Noch wach? (eBook)
384 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31145-7 (ISBN)
Benjamin von Stuckrad-Barre, 1975 in Bremen geboren, ist Autor von »Soloalbum«, 1998, »Livealbum«, 1999, »Remix«, 1999, »Blackbox«, 2000, »Transkript«, 2001, »Deutsches Theater«, 2001, »Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft - Remix 2«, 2004, »Was.Wir.Wissen«, 2005, »Auch Deutsche unter den Opfern«, 2010, »Panikherz«, 2016, »Nüchtern am Weltnichtrauchertag«, 2016, »Udo Fröhliche«, 2016, »Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen - Remix 3«, 2018 und »Alle sind so ernst geworden« (mit Martin Suter), 2020.
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 24/2023) — Platz 17
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 23/2023) — Platz 17
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 22/2023) — Platz 8
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 21/2023) — Platz 5
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 20/2023) — Platz 2
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 19/2023) — Platz 1
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 18/2023) — Platz 1
Benjamin von Stuckrad-Barre, 1975 in Bremen geboren, ist Autor von »Soloalbum«, 1998, »Livealbum«, 1999, »Remix«, 1999, »Blackbox«, 2000, »Transkript«, 2001, »Deutsches Theater«, 2001, »Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft – Remix 2«, 2004, »Was.Wir.Wissen«, 2005, »Auch Deutsche unter den Opfern«, 2010, »Panikherz«, 2016, »Nüchtern am Weltnichtrauchertag«, 2016, »Udo Fröhliche«, 2016, »Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen – Remix 3«, 2018 und »Alle sind so ernst geworden« (mit Martin Suter), 2020.
City of Stars
Fast alle waren jetzt nackt. Und es war ja eh schon dunkel. Der ovale Pool leuchtete absinthfarben, ließ den Zitronenbaum schimmern, der sich über das Wasser beugte wie jemand, der nach einem schlafenden Kind sieht. Dampf stieg aus dem Pool auf, jemand drehte die Musik lauter, klirrende Gläser, Lachen – das Kind konnte oder wollte offenkundig nicht schlafen: Arschbombe, untertauchen und alles vergessen. Es waren die letzten Tage der Menschheit, wieder mal. Trump, Weinstein, der komplette Untergang zumindest dieser Welt hier stand zwar kurz bevor, aber wir wussten von all dem jetzt noch nichts, wobei, ein bisschen was wusste jeder, man hatte so dies und das mitbekommen, ZUMAL HIER IN LOS ANGELES, sehr viel mehr allerdings gehört als selbst bezeugen können, und ob man das jetzt gleich WISSEN nennen sollte – wir waren ja hier am Pool und nicht auf Twitter, hier verschwamm ja sowieso alles, deshalb genau war man ja hier; das Konzept war, unausgesprochen: Realität? Total überschätzt.
Wir ahnten vielleicht was, aber das lässt sich im Nachhinein immer sagen, einfach damit man dann nicht so dumm dasteht. Allerdings standen und liefen, lagen und laberten wir hier sehr gern offensiv dumm herum, solang man uns ließ, irgendwann würde das eh enden, bei mir zum Beispiel durch die unangenehme Realitätswindböe »Geld weg« – bald würde es so weit sein; bei anderen hier würde es bis zu dieser Klippe noch länger dauern, aber die lästige Gegenwart, sie würde sich schon auf die eine oder andere Art melden: ARBEIT!, VISUM!, LEBEN!, FAMILIE! Also im Grunde genommen: Mama kommt rein und macht das Licht an. Na ja. Das Einzige, das wir sicher wussten, war: dass es bald kühler werden würde. Und früher dunkel. Was aber ja gut war – ging die Nacht eher los, fing der Tag später an, wir freuten uns ein bisschen darauf, denn wir liebten die Nacht.
Ich kann nicht so gut rückenschwimmen, aber eine Weile lang klappt es immer. Ich sah zum Mond, der aufgestiegen war hinterm Chateau Marmont, Pool und Mond, dachte ich, bedeuten einander: I’m watching you. Aber da war ja auch noch die im Gebüsch unterm Zitronenbaum versteckte Überwachungskamera, die das alles aufzeichnete. Man konnte trotzdem immerzu machen, was man wollte. Jedenfalls taten wir das, und Ärger gab es fast nie, allenfalls wenn uns jemand IN ACTU erwischte, wie wir auf dem Ziegeldachfirst entlangbalancierten, auf den man aus meinem oberen Bungalowfenster steigen konnte, was immer so viel Spaß machte, weil dabei unter einem die Dachziegel so angenehm sanft knackend zerbrachen. Oder hin und wieder, wenn wir zum Sonnenaufgang den kleinen Holzsteg unterm Gucci-Billboard genau dann erklommen, wenn gerade Schichtwechsel war: von der vornehm großzügigen Nachtwache (mit einem von denen, Angelo hieß er, hatte ich mich angefreundet, und er sagte immer, er liebe es, unsere Poolnächte auf dem Überwachungskameramonitor zu verfolgen, für ihn sei das die beste Serie überhaupt) zum Tagessicherheitsdienst, der strenger war und sein musste, denn dann war ja alles hell, so wahnsinnig hell, als wohnten wir auf der Sonne.
Jetzt aber war das hier eben der Vorgarten des Mondes, und so bewegte ich langsam die Beine und ungelenk auch ein bisschen die Arme, damit ich nicht absoff, winkte vage Richtung Angelo – und schaute in den Nachthimmel.
City of stars
Are you shining just for me?
City of stars
There’s so much that I can’t see
Ist Rose schon weg?, fragte jemand. Sie habe ihr Buch am Pool liegen lassen. Ein dickes, fordernd aussehendes Buch. Ach, Rose, sagte ein Mädchen und machte so ein Hä?-Comicgesicht, als habe ein Außerirdischer sie gerade um Feuer gebeten. Rose ist doch immer nur tagsüber da, sagte ich, lass es einfach da liegen, die ist bestimmt morgen wieder hier.
Ich paddelte zum Poolrand und schaute, was Rose eigentlich gerade so las. Judith Butler, na, gute Nacht auch. Im Sommer war es wenigstens noch Joan Didion gewesen. Es schien zu stimmen, was die anderen immer sagten: Rose ist irgendwie ein bisschen ANSTRENGEND geworden. Ich kannte sie natürlich gar nicht PERSÖNLICH, aber das war hier normal, nachts dann kannte man immer irgendwen und damit gleich alle, man hatte keine Ahnung, wer die meisten waren, manche kannte man natürlich einbahnstraßig, weil sie berühmt waren, wie Rose ja auch, aber da konnte man sich, so oder so, auch sehr vertun, jedenfalls gab man sich dann immer so, als sei das alles ganz normal und man überhaupt nicht beeindruckt oder aufgeregt, und tat man das nur sorgfältig genug, war es bald darauf auch wirklich so, und dann ging alles einfach so weiter. Tagsüber nickte man einander dann leicht gedämpft zu: »Hi«. »Hi« sagte man immer, zu jedem. Und jeder – wir nannten das Pool-Sozialismus – erwiderte das »Hi« mit einem »Hi.«, wirklich jeder. Nur Rose nicht. Ich habe sie nur so kennengelernt (freilich, ohne sie kennenzulernen), klar, früher hatte sie ganz anders ausgesehen, Rose in ihrer, wenn man so will, ROLLE als Rose McGowan, als sie noch ein sozusagen AMTIERENDER Filmstar gewesen war, das war sie zumindest momentan gerade irgendwie nicht, wenn ich das richtig verstanden hatte, und sie hatte nun, anders als auf den FOTOS, DIE MAN VON IHR KANNTE, die gleiche Frisur wie ich, sehr kurz geschoren; ja, vielleicht war Rose wirklich irgendwie komisch GEWORDEN, was wusste denn ich. Irgendwie komisch zu sein, was war denn da auch groß dabei, also, mir war das sehr vertraut, als Haltung zur oder Bewertung durch die Welt um einen herum. Was denn auch bitte sonst?
Vor dem Mond zogen jetzt so schlierige schwarze Wolkentrümmer vorbei, er sah nun etwas schmuddelig aus, der süße Mond, unser Freund. Oh my god, looooooook!, rief die kaum je nicht hier seiende Foucault-Forscherin und hörte gar nicht auf zu lachen. Sie zeigte auf meine jetzt wieder der Poolmitte zustrebenden Schwimmarme und lachte und lachte. Du hast ja WIRKLICH blaues Blut, rief sie, bekreuzigte sich lachend und tauchte unter. Dann wieder auf: Das sei das Lustigste, was sie hier JEMALS gesehen hätte, looooooook!
Ouh. Immer wenn ich meinen rechten Arm bewegte, sonderte er dunkle Farbschwaden ab im beleuchteten Poolwasser, das wir »Das grüne Gatsby-Licht« nannten, wenn wir nachts durch den Garteneingang vom Sunset Boulevard hier in diese Arena traten, die der Garten des Chateau Marmont war, dieser Nachtspielplatz verwöhnter HOLLYWOOD KIDS (im Erwachsenenalter). Somewhere.
Tatsächlich, aber ziemlich dunkelblaues Blut, schwarz eigentlich, bei dir übrigens auch, und du weißt auch warum, gab ich zurück, und nun paddelten plötzlich alle im Pool zur Mitte hin und bildeten – wie bei einer ganz rätselhaften olympischen Disziplin – einen Kreis Im-Wasser-stehend-Paddelnder, alle schauten auf ihren rechten Arm und schrien begeistert durcheinander: Wir sind Vampire! Wir sind adelige Vampire! Und der Mond auch!, rief ich, schaut, der Mond, unser SPIRIT ANIMAL, der Mond macht auch mit! Alle schauten nach oben, bejubelten die durchlässig schwarzen Wolkentrümmer, die den Mond im Vorbeiziehen besudelten.
Das sind sie endlich, die Chemtrails, freute sich jemand, seht nur, es sind Gothic-Chemtrails! Black is the New Orange! Out of the Blue, into the Black!
Na, und so hatte also auch diese Nacht ein Thema, ein Thema war immer wichtig bei so Nächten, diesmal lautete es: Wir und der Mond – und irgendwas mit dunklen Spuren. Reicht doch. Moonriver and us.
Natürlich ließen sich die Farbabsonderungen sehr gut erklären, beim Mond waren es ebendiese sich vor ihn schiebenden Wolkenfetzen, und bei uns lag es an diesen Armbändern, die wir am frühen Abend in meinem Zimmer angefertigt hatten. Vom Geburtstag der Foucault-Forscherin noch hatte ich eine beinahe volle Spule von so weißem Seidenband, und einer von uns hatte herausgefunden, dass alle, die zu der geduldet illegalen Hyperexklusivparty eines wichtigen Film- oder Musikproduzenten (ich hatte nicht so genau zugehört) in die Hoteltiefgarage eingelassen wurden an diesem Abend, dem Türsteher schwarze Armbänder hatten vorzeigen müssen und erst dann reingelassen worden waren. Also hatten wir in meinem Zimmer das Geschenkband mit ein paar dicken Filzstiften schwarz eingefärbt und einander dann um das rechte Handgelenk gebunden – und wir waren damit auch tatsächlich hineingekommen in die Tiefgarage. Dort war ziemlich was los gewesen. Kanye West würde später auflegen, hieß es, und tatsächlich, da stand er auch schon, IM GESPRÄCH, gelehnt an einen Reifenstapel – er keepte up mit den Kardashians.
So war das manchmal HIER IN HOLLYWOOD, praktisch umgekehrtes »Purple Rose of Cairo«: In Woody Allens nämlichem Film stieg der LEINWANDHELD aus ebenjener Leinwand hinab in den Kinosaal und verliebte sich dort IN ECHT in die, die als Zuschauerin ja sowieso schon in ihn IM FILM verliebt gewesen war. In West Hollywood, also dem Stadtteil, und speziell im Chateau Marmont, lief es nicht selten genau andersherum: Unvermutet stieg man manchmal praktisch in die Leinwand hinein und bewegte sich dann ganz real selbst im, ja, Ausgedachten, in der SCHEINWELT, die aber ja real war, eine andere nämlich gab es hier eigentlich auch gar nicht. Der surreale Garten Eden des Hotels, in dem sich auch...
Erscheint lt. Verlag | 22.4.2023 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Boys Club • Buchpremiere Berlin • Compliance Verfahren • Feminismus • Harvey Weinstein • Macht • Machtmissbrauch • Medienskandal • metoo • Missbrauchsskandal • Neuer Roman Stuckrad-Barre • Panikherz • Skandal • SMS • Stuckrad-Barre 2023 • Whatsapp |
ISBN-10 | 3-462-31145-X / 346231145X |
ISBN-13 | 978-3-462-31145-7 / 9783462311457 |
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