Die Heilerin vom Rhein (eBook)
416 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60386-7 (ISBN)
Jørn Precht ist mehrfach preisgekrönter Drehbuchautor für Kino- und Fernsehproduktionen. Seit 2012 lehrt er als Professor an der Stuttgarter Hochschule der Medien und veröffentlicht Sachbücher mit dem von ihm gegründeten Storytelling-Institut. Sein erster historischer Roman wurde 2018 mit dem Brozenen Homer Literaturpreis ausgezeichnet. Als eine Hälfte des Autorenduos Charlotte Jacobi stand er seit 2020 wiederholt auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Der Autor lebt mit seiner Familie in Stuttgart Degerloch.
1. Kapitel
Die betörende Melodie kam irgendwo aus dem üppigen Grün. Hier, wo der Fluss Glan in die Nahe mündete, war das Land äußerst fruchtbar. An diesem Hochsommertag hatte man Elisabeth, die alle nur Lieschen nannten, zum Beerensammeln geschickt. Die Zehnjährige hielt inne, als sie den himmlisch klingenden Gesang hörte. Neugierig folgte das Kind der unbekannten hohen Stimme. Vorsichtig linste es durch einen Busch – und erblickte eine Nonne. Die schlanke Frau mochte ungefähr zehn Jahre älter sein als Lieschens Mutter, also Mitte dreißig. Die Haarfarbe war nicht zu erkennen, da die Klosterschwester Ordenskleidung mit Schleier trug. Man nannte diese schlichten Gewänder »Habit« – das wusste Lieschen von den Leuten auf dem Hof des Freibauern. Dort arbeitete ihre Mutter Griseldis als Magd, und auch das Kind musste schon auf dem Acker und in den Ställen mithelfen. Sein Vater war Stallknecht gewesen – doch der Tod hatte ihn so früh ereilt, dass Lieschen sich nicht an ihn erinnern konnte.
Die Nonne pflückte einige Pflanzen und sang dabei weiter, in dieser geheimnisvollen Zaubersprache der Kirche, die das Mädchen nicht verstand.
Plötzlich unterbrach die Christusbraut ihr Lied und blickte genau in Lieschens Richtung.
»Guten Morgen, junges Fräulein«, grüßte sie freundlich lächelnd. »Suchst du auch nach Heilpflanzen?«
Lieschen war so erstaunt über die Frage, dass sie ganz vergaß davonzulaufen, stattdessen trat sie aus dem Gebüsch.
»Nein, ich suche nach Beeren«, antwortete sie wahrheitsgemäß.
Sie konnte nun sehen, dass die Klosterfrau leuchtend blaue Augen hatte. »Meine Mutter sagt, Kamille hilft gegen Bauchweh. Können auch andere Pflanzen heilen?«
»O ja, man muss nur herausbekommen, welche von ihnen gegen welches Leiden helfen«, erklärte die Nonne. »Das alles verdanken wir der Viriditas.«
»Vi-ridi-tas?«, wiederholte Lieschen. »Ist das Lateinerisch?«
Die Nonne schmunzelte. »Ja, Lateinisch, genau. Viriditas bedeutet Grünkraft – diese Macht ist ein Gottesgeschenk.« Sie ließ ihren Blick zufrieden über die üppige Landschaft der zwei Flusstäler und die gegenüberliegenden bewaldeten Höhen schweifen. Dann sah sie dem Mädchen wieder in die Augen. »Ich bin übrigens Hildegard von Bermersheim. Und du?«
»Ich bin Elisabeth … von Freibauer Burkhards Hof drüben. Aber alle sagen Lieschen zu mir«, antwortete sie.
»Dann nenne ich dich auch so«, schlug Schwester Hildegard vor. »Möchtest du mich zum Kloster begleiten? Vor unserer Frauenklause gibt es nämlich einige Beerensträucher.«
Lieschen konnte ihr Glück kaum fassen, denn bisher war die Suche eher erfolglos gewesen. »Aber braucht Ihr und Eure Schwestern die Beeren nicht selbst?«
»Ach, wir haben innen im Klausengarten genug Sträucher mit Holunder und Johannisbeeren«, entgegnete die Nonne abwinkend. »Die an der Außenmauer sind noch recht voll.«
Wahrscheinlich traute sich niemand, Beeren unmittelbar an einem Kloster zu pflücken, dachte Lieschen, aber sie selbst hatte nun ja die ausdrückliche Genehmigung dafür. »Dann begleite ich Euch gern, es ist ja gar nicht weit. Habt Ihr denn genug Heilpflanzen gefunden?«
»Ja, Wollkraut, Anis und Mutterkraut«, bestätigte Hildegard, während sie nebeneinander auf die Klosteranlage zugingen.
»Warum heißt der Disibodenberg eigentlich so seltsam?«, fragte Lieschen.
»Er ist nach dem heiligen Disibod benannt«, erzählte die Nonne. »Das war ein irischer Mönch, der vor knapp fünfhundert Jahren viel gewandert ist um Christi willen. Nachdem er dessen müde war, fand er hier eine letzte Bleibe. Als er seinen Wanderstab neben einer Quelle in den Boden steckte, trieb der Blüten.« Sie machte die Bewegung des ausschlagenden Baumes mit den Armen nach. »Darin erkannte der alte Mönch ein göttliches Zeichen. Deshalb errichtete er unterhalb der Bergkapelle eine Einsiedelei. In dieser ärmlichen Hütte hat er dann seinen Lebensabend verbracht. Er hat sein ganzes Leben in vorbildlicher Weise Gott gewidmet. Seine Überreste liegen noch heute im Männerkloster.«
Der Berg war also ein Ort der Wunder? Lieschen fiel wieder ein, dass der Freibauer einmal gesagt hatte, es gebe keine Wunder. »Ein wahres Wunder wäre es, wenn mein Gesinde einmal fleißig arbeitet, ohne dass ich es dazu ermahnen muss.«
Lieschens Blick fiel auf Schwester Hildegards Kräutersäckchen. »Ich hab gar nicht gewusst, dass Nonnen sich mit Heilpflanzen auskennen.«
In der Tat war sie davon ausgegangen, dass die Menschen im Kloster den größten Teil der Zeit beteten und in kostbaren Kopien der Heiligen Schrift lasen, die zu erstellen laut Lieschens Mutter Jahre dauerte.
»Eigentlich hat uns der Abt die Heiltätigkeit tatsächlich verboten«, gestand Hildegard, »und unsere Vorsteherin in der Frauenklause ist auch nicht begeistert von ihr.«
»Aber wieso?«, wunderte sich das Mädchen. »Leute gesund zu machen ist doch etwas Gutes.«
»Ja, trotzdem hat man die klösterliche Heilkunst bei der Synode von Clermont vor sechs Jahren verboten«, berichtete Hildegard.
»Was ist eine Synode?«, hakte das Kind nach.
»Ein Treffen von ganz wichtigen Männern der Kirche. Unter anderem werden dort neue Regeln und Verbote festgelegt.«
Lieschen verstand das Verhalten der Geistlichen noch immer nicht. »Aber wieso wollen die Männer keine Medizin? Die werden doch auch mal krank.«
»Sie schätzen wohl allein die Heilkräfte eines demütigen Gebets. Viele Kirchenfürsten meinen, Gott allein sei für die Heilung zuständig. Und unsere Vorsteherin Jutta findet das ebenfalls«, sagte Hildegard und beugte sich verschwörerisch zu ihrer kleinen Begleiterin hinunter.
»Aber das meint Ihr nicht?«
Die Nonne schüttelte den Kopf. »Ich denke, Gott hat uns die Pflanzen geschenkt, damit wir uns selbst emsig damit helfen. Deshalb habe ich mir vom alten Bruder Antonius heimlich zeigen lassen, wie man aus den Kräutern im Garten und am Fluss Heilmittel braut. Er war früher der Infirmar.«
Immer diese Kirchensprache, dachte Lieschen und fragte: »Was ist ein Irfir…«
»Er war vor dem Verbot für die Kranken und den Klostergarten zuständig. Ich habe im Stillen dann auch lange selbst in Gottes Schöpfung geforscht – und mittlerweile kann ich Pflaster fertigen, Salben und Tinkturen rühren. Gestern hat mir einer der Mönche anvertraut, dass er unter peinlichen Blähungen leidet.« Sie deutete auf ihr Beutelchen mit den eben gepflückten Pflanzen. »Und ein Sitzbad mit diesen drei Kräutern hilft dagegen. In dem Fall kommt die Heilkunde also auch Abt Folkard und seinen Brüdern zugute. Sie sorgt schließlich für … frischere Luft im Kloster.«
Lieschen musste kichern. Da ließ ein Knacken aus dem Waldrand sie herumfahren. Ein riesiger Bär brach aus dem Gestrüpp hervor! Das Mädchen stieß einen spitzen Schrei aus und stolperte zurück, Hildegard stand ganz starr da.
»Beweg dich auf keinen Fall!«, wisperte die Nonne und umschloss die Hand des Kindes fest mit der ihren. »Bleib ganz ruhig stehen, zeig ihm keine Angst!«
Der Bär kam knurrend und schnaufend nähergetrottet. Lieschen fühlte sich mit einem Mal wie in einem Albtraum. Warum nur war keiner der starken Knechte in der Nähe? Sie hätten das große Tier mit ihren Mistforken in die Flucht geschlagen. Ja, zu Hause, zu Hause. Nur nicht an den Bären denken! Zitternd sah Lieschen geradeaus, fühlte, wie das große Tier an ihren Füßen schnüffelte, spürte den heißen, feuchten Atem. Würde es nun gleich seine Tatzen und Zähne in sie schlagen? Sie war einer Ohnmacht nahe. Plötzlich kam der Bär wieder in ihr Gesichtsfeld: Er richtete sich vor Hildegard auf! Dann legte er der Betschwester eine Pranke auf ihre Schulter. Was sollte Lieschen tun? Wie konnte sie der armen Nonne bloß helfen? Das ungeheure Gewicht des Tiers musste die zerbrechliche Frau jeden Augenblick umwerfen, und dann wäre es gewiss um sie geschehen! Hildegard tat derweil etwas völlig Unglaubliches: Sie grub ihre rechte Hand in das Fell hinter den Ohren des Bären. Er wandte ihr die Schnauze zu, und sie sah ihm in die Augen: Das Tier gab ein schauerlich kehliges Brummen von sich, welches Lieschen durch Mark und Bein ging. Es klang fast klagend und...
Erscheint lt. Verlag | 27.4.2023 |
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Reihe/Serie | Bedeutende Frauen, die die Welt verändern |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | Äbtissin • Bedeutende Frauen • Charlotte Jacobi • die die Welt verändern • feminismus buch • Frauenroman • frühe Feministin • Geschichtlich • Geschichtlicher Roman • Heilerin • Heilkunst • Hildegard von Bingen • Historischer Roman • Jörn Precht • Kloster • Kräutergarten • Kräuterheilkunde • Kräuterkunde • Medizingeschichte • Mittelalter-Roman • Naturheilkunde • Nonne • Romanbiografie • Starke Frauen Buch |
ISBN-10 | 3-492-60386-6 / 3492603866 |
ISBN-13 | 978-3-492-60386-7 / 9783492603867 |
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