Die Meisterin der Wachsfiguren (eBook)
320 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60390-4 (ISBN)
Anna-Luise Melle hat bereits als Grundschülerin so leidenschaftlich gedichtet, dass ihr die Lehrerin ein Heft für ihr »Frühwerk« geschenkt hat. Sie wurde 1974 in Saalfeld/Saale geboren und ging später zur Ausbildung nach Ansbach, wo sie neben der Liebe zur Literatur auch noch die zur Musik auslebte und Mitglied in einer Coverband wurde. Sie liebt das Reisen in nordische Länder. Zu England fühlt sie sich am meisten hingezogen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sie ein englisches Oldtimertaxi fährt.
Paris, 1778
Nach Voltaires Tod im Mai 1778 erlebte Curtius’ Ausstellung auf dem Jahrmarkt Saint-Laurent einen wahren Besucheransturm. Jeder kam, um das Abbild des großen Philosophen zu sehen. Da es die erste von Marie gefertigte Wachsfigur war, die sie nur wenige Monate vor seinem Tod modelliert hatte, wurde man auf sie aufmerksam. Es musste ja niemand erfahren, dass Voltaire während der Sitzung unter der Gipsmaske fast erstickt wäre. Bei einem Besuch der Ausstellung, wo Marie sich von der Begeisterung der Besucher überzeugen wollte, lernte sie Jean-Jacques Rousseau kennen. Er hatte nur darauf gewartet, von ihr gefragt zu werden, ob sie auch seine Büste modellieren wolle. Denn noch kurz vor seinem Tod hatte Voltaire erzählt, dass die junge Wachsbildnerin sehr anspruchsvoll in der Wahl ihrer Modelle sei.
Marie nahm Rousseaus Auftrag an. Für die Sitzung, bei der Maß genommen wurde, hatte er die Werkstatt besucht, und nun fuhr sie mit der Kutsche nach Ermenonville, um die frisch gefertigte Büste auszuliefern. Wie bei der von Voltaire hatte sie auch bei Rousseaus Büste für die Wachsmischung ein Quantum Zinnober verwendet, um der Haut die passende Farbe zu verleihen, und sie und Curtius waren sehr zufrieden mit dem Ergebnis.
Es war Sommer, und die Natur zeigte sich in ihrem bezauberndsten Kleid. Auf den Feldern, an denen Maries Kutsche vorbeiholperte, wendeten Bauern das Heu. Greifvögel zogen in luftiger Höhe ihre Kreise, Mückenschwärme tanzten im Sonnenlicht, und die Weizenfelder standen in üppiger Pracht. Feldlerchen zwitscherten. Als sie gegen Mittag am Hause von Monsieur Rousseau ankam, stand die Sonne im Zenit. Ein Dienstmädchen öffnete ihr und ließ sie an der Tür warten.
Wenig später kam Rousseau mit offenen Armen auf sie zu. Seine Verbeugung war knapp. »Sind Sie etwa gekommen, um mir die Büste zu überbringen? Ist sie schon fertig? Bitte, folgen Sie mir doch in den Garten, und erweisen Sie uns die Ehre, mit uns zu essen.« Plötzlich unterbrach er sich und sah Marie besorgt an. »Oh, ich rede und rede. Dabei ist die Kutschfahrt von Paris hierher lang und mühsam. Wollen Sie sich vielleicht erst ein wenig erfrischen? Ich gebe unserer Dienstmagd Adelais Bescheid, damit sie Ihnen das Gästezimmer zeigt. Aber natürlich hat mich die Neugier gepackt. Gestatten Sie mir, meine Liebe, vorher noch die Büste zu sehen.«
Marie hätte nicht gedacht, dass es auch Männer gab, die ohne Unterlass reden konnten. Sagte man diese Angewohnheit nicht eher den Frauen nach? Rousseau sprudelte noch mehr vor Begeisterung, als er die Büste sah. Er hatte bereits einen Platz im Haus gewählt, wo sie stehen sollte. Marie sah es als ihre Aufgabe, die Büste eigenhändig auf den dafür vorgesehenen Sockel zu stellen. Vorsichtig entfernte sie die Tücher, in die das Kunstwerk eingepackt war.
Während sie beschäftigt war, traf ein junger Mann ein, der auch zu Rousseau wollte und von ihm auf das Herzlichste empfangen wurde. Marie war auf ihre Arbeit konzentriert und hörte daher nicht, worüber sich die beiden unterhielten.
Wenig später kam Rousseau zusammen mit dem jungen Mann zu ihr. »Mademoiselle Marie, darf ich Ihnen Maximilien de Robespierre vorstellen, einen Freund und großen Anhänger meiner Literatur?«
Marie drehte sich um und überlegte ganz kurz, woher sie den jungen, gut aussehenden Mann mit dem Leberfleck über der Lippe kannte. Auch er schien sich zu fragen, wo sie sich schon einmal begegnet sein könnten, doch ihr fiel es schneller ein. Es war der freche junge Mann von der Île de la Cité, der im Gras gelegen hatte und ihr aufgefallen war. Diesmal machte er allerdings keinerlei Anstalten, sie unverschämt anzusprechen.
Marie kam Rousseaus Bitte nach, zum Essen zu bleiben, und so lernte sie nicht nur seine Ehefrau Thérèse, sondern auch den jungen Anwalt Robespierre kennen, der Rousseau regelmäßig besuchte, um mit ihm zu philosophieren. Das Verhältnis zwischen den beiden erinnerte an das von Vater und Sohn und schien auf gegenseitiger Wertschätzung gegründet zu sein. Heute allerdings war Marie diejenige, die Robespierres Interesse auf sich zog und damit die allgemeine Aufmerksamkeit von Rousseaus Plaudereien ablenkte. Während Voltaire sich bei seiner Sitzung fast nur nach familiären Angelegenheiten erkundigt hatte, interessierte sich Rousseau für ihr Handwerk. Als sie von Monsieur Robespierre gefragt wurde, ob sie einen Spaziergang mit ihm machen wolle, wurde die Dienstmagd geholt, die die beiden in sicherem Abstand begleiten sollte.
Robespierre führte Marie durch einen Park mit jungen Bäumen und einem See. Sie war begeistert von der Anlage, die ihr wie eine Liebeserklärung an die Natur vorkam.
»Der See ist künstlich angelegt«, erklärte Robespierre. »Das wollten Sie doch sicher wissen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil man in Ihrem Gesicht lesen kann wie in einem Buch. In einem sehr hübschen Buch, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.«
»Und was lesen Sie sonst noch darin?«
»Nun, dass Sie sich fragen, wie alt die Bäume sein mögen.«
»Das interessiert mich in der Tat.«
»Als der Marquis von einem Aufenthalt in England zurückkam, begann er, diesen Park im Stile eines englischen Gartens zu gestalten. Dafür holte er eigens zweihundert Engländer und einen schottischen Gärtner hierher. Die vielen Bäumchen, die unseren Weg säumen, sind junge Pappeln.«
»Welcher Marquis?«
»Marquis René Louis de Girardin, dem das Schloss Ermenonville gehört. Er hat Monsieur Rousseau und seine Frau hierher eingeladen und ihnen ein Haus zur Verfügung gestellt. Sie sind seine Gäste.«
»Wie kommt es, dass Sie mit Monsieur Rousseau so eng befreundet sind? Ist er nicht viel zu alt für Sie?«
»Das mag schon sein«, entgegnete Robespierre lächelnd. »Aber ich schätze seine Werke. Sie sind von einer erstaunlichen Kraft und Ehrlichkeit. Er ruft darin zu Veränderungen auf und fordert, dass die staatliche Gewalt vom Volk ausgeht. Ich verehre ihn sehr und finde es bedauerlich, dass Philosophen wie er zum Teil geächtet und vertrieben werden. Doch glücklicherweise gibt es auch in Adelskreisen durchaus Menschen mit einem offenen Blick für unaufhaltsame Veränderungen, wie etwa den Prinzen de Conti.«
Abrupt blieb Marie stehen und sah ihn irritiert an. »Der Prinz de Conti?«
Marie hatte diesen Mann seit ihrer Kindheit in der Werkstatt von Onkel Philippe ein und aus gehen sehen. Jedes Mal, wenn er kam, verschwand er mit Curtius in einem kleinen Zimmer hinter der Werkstatt und ließ, wenn er wieder ging, einen dicken Beutel mit Münzen generös auf die Werkbank fallen.
»Kennen Sie ihn etwa auch?«, wollte Robespierre wissen.
»Nicht persönlich. Und woher kennen Sie ihn?«
»Ich kenne ihn auch nicht persönlich, aber ich weiß, dass er nicht nur ein Kunstliebhaber ist, sondern auch ein großer Förderer und Beschützer von Rousseau, daher schätze ich ihn. Rousseau hat ihm viel zu verdanken.«
»Bitte entschuldigen Sie mich, ich habe Sie unterbrochen. Sie wollten mir eigentlich von Ihrer Freundschaft mit Rousseau erzählen.«
»Nachdem ich ein paar seiner Bücher gelesen hatte, wollte ich diesen großartigen Schriftsteller unbedingt kennenlernen, und schon nach unserer ersten Begegnung fühlte ich eine starke Verbundenheit auf literarischer Ebene. Seine Romane sind von einer Philosophie geprägt, die ich politisch durchaus befürworte.«
»Sind Sie denn oft hier, da Sie sich so gut auskennen?«
»Nun, ich versuche zumindest, ihn regelmäßig zu besuchen. Doch jetzt möchte ich als examinierter Anwalt zurück in meinen Heimatort Arras, und so werden die Besuche wohl leider seltener werden.«
Beim Gehen hielt sich Robespierre die ganze Zeit sehr aufrecht und hatte dabei die Hände auf dem Rücken verschränkt. Marie genoss die Konversation mit diesem gut aussehenden und klugen Mann.
»Doch nun spannen Sie mich bitte nicht länger auf die Folter«, sagte er schließlich. »Kann es sein, dass wir uns schon einmal begegnet sind?«
»Ja, das sind wir.«
»Bitte verzeihen Sie mir diese Unaufmerksamkeit, aber ich kann mich beim besten Willen nicht entsinnen, wo wir uns kennengelernt haben.«
»Wir haben uns nicht kennengelernt, weil Sie das nicht wollten.«
...Erscheint lt. Verlag | 23.2.2023 |
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Reihe/Serie | Bedeutende Frauen, die die Welt verändern |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | Bedeutende Frauen • Bedeutende Frauen, die die Welt verändern • die die Welt verändern • Gefühle • Geschichte von Madame Tussaud • Künstlerinnenroman • Leben von Madame Tussaud • Liebesgeschichte • Liebesroman • Madame Tussaud • Marie Antoinette • Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe • nach einer wahren Begebeheit • Nach einer wahren Geschichte • realer Hintergrund • Romanbiografie • Roman Französische Revolution • Roman Künstlerin • Roman Madame Tussaud • Roman Paris • Schicksal • Starke Frauen • Tussaud Museum • Versailles • Wachsfiguren • Wachsfigurenkabinett |
ISBN-10 | 3-492-60390-4 / 3492603904 |
ISBN-13 | 978-3-492-60390-4 / 9783492603904 |
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