Gryf strich mit den Fingerspitzen über die bemalte Felswand. Er pfiff leise, als er erkannte, was auf den Darstellungen zu sehen war.
»Na, das wird den Professor interessieren«, murmelte der Vampirjäger und ließ den Lichtkegel der Taschenlampe langsam über die Höhlenwände gleiten, bis sich das Licht in den langen Gängen verlor.
Gryf spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Für einen Moment glaubte er, etwas Mächtiges und Uraltes in der Dunkelheit zu sehen, aber dann war der Eindruck bereits wieder verschwunden.
Jetzt fange ich auch schon an, Gespenster zu sehen, dachte er irritiert und verschwand im zeitlosen Sprung aus der Höhle. Er hatte etwas gefunden, das er Moronthor unbedingt zeigen mußte.
Zurück blieb nur die Dunkelheit - und die Stimmen, die einander zuflüsterten.
»Wenn er zurückkehrt, werden wir vorbereitet sein«, zischten sie.
»Bitte schön«, sagte Sir Rhett höflich und reichte Moronthor das Amulett. Der Dämonenjäger nahm es dankend entgegen, während Lady Patricia ihren kleinen Sohn in ein Frotteehandtuch wickelte.
»Das hast du gut gemacht«, lobte sie ihn. »Aus dir wird noch mal ein richtiger Taucher.«
»So wie in Flipper?«
Moronthor lächelte. Gemeinsam mit den meisten Bewohnern von Château Aranaque hatte er es sich an diesem ersten wirklich warmen Frühlingstag auf der großen Sonnenterrasse neben dem Swimming-Pool bequem gemacht. Nur seine Lebensgefährtin Nicandra war, nachdem sie sich im Pool ausgetobt hatte, ins Innere des Châteaus verschwunden, um zu duschen. Moronthor hatte kurz darüber nachgedacht, ihr bei dieser Aufgabe ein wenig zu helfen, aber da hatte Lady Patricias Sohn Rhett ihn bereits zum offiziellen Werfer bei seinem Tauchunterfangen ernannt. Der Junge hatte es sich nämlich in den Kopf gesetzt, einige Szenen aus seiner Lieblings-TV-Serie Flipper nachzuspielen - mit sich selbst in der Rolle des Delphins.
Nach minutenlangem Betteln hatte Rhett sich schließlich bei seiner Mutter durchgesetzt. Der geeignete Schatz, den er aus den wilden Fluten des Swimming-Pools bergen wollte, war auch schnell gefunden: Das Amulett des Dämonenjägers, in dessen Château er und seine Mutter seit einigen Jahren wohnten. Diese magische, handtellergroße Metallscheibe, die voller seltsamer Hieroglyphen war, faszinierte den Jungen ohnehin. Er wußte, daß es sich dabei um eine mächtige Waffe handelte, die schützen, aber auch zerstören konnte. Ihm konnte sie jedoch nichts anhaben, denn sie wirkte nur gegen schwarzmagische Wesen, nicht gegen Menschen.
Der perfekte Schatz.
Moronthor hatte sich zwar anfangs gesträubt, ließ sich dann aber doch breitschlagen. Schließlich war es völlig ungefährlich. Selbst wenn der Junge Merlins Stern nicht aus dem Wasser holte, konnte er die magische Waffe einfach wieder zu sich rufen. Also warf der Dämonenjäger das Amulett samt Kette in den Pool, aus dem Rhett es mit erstaunlicher Schnelligkeit zurückholte.
Was würde Merlin wohl dazu sagen? dachte Moronthor amüsiert. Das Amulett, das der weise alte Zauberer einst aus der Kraft einer entarteten Sonne geschaffen hatte, zum Spielzeug eines Kindes degeneriert. Er zuckte mit den Schultern. Immerhin hatte Rhett Spaß daran und Merlin mußte ja nicht alles erfahren.
»Jetzt bin ich dran«, meldete sich eine Stimme vom anderen Ende des Pools.
Moronthor sah hinüber und seufzte. Fooly, der knapp 1,20 Meter große Drache und beste Freund von Sir Rhett, hatte sich bis an den Rand des Beckens vorgewagt und lehnte sich sprungbereit vor. Er hatte den Jungen bei seinem Manöver beobachtet und mußte sich natürlich jetzt in kindlicher Rivalität der gleichen Herausforderung stellen.
»Ich halte das für keine gute Idee«, entgegnete der Dämonenjäger zweifelnd. »Können Drachen überhaupt tauchen?«
Bevor Fooly antworten konnte, mischte sich Rhett ein. »Natürlich können sie das. Fooly hat mir selbst erzählt, wie die Drachen in seiner Heimat ihre Nahrung aus dem Meer holen und selbst bei schweren Stürmen nicht ertrinken. Er hat gesagt, Drachen tauchen so gut wie Delphine.«
»Genau«, stimmte Fooly zu, aber Moronthor hörte keinen Enthusiasmus in seiner Stimme. Anscheinend hatte der Drache Rhetts Begeisterung für Flipper ein wenig dämpfen wollen, indem er die Vorzüge seiner eigenen Art hervorhob. Nur war er jetzt in der schwierigen Lage, seine Worte beweisen zu müssen, ob er das konnte oder nicht.
Moronthor räusperte sich. »Ich glaube, was Fooly sagen wollte, ist, daß erwachsene Drachen, die etwas… stromlinienförmiger aussehen, sehr gute Taucher sind. Junge Drachen, so wie er, müssen erst noch… in die Höhe und nicht in die Breite wachsen, bis sie das können. Und das dauert möglicherweise noch ein paar Jahre, richtig, kleiner Freund?«
Fooly zögerte. Er begriff, daß Moronthor ihm eine elegante Möglichkeit bot, aus der Sache herauszukommen und dafür war er ihm dankbar, aber gleichzeitig wollte er Rhett beweisen, daß ein Drache ein besserer Spielkamerad als ein Delphin war, egal, was die in Flipper behaupteten. Es störte den kleinen Drachen einfach, daß Rhetts Zimmer mittlerweile so vollgestopft mit Delphin-Postern und Delphin-Figuren war, daß es wie das Hauptquartier eines Greenpeace-Aktivisten aussah.
Fooly konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als Rhett mit seiner Mutter in der Stadt gewesen war und eine Gipsfigur des heiligen Georg sah, der gerade den Drachen erschlug. Der Junge hatte so lange geschrien, bis die entnervte Lady Patricia die Figur kaufte, Georg abbrach und ihn in einem Mülleimer verschwinden ließ. Der »überlebende« Drache blieb allein vor seiner Höhle zurück. Rhett war daraufhin sofort zu Fooly gerannt und hatte ihm erzählt, wie er einen seiner Artgenossen vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Seitdem stand die Figur des Drachen, vor dessen aufgerissenem Maul sich nur noch die Füße des Drachentöters befanden, direkt neben Rhetts Bett - zumindest bis vor einer Woche, als sie auf das Regal verbannt und von einem blauen Plastik-Delphin abgelöst wurde.
Wäre Fooly ein wenig älter gewesen, hätte er verstanden, daß sein bester Freund nur eine Phase seiner Kindheit durchlief, die mit ihrer Freundschaft nichts zu tun hatte. Aber er war nicht älter und entschied deshalb, daß die Grenze des Erträglichen erreichtwar.
Genug ist genug, dachte der Drache und hob den Kopf. »Wirf das Amulett«, sagte er mit übertriebenem Ernst.
Moronthor warf ihm einen kurzen Blick zu. Er erahnte, welche Gedanken Fooly beschäftigten, glaubte jedoch nicht, daß diese Demonstration Rhetts Vorliebe für Meeressäuger bremsen würde. Jedoch hatte auch Fooly ein Recht darauf, seine eigenen Fehler zu machen, und wenn er es so wollte…
Der Dämonenjäger holte weit aus und warf das Amulett. Es flog in hohem Bogen auf den Pool zu. Kurz blinkte es in der strahlenden Mittagssonne auf, dann versank es auch schon im Wasser, wurde vom Widerstand gebremst und blieb schließlich in 2,5 Meter Tiefe auf dem blau gekachelten Boden liegen.
Fooly betrachtete das Amulett einen Augenblick, als hoffe er, es würde von selbst wieder nach oben kommen. Dann trat er einige Schritte zurück, duckte sich und rannte mit seinen übergroßen Füßen auf den Rand des Pools zu.
Oh nein, dachte Moronthor, das kann nicht gut gehen.
Womit er recht hatte, denn kurz vor dem Rand des Pools verfing der Drache sich in seinen eigenen Krallen, schlug der Länge nach hin, rutschte die letzten Zentimeter auf dem Bauch und prallte granatengleich auf dem Wasser auf. Wie in einem Déjà vu sah der Dämonenjäger, was als nächstes passieren würde. Der physikalische Vorgang der Wasserverdrängung setzte ein. Eine Fontäne wurde in die Luft geschleudert und verschaffte allen Umstehenden eine ungewollte Erfrischung. Gleichzeitig schlugen die plötzlichen Wellen über den Beckenrand hinweg und ergossen sich über den Boden bis zur Tür, die ins Innere des Gebäudes führte.
Im Swimming-Pool strampelte Fooly wie wild mit den Füßen und versuchte seinen tonnenförmigen Körper in eine tauchbereite Position zu zwingen. Damit erreichte er jedoch nur, daß er wie ein Korken auf dem Wasser dahindümpelte.
Neben Moronthor warf sich Rhett auf einen der Liegestühle und hielt sich den Bauch vor Lachen. Seine Mutter, die ebenso wie der Dämonenjäger Foolys verletzten Blick bemerkte, versuchte, ihren Sohn zu beruhigen, aber der begriff nicht, daß sein Freund sich gerade bis auf die Knochen blamiert hatte, sondern genoß nur die Komik der Situation.
»Was ist denn hier los?« fragte jemand im gleichen Moment.
Moronthor drehte sich überrascht um.
»Gryf, was machst du denn hier?« entgegnete er mit einer Gegenfrage, schüttelte sich das Wasser aus den Haaren und reichte seinem alten Freund zur Begrüßung die Hand.
Der Druide zuckte mit den Schultern.
»Ich hab’ was gefunden, was dich interessieren wird.«
Ohne ein weiteres Wort ergriff er Moronthors Hand und riß ihn in den zeitlosen Sprung.
Auf dem Boden des...