seine Untertanen vor der Höllenmaschine zu schützen, musste der Staat – wie jeder andere Staat – zu töten bereit sein. Die Apparatschiks der Kaspischen Republik wohnten mit derselben Regelmäßigkeit Erschießungen bei, mit der die Führenden anderer, dekadenterer Nationen Führungsseminare besuchten. Doch eine Erschießung ist das eine, eine Erhängung jedoch etwas ganz anderes. In Kaspien war seit Jahrzehnten keiner mehr gehängt worden, und ein Galgen dafür musste von Grund auf neu konstruiert werden. Er stand im Hof, scheußlich neu und abstoßend sauber. Aus einem unerfindlichen Grund war er himmelblau angestrichen worden, als wollte man sicherstellen, dass niemand den Blick von ihm abwandte, und er drängte sich den Blicken der Zuschauenden mit einer schrecklichen, unwiderstehlichen Lebhaftigkeit auf. Dem Anblick eines nagelneuen Galgens, der gerade in sein langes, grausiges Leben tritt, wohnt ein ganz besonderes Entsetzen inne.

Mendelssohn wurde in die Kälte hinausgeführt, und seine Erscheinung erschreckte sogar diejenigen unter den Zuschauern, die hohe Stellungen in der Staatssicherheit und in ihrer unerbittlichen Rivalin, der Parteisicherheitsbehörde, innehatten. Es waren Menschen, die aufgrund der Beschaffenheit ihres Broterwerbs daran gewöhnt waren, den menschlichen Körper in extremen Zuständen zu erblicken, aber selbst diese zuckten zurück, als sie das Geschöpf sahen, das, von einem Wachmann am einen, von einem Priester am anderen Arm gestützt, zu ihnen herausgeführt wurde.

Schon immer war Mendelssohn dürr gewesen, doch nun fragten sich die Anwesenden, wo die Muskeln sein sollten, die es ihm erlaubten, ermattet ins helle, raue Sonnenlicht zu schwanken, das eher zu kühlen als zu wärmen schien. Seine leuchtend blauen Augen funkelten tief aus ihren Höhlen hervor, und seine einst dichte braune Haarmähne war so schütter und spröde, dass es schien, als könnte ihm ein steifer Windzug den Schädel kahl rasieren. Auch sein Bart war verwildert und über die Lippen gewachsen, und die getrockneten Überreste seiner letzten Mahlzeit, eines Napfs dünner, grauer Suppe, die er bei Tagesanbruch gierig in sich hineingeschüttet hatte, klebten darin. Ich habe keinen Grund, irgendeine der Personen zu mögen, die an jenem Morgen Zeugen von Leon Mendelssohns Dahinscheiden wurden, und dennoch gehe ich davon aus, dass sie Mitleid empfunden haben. Schließlich war er einer von ihnen. Oder war es zumindest gewesen. Einst war er einer der führenden Köpfe der Partei gewesen, einer der wenigen, die es immer noch schafften, die Prinzipien der Revolution edel und romantisch erscheinen zu lassen, die beim Singen der alten Lieder noch die Töne trafen. Er vermochte zu dichten, während die anderen selbst Mühe mit der Prosa hatten.

Das liegt nun alles in der Vergangenheit. Er war in Ungnade gefallen, und nun blieb ihm nichts anderes mehr, als noch einmal zu fallen: sechs Fuß tief.

Vom Schafott lächelte Mendelssohn traurig und schwach in die Menge, während man ihm den Strick um den Hals legte, einen Hals, der kaum dicker als der Strick war.

»Keine Sorge, Freunde«, sagte er leise, »wir sehen uns bald wieder.«

Der Priester, der ihm aus der Zelle gefolgt war, nickte anerkennend, da er überhaupt nicht begriff, was Mendelssohn mit diesen Worten meinte. Ebenso wenig begriff er die Gefahr, in die er sich brachte, indem er diesen Worten beipflichtete.

Warum wurde Mendelssohn gehängt? Weil sie ihn liebten und er sie verraten hatte.

Ihn einfach zu erschießen, das hätte aus ihm einen von tausend anonymen Verurteilten gemacht. Hier handelte es sich jedoch um Leon Mendelssohn. Den hatten wir auf unseren Nachtkästchen stehen und lasen ihn unseren Kindern vor. Seine berühmte Passage über die Natur der Liebe aus Elijas Wagen wurde fast dreißig Jahre lang auf jeder zweiten Hochzeit in Kaspien vorgelesen.

Sein Beitrag für das Leben in Kaspien war groß. Sein Verrat unbeschreiblich.

Also hing der Staat ihn auf, um seinen eigenen Standpunkt klarzumachen.

So barbarisch es auch erscheinen mag, so kann das Hängen die gnädigste Todesart sein, wenn die Hinrichtung mit Sachverstand ausgeführt wird. Allerdings waren die Umstände nicht günstig. Wie ich schon erwähnte, hatte man seit einigen Jahrzehnten keine Erhängung mehr durchgeführt, und selbst wenn die Schlinge fachgerecht geknüpft worden wäre, war Mendelssohn schlichtweg zu leicht. Er hing womöglich ganze zwei Minuten lang, verwandelte sich vor der versammelten Zuschauerschaft aus einem würdigen Gelehrten in ein panisch röchelndes Tier und schließlich in einen Gegenstand, der still im Wind baumelte.

Keiner der Parteitreuen sagte ein Wort. Niemand wünschte, in diesem Spiel eine Hauptrolle zu übernehmen. Alle gaben sie sich als Statisten zufrieden.

Wenn ihr euch die Bilder von Erhängten anschaut, dann achtet auf die Gesichter dieser Leute: so grau, unförmig und anonym wie aufgereihte, ungewaschene Kartoffeln. Einen aber seht ihr aus ihnen hervorstechen. Einen Mann Ende dreißig, der sich den jugendlichen Eifer im Gesicht bewahrt hat, glatzköpfig, fahl und mit dem Blick eines gehörnten Liebhabers, in dem Hass und faulig gewordene Liebe loderten.

Das war der Journalist Paulo Xirau, und er war der Einzige seiner Zunft, dem der Zugang zur Erhängung gestattet worden war. In der Regel misstraut man Journalisten in Ländern wie der Kaspischen Republik. Diejenigen, denen man Vertrauen schenkt, haben ihre Staatstreue zuvor aufwendig unter Beweis gestellt; bei Paulo war dies ohne Zweifel der Fall. Wenn ich auf die Zeit zurückblicke, die ich in der Kaspischen Republik verbracht habe, muss ich mich sogar fragen: Gab es jemanden, der mehr geglaubt hat als er? An die Partei, an die Prinzipien, auf denen die Nation gegründet war? Hat irgendein anderer so sehr gehasst, so leidenschaftlich geglaubt, so inbrünstig Leben, Leib und Seele der Kaspischen Republik verschrieben wie er? Ich bezweifle es. Und das ist tragisch, wenn man die Wahrheit über ihn näher betrachtet.

Wenn ich gut gestimmt bin, tut er mir leid. Ich bin einmal einem Theologen begegnet, der die Hölle als »ein kleines Zimmer und genügend Zeit, um darüber nachzudenken, wie sehr man sich selbst hasst« beschrieben hat. Paulo Xirau hat vor langer Zeit schon dieses Zimmer betreten und die Tür verrammelt.

Alle Anwesenden kannten Xirau und Mendelssohn. Sie wussten, weshalb man Xirau vertraute und weshalb Mendelssohn hingerichtet worden war. Aber, so hoffe ich jedenfalls, waren selbst sie geschockt, als er aus den Reihen anonymer Parteigänger heraustrat, sich vor den noch baumelnden Leichnam Mendelssohns stellte und einen dicken, gelben Klumpen Sputum auf dessen Brust abschoss. Sodann, als hätte er sich eben selbst einen bösen Geist ausgetrieben, verließ er ruhigen Schrittes den Hof, wobei er nur innehielt, um mit dem einen oder anderen hochrangigen Parteimitglied ein höfliches, wortloses Lächeln zu tauschen.

Niemand sagte etwas. Aber am selben Abend trafen sich im Salon von Augusta Niemann, der stellvertretenden Direktorin der StaSich, vier Mitglieder des Obersten Verwaltungsrats der...

Erscheint lt. Verlag 27.4.2023
Übersetzer Simon Weinert
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte AI • Blade runner • Cory Doctorow • Diktatur • Dystopie • KI • Künstliche Intelligenz • Maschinenintelligenz • Philip K. Dick • Science Fiction • science fiction thriller • Speculative Fiction • Tom Hillenbrand • Totalitarismus • Transhumanismus • Utopie • Zukunftsvision
ISBN-10 3-492-60350-5 / 3492603505
ISBN-13 978-3-492-60350-8 / 9783492603508
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