Mütter, Väter und Täter (eBook)

Essays | 'Die Virginia Woolf des 21. Jahrhunderts.' Literary Review

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2023 | 1. Auflage
448 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01178-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mütter, Väter und Täter -  Siri Hustvedt
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Siri Hustvedts Themen in dieser neuen, sehr persönlichen Sammlung von erstaunlichen Essays reichen von der Natur von Erinnerung und Zeit bis zu dem, was wir von unseren Eltern erben, und sie erweitern ihre bekannten Forschungsgebiete: Feminismus, Psychoanalyse, Neurowissenschaften, die Kunst, das Denken und das Schreiben. An lebendig erzählten Beispielen aus ihrer privaten Familiengeschichte und Lebenserfahrung zeigt Hustvedt, wie porös die Grenzen zwischen uns und den anderen, zwischen Kunst und Betrachter, zwischen dem Ich und der Welt sind. Und so privat diese abwechslungsreiche Reise durch die unterschiedlichsten Themenfelder erscheint, so universell ist sie letztlich - ein vorläufiges Fazit von Siri Hustvedts lebenslanger Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir funktionieren und was uns als Menschen zusammenhält.

Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte Literatur an der Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Bislang hat sie sieben Romane publiziert. Mit «Was ich liebte» hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Zuletzt erschienen «Die gleißende Welt» und «Damals». Zugleich ist sie eine profilierte Essayistin. Bei Rowohlt liegen von ihr die Essaybände «Nicht hier, nicht dort», «Leben, Denken, Schauen», «Being a Man», «Die Illusion der Gewissheit»  und «Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen» vor.

Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte Literatur an der Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Bislang hat sie sieben Romane publiziert. Mit «Was ich liebte» hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Zuletzt erschienen «Die gleißende Welt» und «Damals». Zugleich ist sie eine profilierte Essayistin. Bei Rowohlt liegen von ihr die Essaybände «Nicht hier, nicht dort», «Leben, Denken, Schauen», «Being a Man», «Die Illusion der Gewissheit»  und «Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen» vor. Grete Osterwald, geboren 1947, lebt als freie Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen in Frankfurt am Main. Sie wurde für ihre Arbeit mehrmals ausgezeichnet, zuletzt 2017 mit dem Jane Scatcherd-Preis. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen und Autoren zählen Siri Hustvedt, Alfred Jarry, Anka Muhlstein, Jacques Chessex sowie Nicole Krauss, Jeffrey Eugenides und Elliot Perlman. Uli Aumüller übersetzt u. a. Siri Hustvedt, Jeffrey Eugenides, Jean Paul Sartre, Albert Camus und Milan Kundera. Für ihre Übersetzungen erhielt sie den Paul-Celan-Preis und den Jane-Scatcherd-Preis.

Tillie


Meine Großmutter väterlicherseits war grantig, dick und furchterregend. Sie hatte ein gackerndes Lachen, brütete aus nur ihr bekannten Gründen vor sich hin, blaffte ihre mitunter bedenklichen Meinungen heraus und sprach einen für mich unverständlichen norwegischen Dialekt. Obwohl in den Vereinigten Staaten geboren, lernte sie nie das englische «th» und nahm stattdessen mit einem einfachen «t» vorlieb, weswegen sie von «tings», «tunderstorms» und «Tanksgiving» sprach. In meiner Kindheit war ihr Haar voll und weiß, und lose hing es ihr fast bis zur Taille. Bevor ich sie kannte, war es kastanienbraun gewesen. Mit den Jahren wurde es dünner, aber ich erinnere mich an meine Ehrfurcht, wenn ich es offen sah. Das geschah nur abends, wenn sie vor dem trüben Spiegel in dem winzigen, muffigen, schimmeligen Schlafzimmer der Farm, auf der sie mit meinem Großvater wohnte, ihren Knoten gelöst hatte. Er hatte sein eigenes, noch kleineres Zimmer oben unterm Dach, gleich neben der schmalen Treppe, in einem Stockwerk, das wir selten betreten durften. Sobald das Haar herabhing und sie ihr Nachthemd anhatte, nahm meine Großmutter ihre Zähne heraus und legte sie in ein Glas am Bett, eine Handlung, die meine Schwester Liv und mich faszinierte, weil wir keine Körperteile hatten, die nachts herausgenommen und morgens wieder eingesetzt werden konnten.

Die entnehmbaren Zähne waren jedoch nur ein Teil eines ganz und gar fabelhaften, wenn auch manchmal einschüchternden Wesens. Unsere Großmutter schälte Kartoffeln mit einem Schälmesser in, wie mir schien, Lichtgeschwindigkeit, schleppte Scheite von dem Holzstoß am Haus heran und riss mit einem einzigen Ruck, stark wie ein Mann, die schwere Tür des Rübenkellers hoch, ehe sie uns in den kalten, feuchten Raum hinunterführte, wo Eingemachtes in Gläsern auf Regalen vor Erdwänden stand. Es war ein Ort, der nach Grab roch, ein Gedanke, der mir damals gekommen sein mag oder auch nicht, aber der Ausflug war immer mit einem Hauch von Bedrohlichkeit verbunden – von der Fantasie, ich würde bei den Einmachgläsern und den Schlangen und Gespenstern in der Finsternis zurückgelassen.

Sie war die einzige Erwachsene, die wir kannten, die gern Kacka-Witze erzählte. Bei unseren Aa-Späßen bog sie sich vor Lachen, als wäre sie selbst ein Kind, und wenn sie guter Laune war, erzählte sie uns Geschichten aus der lang vergangenen Zeit ihrer eigenen Kindheit, wie sie Überschlag und Radschlagen und auf einem Drahtseil balancieren gelernt hatte und wie sie und ihr Bruder Segel auf ihren Schlitten anbrachten und pfeilschnell über den zugefrorenen See in der Nähe der Farm, wo sie aufwuchs, getrieben wurden. Bevor wir «zu Besuch» gingen – Worte, die anzeigten, dass wir gleich in den alten Ford steigen und verschiedene Nachbarn aufsuchen würden –, setzte Großmutter ihren Strohhut mit den Blumen auf, der an einem Haken innen an der Haustür hing, griff sich ihre schwarze Handtasche mit dem goldenen Verschluss, in der ihre kleine Münzgeldbörse steckte, und los ging’s.

Meine Großmutter starb mit achtundneunzig. Eine Zeit lang war sie ein Geist in meinem Leben, doch seit Kurzem ist sie als Bild vor meinem geistigen Auge zurückgekehrt. Ich sehe Matilda Underdahl Hustvedt mit zwei schweren Eimern Wasser auf mich zukommen. Hinter ihr ist die rostige Handpumpe, die heute noch auf dem Hof steht, und hinter der Pumpe sind die Steine, die einst das Fundament der alten, lange vor meiner Geburt abgerissenen Scheune waren. Es ist Sommer. Ich sehe den vorne geknöpften Hauskittel meiner Großmutter. Ich sehe ihre Hängebrüste, ihren mächtigen Körper und die dicken Beine. Ich sehe das lockere Fleisch unter ihren Armen wabbeln, während sie mit den emaillierten Eimern an gestreckten Armen geht, und ich sehe ihre rot geränderten durchdringenden Augen hinter den Brillengläsern. Ich spüre die Sonne und den heißen Wind, der über das wogende Tiefland des ländlichen Minnesota weht. Ich sehe einen unermesslichen Himmel und den von Feldgehölzen unterbrochenen weiten, leeren Horizont. Das Erinnerungsbild wird von einer Mischung aus Zufriedenheit und Schmerz begleitet.

Tillie, ihre Freunde nannten sie Tillie, wurde 1887 als Tochter eines eingewanderten Vaters, Søren Hansen Underdahl, und Sørens zweiter Frau Øystina Monsdattar Stondal geboren, die wohl auch Immigrantin war, doch mein Vater erwähnt dies nicht in der Familiengeschichte, die er für uns schrieb, daher kann ich nichts darüber berichten. Jedenfalls war Øystinas Vater wohlhabend und hinterließ jeder seiner drei Töchter einen Hof. Tillie wuchs auf dem Besitztum ihrer Mutter im Ottertail County, Minnesota, auf, in der Nähe der Stadt Dalton. Als Tillie acht war, starb ihre Mutter. Eine Geschichte, die meine Großmutter uns über die achtjährige Tillie erzählte, die die Schwester meines Vaters, Tante Erna, uns erzählte und die auch meine Mutter uns erzählte, erlangte den Status einer Familienlegende. Nach Øystinas Tod suchte der Pastor des Ortes die Familie auf, um zu tun, was lutherische Pastoren so an den Leichnamen Verstorbener taten. Bevor er das Anwesen verließ, verkündete er allen Anwesenden salbungsvoll, der vorzeitige Tod der Frau sei der «Wille Gottes» gewesen. Darauf stampfte meine Großmutter, lange bevor sie meine Großmutter war, zornig mit dem Fuß auf und schrie: «Ist es nicht! Ist es nicht!» Und sie war froh, dass sie es getan hatte, und wir auch.

Tillie besuchte nie «die alte Heimat». Sie sah nie das erste Heim ihres Vaters, Undredal in Sogn, mit seiner winzigen Kirche ganz nah an der steilen Klippe des Berges, der sich direkt aus dem Fjord erhebt. Soweit ich es mitbekommen habe, hat sie nie einen derartigen Wunsch zu erkennen gegeben. Sie war selten sentimental. Ihr Mann, mein Großvater Lars Hustvedt, reiste zum ersten Mal mit siebzig nach Norwegen. Er erbte etwas Geld von einem Verwandten und kaufte sich davon ein Flugticket. Er fuhr nach Voss, wo sein Vater geboren war, und wurde herzlich von Verwandten umarmt, die er noch nie gesehen hatte. Laut der Familienüberlieferung kannte er «jeden einzelnen Stein» in Hustveit, dem Hof der Familie. Der Vater meines Großvaters muss heimwehkrank gewesen sein, und durch dieses Heimweh und die Geschichten, die sich darum rankten, muss sein Sohn sich nach einer Heimat gesehnt haben, die keine war, sondern eher eine Idee von Heimat. Wir übernehmen die Gefühle anderer, besonders die Gefühle geliebter anderer, und bilden uns ein, dass das, was wir nie gesehen oder berührt haben, durch eine Fantasieverbindung auch zu uns gehört.

Mein Vater machte diese Fantasieverbindung zu seinem Leben. Nachdem er im Zweiten Weltkrieg in Neuguinea und auf den Philippinen gekämpft und kurze Zeit in der Besatzungsarmee in Japan gedient hatte, kehrte er nach Hause zurück, studierte mithilfe des G. I. Bill an der University of Wisconsin in Madison Skandinavistik und promovierte in dem Fach. Er lehrte am St. Olaf College in Northfield, Minnesota, Norwegisch und norwegische Literatur und war Schriftführer der Norwegian-American Historical Association, deren umfangreiches Archiv mit Einwandererdokumenten er ordnete und kommentierte, ein Posten, für den er nie bezahlt wurde.

In dem Text Die Familie Hustvedt, den er uns hinterließ, finden sich nur spärliche Informationen über die Familie seiner Mutter, mit Ausnahme dessen, was ich über Øystinas Erbe berichtet habe. Die bewusste Identität meines Vaters war von der väterlichen Linie geprägt, und er fand, so viel er konnte, über die Männer aus Voss heraus, die vor ihm kamen, seinen Großvater, Urgroßvater und Ururgroßvater. Ich glaube nicht, dass es ihm in den Sinn kam, sich in die mütterliche Linie zu vertiefen. Womöglich hat Tillie keinerlei Dokumente oder Briefe ihrer Eltern aufbewahrt. Sie konnte lesen und schreiben, besuchte aber nur zwei Jahre die Schule. Die Briefe an ihren Sohn, als er Soldat war, sind flüssig, aber mitunter fehlerhaft.

Erst als Erwachsene war ich imstande, über das Problem der Auslassung nachzudenken – eher darüber, was fehlt, als darüber, was da ist – und allmählich zu verstehen, dass das Ungesagte ebenso laut spricht wie das Gesagte.

Zumindest ging meine Großmutter meinem Vater auf die Nerven. Er reagierte gereizt, wenn sie etwas Unbedarftes über den Zustand der Welt äußerte oder bei Tisch stumm und finster dasaß. Er schimpfte selten, aber an seinem Gesicht ließ sich ablesen, wie unglücklich er war, und ich spürte die Konflikte zwischen Mutter und Sohn als tiefe Kratzer irgendwo in meiner Brust, die manchmal unerträglich wurden, und dann bat ich um Entschuldigung und floh vor den zumeist unausgesprochenen Familienreibereien in den Garten, wo ich zusehen konnte, wie die noch grünen Fuchsrebentrauben in der Laube langsam blau wurden, und mich darauf konzentrierte, in die süßen weißen Enden von Grashalmen zu beißen. Schon damals wusste ich, dass sich hinter der Gereiztheit meines Vaters Geschichten verbargen, die ich spüren konnte, aber nie hören würde.

Grandpa war eine sanftere Seele als Grandma. Eineinhalb der zweieinhalb Hektar Ackerland gingen in der Weltwirtschaftskrise an die Bank verloren, und diese Erzählung erklärte ihre große Armut. Sie haben wohl mit Sozialhilfe überlebt. Ich weiß es nicht genau. Das Gehalt meines Vaters war gering, und wir lebten jahrelang von der Hand in den Mund, sodass die Unterstützung, die er ihnen gegeben haben mag, nicht erheblich gewesen sein kann. Mein Großvater hatte schon lange, bevor ich ihn kannte, nicht mehr von der Landwirtschaft leben können.

Ich erinnere mich nicht, meine Großeltern jemals im Gespräch oder einander berührend gesehen zu haben. Wir...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2023
Übersetzer Grete Osterwald, Uli Aumüller
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Amerikanische Literatur • amerikanische Politik • Andrew Cuomo • Bestseller-Autorin • Bild der guten Mutter • Die unsichtbare Frau • Donald Trump • Eltern • Emily Bronte • Erinnerungen an die Kindheit • Essayband • Essays • familiäre Beziehungen • Familiengeschichte • Feminismus • Feministische Autorin • Frausein • Gesellschaftskritik • Grenzen • Großeltern • Herkunft • Jane Austen • Literatur • Memoir • Misogynie • Mutterschaft • Mutter sein • Neuropsychologie • New York • Philosphische Betrachtungen • Psychologie • Pure Color • Rolle der Frau • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-644-01178-8 / 3644011788
ISBN-13 978-3-644-01178-6 / 9783644011786
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