Das Meer der endlosen Ruhe (eBook)

Roman | Der neue große Roman der New York Times-Bestsellerautorin
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2023 | 1. Auflage
288 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2908-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Meer der endlosen Ruhe -  Emily St. John Mandel
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Werden wir die Erde vermissen? Die Menschheit kommt nicht zur Ruhe. 1912 wird Edwin St. Andrew, Adelsspross aus England mit einer ketzerischen Haltung zum britischen Imperialismus, in die britische Kolonie Kanada exiliert und sucht dort sein Glück. 2203 bricht die berühmte Schriftstellerin Olive Llewellyn eine weltweite Lesereise ab, um zurück zu ihrer Familie auf den nun kolonialisierten Mond zu fliegen, als erste Meldungen über eine Pandemie laut werden. 2401, es gibt inzwischen Kolonien auf den Monden des Saturns, soll Gaspery-Jacques Roberts durch die Zeit reisen, um einer Anomalie nachzugehen, die vermuten lässt, dass die gesamte Geschichte der Menschheit nichts weiter ist als eine Simulation.  Mit erzählerischer Brillanz und Leichtigkeit verwebt Emily St. John Mandel so große Themen wie die Kolonialisierung der Erde und des Weltraums, Pandemie und Technologie zu einem organischen Ganzen. Ein Roman, der ebenso lustvoll zu lesen ist wie er zum Nachdenken - auch und insbesondere über unsere Gegenwart - anregt. 

Emily St. John Mandel ist die Autorin von sechs Romanen, zuletzt Das Meer der endlosen Ruhe. Zu ihren früheren Romanen gehören Das Glashotel, das von Präsident Barack Obama zu einem seiner Lieblingsbücher des Jahres 2020 gewählt wurde, auf der Shortlist für den Scotiabank Giller Prize stand und in 23 Sprachen übersetzt wurde, und Station Eleven, das in die Endauswahl für den National Book Award und den PEN/Faulkner Award kam, 2015 unter anderem mit dem Arthur C. Clarke Award ausgezeichnet wurde, in 36 Sprachen übersetzt ist und als limitierte Serie von HBO Max ausgestrahlt wurde. Sie lebt in New York City.

Zu den fünf früheren Romanen von Emily St. John Mandel gehören Das Glashotel und Station Eleven, das in die Endauswahl für den National Book Award und den PEN/Faulkner Award for Fiction kam, in sechsunddreißig Sprachen übersetzt wurde und die Grundlage für die gleichnamige Serie von HBO Max ist. Sie lebt in New York City.

4


Die letzte Dinnerparty begann durchaus reibungslos, Ärger kam erst auf, als sich das Gespräch wie immer und jedes Mal der unvorstellbaren Pracht Britisch-Indiens zuwandte. Edwins Eltern waren auf dem Subkontinent geboren worden, Indien-Babys, englische Kinder, erzogen von indischen Kindermädchen – »Wenn ich mir auch nur noch ein Wort über ihre gottverdammte Ayah anhören muss«, hatte Edwins Bruder Gilbert einmal gebrummelt, den Satz aber nie beendet – und mit Geschichten über ein fernes Großbritannien aufgewachsen, das sie, wie Edwin unterstellte, ein wenig enttäuschend fanden, als sie es mit Anfang zwanzig zum ersten Mal mit eigenen Augen sahen. (»Mehr Regen als gedacht«, war alles, was Edwins Vater dazu sagte.)

Es war noch eine weitere Familie bei dieser letzten Dinnerparty zugegen, die Barretts, ähnlicher Hintergrund: John Barrett war Kommandant der Royal Navy gewesen, und Clara, seine Frau, hatte ihre ersten Jahre ebenfalls in Indien verbracht. Sie wurden von Andrew begleitet, ihrem ältesten Sohn. Den Barretts war durchaus bekannt, dass Britisch-Indien bei einem Abend mit Edwins Mutter zu den unvermeidlichen Themen gehörte, als alte Freunde wussten sie aber auch, dass sich das Gespräch gewiss anderem zuwendete, sobald sich Abigail Britisch-Indien von der Seele geredet hatte.

»Wisst ihr, ich muss oft daran denken, wie schön Britisch-Indien war«, sagte die Mutter. »Diese Farben, wirklich erstaunlich.«

»Die Hitze aber war doch recht bedrückend«, erwiderte Edwins Vater. »Jedenfalls gehört sie zu dem, was ich nicht vermisse, seit wir hergezogen sind.«

»Ach, so schrecklich bedrückend fand ich die eigentlich nie.« Edwins Mutter hatte diesen entrückten Ausdruck im Gesicht, ihre Britisch-Indien-Miene, wie Edwin und seine Brüder sie nur nannten. Abigail verströmte dann eine gewisse Vagheit, die verriet, dass sie nicht länger unter ihnen weilte; vermutlich ritt sie auf einem Elefanten, schlenderte durch einen Garten mit tropisch-üppiger Blumenpracht, bekam Gurken-Sandwiches von ihrer gottverdammten Ayah serviert oder weiß der Himmel was.

»Die Einheimischen wohl auch nicht«, wandte Gilbert sanft ein, »ich schätze, das Klima dort ist eben nichts für jeden.«

Was veranlasste Edwin, in eben diesem Moment den Mund aufzumachen? Noch Jahre später fragte er sich das, im Krieg, im Todesgrauen und der Langeweile der Schützengräben. Manchmal weiß man erst, dass man eine Granate werfen wird, wenn man den Sicherungsstift bereits gezogen hat.

»Es deutet vieles darauf hin, dass sie die Briten weitaus bedrückender als die Hitze finden«, sagte Edwin. Er warf einen Blick hinüber zu seinem Vater, doch der wirkte wie erstarrt, das Glas auf halbem Weg zwischen Tisch und Mund.

»Darling«, sagte seine Mutter, »was um alles in der Welt soll denn das bedeuten?«

»Sie wollen uns dort nicht«, sagte Edwin. Er sah sich am Tisch um, sah die stumm starrenden Gesichter. »Fürchte, da gibt es nicht viel zu deuteln.« Mit Verwunderung lauschte er der eigenen Stimme, die von weit her zu kommen schien. Gilbert fiel die Kinnlade herunter.

»Junger Mann«, sagte sein Vater, »wir haben diesen Leuten nur ein wenig Zivilisation gebracht …«

»Und doch drängt sich der Eindruck auf«, erwiderte Edwin, »dass sie im Großen und Ganzen wohl ihre eigene vorgezogen hätten. Ihre eigene Zivilisation, meine ich. Sind ja auch eine Weile gut ohne uns zurechtgekommen, nicht wahr? Mehrere Tausend Jahre sogar.« Ihm war, als läge er gefesselt auf dem Dach eines dahinrasenden Zuges! Eigentlich wusste er nur wenig über Indien, erinnerte sich aber daran, wie schockierend er als Junge Berichte über den Aufstand von 1857 gefunden hatte. »Will uns denn irgendwer irgendwo?«, hörte er sich fragen. »Wie können wir nur glauben, dass uns diese weit entfernten Länder gehören?«

»Weil wir sie erobert haben, Eddie«, sagte Gilbert nach kurzem Schweigen. »Man darf annehmen, dass auch die Eingeborenen Englands vor zweiundzwanzig Generationen nicht einhellig von der Ankunft unseres Urururgroßvaters begeistert waren, aber nun, die Geschichte gehört nun mal den Siegern.«

»Wilhelm der Eroberer, das war vor tausend Jahren, Bert. Wir bemühen uns doch gewiss, ein wenig zivilisierter als dieser irrsinnige Enkel eines brandschatzenden Wikingers aufzutreten, nicht wahr?«

Edwin hörte auf zu reden. Alle am Tisch starrten ihn an.

»›Dieser irrsinnige Enkel eines brandschatzenden Wi­kingers‹«, wiederholte Gilbert leise.

»Man muss allerdings, denke ich, dankbar dafür sein, dass wir eine christliche Nation sind«, sagte Edwin. »Man stelle sich nur vor, was für ein Blutbad wir in den Kolonien angerichtet hätten, wenn wir keine Christen wären.«

»Bist du ein Atheist, Edwin?«, wollte Andrew Barrett wissen und schien ehrlich interessiert.

»Ich weiß nicht so genau, was ich bin«, erwiderte Edwin.

Die Stille, die darauf folgte, war womöglich die unangenehmste Stille, die Edwin in seinem Leben je zu erdulden hatte, dann aber ergriff sein Vater das Wort, sehr leise. Wenn Edwins Vater wütend war, besaß er die Eigenart, mit einem Halbsatz zu beginnen, der die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. »Jeder Vorteil, den du in diesem Leben hattest«, sagte sein Vater. Alle schauten ihn an. Wie für ihn typisch hob er aufs Neue an, nur ein wenig lauter und mit tödlicher Besonnenheit: »Jeder Vorteil, den du in diesem Leben genossen hast, Edwin, geht in der einen oder anderen Weise auf die Tatsache zurück, dass du von ihm abstammst, diesem, wie du es so eloquent formuliert hast, irrsinnigen Enkel eines brandschatzenden Wikingers

»Natürlich«, sagte Edwin. »Es hätte ja um so vieles schlimmer kommen können.« Er hob das Glas. »Auf Wilhelm, den Bastard.«

Gilbert entfuhr ein nervöses Lachen. Niemand sonst gab einen Laut von sich.

»Ich muss mich entschuldigen«, sagte Edwins Vater an die Gäste gewandt. »Dem äußeren Anschein nach könnte man meinen jüngsten Sohn durchaus für einen erwachsenen Menschen halten, aber wie es scheint, ist er noch ein Kind. Auf dein Zimmer, Edwin. Für den heutigen Abend haben wir mehr als genug von deiner Anwesenheit.«

Edwin erhob sich formvollendet vom Tisch und sagte: »Ich wünsche allerseits eine gute Nacht«, ging zur Küche, um sich ein Sandwich aufs Zimmer bringen zu lassen – der Hauptgang war noch nicht aufgetragen worden –, und zog sich zurück, um sein Urteil zu erwarten. Es kam kurz vor Mitternacht und kündigte sich mit einem Klopfen an der Tür an.

»Herein«, sagte er. Er hatte am Fenster gestanden und gereizt einen vom Wind geschüttelten Baum betrachtet.

Gilbert trat ein, zog die Tür zu und drapierte sich in den alten, fleckigen Lehnstuhl, der zu Edwins geschätztesten Besitztümern gehörte.

»Was für eine Vorstellung, Eddie.«

»Ich habe keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe«, sagte Edwin. »Aber nein, das stimmt nicht. Ich weiß es sehr wohl und bin mir absolut sicher, dass ich mir rein gar nichts dabei gedacht habe. Da war eine Leere in meinem Kopf.«

»Geht es dir nicht gut?«

»Ach was, mir ist es nie besser gegangen.«

»Muss ziemlich aufregend gewesen sein«, sagte Gilbert.

»Ehrlich gesagt, das war es. Ich kann nicht behaupten, dass ich es bedaure.«

Gilbert lächelte. »Du wirst nach Kanada fahren«, sagte er sanft. »Vater trifft die entsprechenden Vorbereitungen.«

»War doch schon lange klar, dass ich nach Kanada fahre«, sagte Edwin. »Geplant ist die Reise für nächstes Jahr.«

»Nun wird sie wohl etwas früher beginnen.«

»Um wie vieles früher, Bert?«

»Nächste Woche.«

Edwin nickte. Ihn überkam ein leichtes Schwindelgefühl. Die Atmosphäre im Zimmer hatte sich unmerklich verändert. Er würde in eine unfassbare Welt aufbrechen, und dieses Zimmer wich bereits in die Vergangenheit zurück. »Nun gut«, sagte Edwin nach einem Moment, »wenigstens werde ich nicht mit Niall auf ein und demselben Kontinent sein.«

»Und schon geht’s wieder los«, sagte Gilbert. »Sagst du eigentlich immer, was dir gerade in den Kopf kommt?«

»Sehr empfehlenswert.«

»Weißt du, wir können nicht alle so leichtsinnig sein. Manche von uns tragen Verantwortung.«

»Womit du einen Titel meinst und das Erbe dieses Anwesens«, sagte Edwin. »Was für ein grässliches Schicksal. Ich werde später noch um dich weinen. Erhalte ich dieselbe monatliche Zuwendung wie Niall?«

»Ein bisschen mehr. Nialls ist ja nur als zusätzliche Unterstützung gedacht. Deine aber ist an eine Bedingung geknüpft.«

»Die da wäre?«

»Du darfst eine Weile nicht nach England zurück«, sagte Gilbert.

»Exil«, sagte Edwin.

»Ach, sei nicht so...

Erscheint lt. Verlag 27.7.2023
Übersetzer Bernhard Robben
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte All • Amerika • Anomalie • Apokalypse • Autofiktion • Bestseller • Corona • Exil • Familie • Klimawandel • Kolonialismus • Mond • New York Times • Pandemie • Realität • Simulation • station eleven • Universum • Welt • Zeit • Zeitreisen • Zukunft
ISBN-10 3-8437-2908-5 / 3843729085
ISBN-13 978-3-8437-2908-6 / 9783843729086
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