Der chinesische Vampir: Fantasy Roman (eBook)
Uksak E-Books (Verlag)
978-3-7389-6542-1 (ISBN)
Prolog
Nicht angeschlossene Territorien (Colorado), 1834
Was bringt einen Mann dazu, an einen Ort zu gehen, an dem selbst das Land keinen Namen mehr hat und an dem es nichts gibt außer entsetzlicher Kälte im Winter und unmenschlicher Hitze im Sommer?
Diese Frage hatte sich Francis Carlton, Redakteur der Wochenzeitschrift Staunton Spectatar aus Chambersburg, Pennsylvania, auf seinem langen Weg in den Westen gestellt. Wochen hatte er mit der Suche nach den Mountain Men, den Trappern und Fallenstellern der Rocky Mountains, verbracht und jetzt, nachdem er fast drei Monate mit ihnen durch die Berge gezogen war, glaubte er, seine Antwort gefunden zu haben.
Francis zog seine Hose aus und faltete sie sorgfältig zusammen, bevor er sie neben seine Stiefel auf einen Felsen legte, ein Stück Seife in die Hand nahm und nackt in den Gebirgsbach watete. Scharf sog er die Luft ein, als eiskaltes Wasser die Haare auf seinen Beinen aufrichtete und eine Gänsehaut über seinen ganzen Körper jagte. Die Strömung zog an ihm und die Steine waren glatt unter seinen Fußsohlen. Mit den Armen balancierend ging er tiefer in den Bach hinein, bis das Wasser seine Hüften umspülte und die Strömung schwächer wurde. Er drehte sich um, genoss die wärmenden Strahlen der Morgensonne auf seinem Gesicht.
Um ihn herum erwachte der Wald langsam zum Leben. Vögel erhoben sich aus den Bäumen und schossen auf der Suche nach Insekten wie Akrobaten über den Bach. Francis sah Wasserspritzer, wenn ihre Flügel für einen Augenblick die Oberfläche berührten, dann waren sie bereits wieder zwischen den Bäumen verschwunden. Äste knackten im Unterholz, verrieten die Anwesenheit größerer Tiere, die sich nicht ans Ufer wagten, weil sie den Geruch von Menschen fürchteten.
Zu recht, dachte Francis mit einem Blick auf die mit Fellen beladenen Maultiere, die auf der Lichtung neben dem Lagerfeuer grasten. Obwohl die Mountain Men, bei denen er lebte, hauptsächlich Biber jagten, schossen sie jedes Stück Wild, das dumm genug war, vor ihre Flinten zu laufen. Sie schienen von einem unstillbaren Drang besessen zu sein, so als wollten sie nicht eher ruhen, bis sie das letzte Tier geschossen und das letzte Fell abgezogen hatten.
Francis hatte auch andere Mountain Men getroffen, weise Männer wie den alten Longbeard Dave, der ihm Landschaften gezeigt hatte, deren Schönheit ihn bis in seine Träume verfolgte. Er hatte im Morgengrauen Bären gejagt mit Bearclaw Steve und an den Lagerfeuern über Buffalo Joes erlogene Geschichten gelacht, aber geblieben war er schließlich bei den beiden Franco-Kanadiern Jules und Paul Morelle.
Sorgfältig rieb er sich Seife in die Haare, während sein Blick zu den Brüdern glitt, die noch halb verkatert auf einem umgestürzten Baumstamm saßen und abwechselnd rülpsten, furzten und in die Glut des Lagerfeuers spuckten. Jules, der stets behauptete, der Ältere von beiden zu sein, war ein großer, kräftiger Mann mit dunklen verfilzten Haaren und einem langen, ebenso verfilzten Bart. Irgendwann im Verlauf seines vielleicht fünfundzwanzigjährigen Lebens hatte ihm jemand Nase und Ohren abgeschnitten, aber Francis wagte nicht, ihn nach den genauen Umständen zu fragen. Selbst sein Bruder behauptete, nichts darüber zu wissen.
Paul, schätzte Francis, war möglicherweise zwei oder drei Jahre jünger als Jules, etwas kleiner und ebenso kräftig. Er trug seine dünnen braunen Haare nach Indianerart zu Zöpfen geflochten. Trotz seiner Jugend waren ihm nicht mehr als eine Handvoll schwarz verfaulter Zahnstummel geblieben, ein Zustand, den Francis auf die weißen Zuckerstangen schob, die Paul gleich dutzendweise in den Ortschaften kaufte und die er mit der gleichen Besessenheit lutschte, mit der manche Männer Tabak kauten. Er litt unter ständigen Zahnschmerzen, war jedoch weitaus umgänglicher als sein großer Bruder.
Francis mochte sie beide nicht, weder den übellaunigen, zur Hinterlist neigenden Jules, noch den dummen, nach Fäulnis stinkenden Paul. Er hätte sie schon längst verlassen, um nach anderen Mountain Men zu suchen, wenn da nicht ein dritter Trapper gewesen wäre, den er jetzt mit einigen trockenen Ästen auf den Armen am Waldrand auftauchen sah.
Sein Name war Jack Freeman - auch wenn man ihn allgemein Black Jack nannte - und er war der schwärzeste Mann, den Francis je gesehen hatte. Seine Haut war so dunkel, dass sie im hellen Sonnenlicht bläulich zu schimmern schien. Er war groß, größer noch als Jules und hager wie jemand, der sich noch nie satt essen durfte. Sein Kopf war kahlrasiert und er trug keinen Bart. Seit zwölf Jahren, so sagte Jack Freeman, lebte er bereits in diesen Bergen, ohne ein einziges Mal das Tal betreten zu haben. Francis hatte vergeblich auf den Stolz gewartet, den man in der Stimme mancher Mountain Men hörte, wenn sie von ihren Entbehrungen sprachen. Stattdessen war da nur eine tiefe Traurigkeit gewesen, als sehne er sich nach einem Leben, das längst vergangen war.
In diesem Gesicht hatte Francis die Antwort auf seine Frage gefunden. Er verstand jetzt, warum die Männer in das namenlose Land kamen, warum sie sich selbst mit ihrer Farmer- und Städterkleidung in den Tälern ablegten und zu Longbeard Dave, Bearclaw Steve, Canada Jules, Blacktooth Paul - und vielleicht sogar zu Jack Freeman wurden.
Sie kamen, um zu vergessen und um vergessen zu werden.
Francis hielt die Luft an und tauchte mit dem Kopf unter Wasser. Er spürte, dass hinter der neu erschaffenen Fassade des Jack Freeman eine Geschichte wartete, die sich gegen das Vergessen sträubte. Sein Name zeichnete ihn als frei geborenen Schwarzen aus, aber trotzdem trug er ein Sklavenbrandzeichen auf der Brust und sprach mit dem schleppenden Dialekt der Südstaatensklaven.
Da waren noch andere Aspekte, die merkwürdig wirkten. Wenn Freeman tatsächlich bereits seit zwölf Jahren in dieser Einöde lebte, konnte er kaum älter als sechzehn gewesen sein, als er in die Berge ging. Es erschien Francis ungewöhnlich, dass ein Junge eine solche Entscheidung traf. Und worüber sprachen Jules und Freeman so eindringlich, wenn die beiden Brüder aus der Stadt zurückkehrten, wo sie ihre Felle verkauft hatten? Das waren Fragen, die nach Antworten verlangten, doch die konnte nur Jack Freeman geben.
Francis tauchte prustend auf und schüttelte Wasser aus seinen Haaren. Jules stand einige Meter stromaufwärts am Ufer. Er sah Francis ungerührt an, während er in den Bach pinkelte. Sein Bruder, der immer noch auf dem Baumstamm saß und gerade eine Zuckerstange auspackte, grinste sein fauliges Grinsen.
»Bade da'in«, rief er mit seinem schauderhaften Akzent. »Das maht dih zum Mann.«
Er lachte, verzog dann jedoch das Gesicht und strich über seine geschwollene Wange. »Merde…«
Die beiden Hunde, die neben ihm im Gras lagen, hoben die Köpfe und winselten, als könnten sie die Schmerzen ihres Herrn spüren. Francis wagte es nicht zu lachen. Jules starrte ihn immer noch an. Die beiden Pistolen in seinem Gürtel schienen daran erinnern zu wollen, dass es hier oben einfacher war, einen Mann zu verscharren, als sich mit ihm zu streiten.
»Hilf mir mit dem Frühstück, Francis«, sagte Jack.
»Sofort.« Er spürte Jules' Blick in seinem Rücken, als er aus dem Bach stieg und seine Kleidung überstreifte. Normalerweise wartete er damit, bis die Sonne ihn getrocknet hatte, aber an diesem Morgen fühlte er sich verletzlich in seiner Nacktheit.
Jack Freeman hockte neben dem erkalteten Feuer und pustete in die Glut. Rote Funken stoben auf, dann leckten die ersten kleinen Flammen gierig an den Holzspänen, die er auf die Asche gestreut hatte.
»Du gehst heute neben mir«, sagte er leise, als Francis nach dem alten verbeulten Topf griff, in dem sie alles vom Morgentee bis zum Eintopf kochten. »In dieser Stimmung ist Jules unberechenbar.«
Er schichtete etwas Holz auf. »Sieh ihn nicht an, rede nicht mit ihm, steh ihm nicht im Weg. Verstanden?«
»Ja.« Francis nickte und ging mit gesenktem Kopf zum Bach, um den Topf auszuspülen. Jules hatte das Ufer verlassen und stand jetzt zwischen den Maultieren. Mit einer Hand kratzte er über den vernarbten Krater in seinem Gesicht, die andere lag auf dem Griff einer Pistole. Sein Mund bewegte sich unter dem dichten Bart. Der Wind trug das Geräusch seiner Stimme über die Lichtung, doch die Worte waren nicht zu verstehen.
Er ist wahnsinnig, dachte Francis. Wieso habe ich das vorher nicht bemerkt?
Die Angst quetschte seinen Magen mit eisigem Griff zusammen und raubte ihm für einen Moment den Atem. Er wandte sich ab, ging am Ufer in die Knie und ließ eiskaltes Wasser in den Topf laufen. Seine Hände entfernten die Essensreste mechanisch, aber seine Augen sahen nur Jules' Hand und die Pistolen in seinem Gürtel. Zwei Waffen, zwei Schuss, zwei Tote. Vielleicht würde er seinen Bruder verschonen, vielleicht erschoss er ihn auch als erstes, weil er der beste und schnellste Schütze des Trios war.
Francis...
Erscheint lt. Verlag | 16.10.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
ISBN-10 | 3-7389-6542-4 / 3738965424 |
ISBN-13 | 978-3-7389-6542-1 / 9783738965421 |
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