Geschichten für glückliche Stunden (eBook)

Norma Schneider (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
240 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491749-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geschichten für glückliche Stunden -
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Die schönsten Geschichten über Liebe und Freundschaft, über Weisheit und Glück Weisheit sei die epische Seite der Wahrheit, schrieb Walter Benjamin über das Erzählen. Ist es also die Weisheit von Geschichten, die uns glücklich macht? Ihr Über- und Durchblick, ihr Witz? Oder ist das Hören und Lesen von Geschichten vielleicht einfach nur ein angenehmer Zeitvertreib, bei dem wir endlich einmal ausblenden und vergessen können, was uns sonst so bedrückt? »Geschichten für glückliche Stunden« entführt uns in die weite Welt des Erzählens und schlägt einen Bogen von Boccaccio bis Virginia Woolf, von Heinrich Böll bis Sharon Dodua Otoo. Mit Texten von Zsuzsa Bánk, Alice Munro, Christoph Ransmayr und vielen anderen.

Italo Calvino

Das Pfeifen der Amseln


Herr Palomar hat das Glück, den Sommer an einem Ort zu verbringen, wo viele Vögel singen. Während er in einem Liegestuhl ruht und »arbeitet« (denn er hat auch das Glück, behaupten zu können, der Arbeit an Orten und in Haltungen nachzugehen, die man als solche der absolutesten Ruhe bezeichnen würde; oder besser gesagt, er hat das Pech, sich verpflichtet zu fühlen, die Arbeit nie ruhen zu lassen, auch nicht in einem Liegestuhl unter Bäumen an einem Vormittag im August), entfalten die im Gezweig verborgenen Vögel rings um ihn ein Repertoire der verschiedensten Lautbekundungen, hüllen ihn in einen ungleichmäßigen, diskontinuierlichen und zerklüfteten Klangraum, in dem sich jedoch ein Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Tönen herstellt, da keiner die anderen durch höhere Intensität oder Schwingungszahl überragt und alle zusammen ein homogenes Gezwitscher bilden, das nicht durch Harmonie zusammengehalten wird, sondern durch Leichtigkeit und Transparenz. Bis dann in der heißesten Stunde das wilde Geschwirr der Insekten dem Flirren der Luft seine schrankenlose Vorherrschaft aufzwingt, indem es alle Dimensionen der Zeit und des Raumes mit dem unaufhörlichen, ohrenbetäubenden Preßlufthammergedröhn der Zikaden erfüllt.

Das Zwitschern der Vögel besetzt einen variablen Teil der auditiven Aufmerksamkeit des Herrn Palomar: Bald drängt er es in den Hintergrund als einen Bestandteil der dort herrschenden Stille, bald konzentriert er sich auf die Unterscheidung einzelner Stimmen und gruppiert sie in Kategorien mit wachsender Komplexität: einfaches Piepsen, Tschilpen, kurzes vibrierendes Pfeifen, Tirilieren mit einem kurzen und einem langen Ton, glucksendes Kollern, kaskadenartiges Flöten, langgezogenes in sich kreisendes Quinkelieren und Quirilieren, und so weiter bis zur klangvollen Koloratur.

Zu einer weniger allgemeinen Klassifizierung gelangt Herr Palomar nicht: Er ist keiner von denen, die bei jedem Gezwitscher immer gleich wissen, von welchem Vogel es stammt. Das tut ihm jetzt leid, er empfindet seine Unkenntnis wie eine Schuld. Das neue Wissen, das sich die Menschheit heute erwirbt, entschädigt nicht für das Wissen, das sich allein durch mündliche Weitergabe verbreitet und, wenn es einmal verloren ist, nicht mehr wiedergewonnen und weitergegeben werden kann: Kein Buch kann lehren, was man nur als Kind lernen kann, wenn man ein waches Ohr und ein waches Auge für den Gesang und den Flug der Vögel hat und wenn jemand da ist, der ihnen prompt einen Namen zu geben weiß. Dem Kult der nomenklatorischen und klassifizierenden Präzision hatte Herr Palomar stets die Verfolgung einer ungewissen Präzision im Definieren des Modulierten, Gemischten, sich Wandelnden vorgezogen – also des Undefinierbaren. Jetzt würde er die entgegengesetzte Wahl treffen, und während er den Gedanken nachsinnt, die der Gesang der Vögel in ihm geweckt hat, erscheint ihm sein Leben als eine Folge verpaßter Gelegenheiten.

Deutlich herauszuhören aus allen Vogelstimmen ist das Pfeifen der Amseln, unverkennbar. Die Amseln kommen am späten Nachmittag; es sind zwei, ein Pärchen sicher, vielleicht dasselbe wie voriges Jahr, wie alle Jahre um diese Zeit. Jeden Nachmittag, wenn er den ersten Lockruf hört, einen Pfiff auf zwei Tönen, wie von einem Menschen, der seine Ankunft signalisieren will, hebt Herr Palomar überrascht den Kopf, um zu sehen, wer ihn da ruft. Dann fällt ihm ein, daß es die Stunde der Amseln ist. Und bald entdeckt er sie auch: Sie spazieren über den Rasen, als sei es ihre wahre Berufung, sich wie bodenverhaftete Zweifüßler zu bewegen und sich damit zu vergnügen, Analogien zum Menschen herzustellen.

Das Besondere am Pfeifen der Amseln ist, daß es genau wie ein menschliches Pfeifen klingt: wie das Pfeifen von jemandem, der nicht besonders gut pfeifen kann und es auch normalerweise nicht tut, aber manchmal hat er einen guten Grund zu pfeifen, einmal kurz und nur dieses eine Mal, ohne die Absicht weiterzupfeifen, und dann tut er es mit Entschiedenheit, aber in einem leisen und liebenswürdigen Ton, um sich das Wohlwollen seiner Zuhörer zu erhalten.

Nach einer Weile wiederholt sich das Pfeifen – derselben Amsel oder ihrer Gefährtin –, doch immer so, als käme es ihr zum ersten Mal in den Sinn zu pfeifen. Wenn es ein Dialog ist, dann einer, in welchem jede Replik erst nach reiflicher Überlegung erfolgt. Aber ist es ein Dialog, oder pfeift jede Amsel nur vor sich hin und nicht für die andere? Und handelt es sich, im einen Falle oder im anderen, um Fragen und Antworten (auf den Partner oder sich selbst) oder um Bestätigungen von etwas, das letzten Endes immer dasselbe ist (die eigene Anwesenheit, die Zugehörigkeit zur Gattung, zum Geschlecht oder zum Gebiet)? Vielleicht liegt der Wert dieses einzigen »Wortes« darin, daß es von einem anderen pfeifenden Schnabel wiederholt, daß es in den Pausen, während des Schweigens, nicht vergessen wird.

Oder der ganze Dialog besteht darin, dem anderen zu sagen: »Ich bin hier«, und die Länge der Pausen ergänzt das Gesagte um den Sinn eines »noch« oder »immer noch«, so daß es nun etwa bedeutet: »Ich bin immer noch hier, ich bin immer noch ich!« – Doch wenn die Bedeutung der Botschaft nun in der Pause läge und nicht im Pfeifen? Wenn es das Schweigen wäre, in dem die Amseln miteinander redeten? (Das Pfeifen wäre dann nur eine Interpunktion, eine Formel wie »Ich übergebe, Ende«.) Ein Schweigen, das scheinbar identisch ist mit einem anderen Schweigen, kann hundert verschiedene Intentionen ausdrücken. Ein Pfeifen übrigens auch, schweigend oder pfeifend miteinander zu reden ist immer möglich. Das Problem ist, einander zu verstehen.

Oder keine der beiden Amseln kann die andere verstehen, jede glaubt, in ihr Pfeifen eine für sie ganz fundamentale Bedeutung gelegt zu haben, die aber nur sie erfaßt, während die andere etwas erwidert, das überhaupt nichts mit dem Gesagten zu tun hat. Dann wäre es ein Dialog zwischen Hörgeschädigten, ein Gespräch ohne Sinn und Verstand.

Aber sind die menschlichen Dialoge etwas anderes? Frau Palomar ist gleichfalls im Garten und gießt gerade die Männertreu. »Da sind sie wieder«, sagt sie – eine pleonastische Äußerung, wenn sie davon ausgeht, daß ihr Mann die Amseln bereits beobachtet; andernfalls, wenn er sie noch nicht gesehen hätte, eine unverständliche; in jedem Falle aber geäußert, um die eigene Priorität in Sachen Amselbeobachtung zu erhärten (denn in der Tat war es Frau Palomar gewesen, die als erste die Amseln entdeckt und ihren Mann auf sie hingewiesen hatte) und um die Unfehlbarkeit des von ihr schon so oft registrierten Wiedererscheinens der Vögel zu unterstreichen.

»Psst!« macht Herr Palomar, scheinbar nur um zu verhindern, daß seine Frau die Amseln durch lautes Reden verscheucht (eine unnötige Ermahnung, denn das Amselpaar ist längst an die Anwesenheit und die Stimmen des Paares Herr und Frau Palomar gewöhnt), in Wirklichkeit aber, um seiner Frau den Vorsprung streitig zu machen, indem er eine viel größere Fürsorglichkeit für die Amseln bezeugt als sie.

Darauf sagt nun Frau Palomar: »Seit gestern schon wieder ganz trocken«, womit sie die Erde des Beetes meint, das sie gerade gießt – an sich eine überflüssige Mitteilung, doch mit der unterschwelligen Intention, durch das Weiterreden und den Wechsel des Themas eine viel größere und zwanglosere Vertrautheit mit den Amseln zu bezeugen als er. Gleichwohl entnimmt nun Herr Palomar diesen knappen Informationen ein Gesamtbild von Ruhe, für das er seiner Frau dankbar ist – denn wenn sie ihm auf diese Weise bestätigt, daß es im Moment keine größeren Sorgen gibt, kann er sich weiter in seine Arbeit vertiefen (beziehungsweise in seine Pseudo- oder Hyper-Arbeit). Er läßt ein paar Minuten verstreichen und überlegt sich ebenfalls eine beruhigende Information, um seiner Frau mitzuteilen, daß seine Arbeit (seine Infra- oder Ultra-Arbeit) wie üblich vorangeht. Zu welchem Zweck er schließlich eine Reihe von Schnaub- und Knurrlauten ausstößt (»Herrgott! … Nach alldem! … Nochmal von vorn! … Ja, Himmel!«) – Äußerungen, die zusammengenommen auch die Botschaft »Ich bin sehr beschäftigt« enthalten, nur für den Fall, daß der letzte Satz seiner Frau womöglich einen versteckten Vorwurf enthielt, etwas wie: »Du könntest ruhig auch mal dran denken, den Garten zu gießen!«

Grundgedanke dieser verbalen Austauschprozesse ist die Annahme, daß ein vollendetes Einvernehmen zwischen Eheleuten Verständnis erlaubt, ohne erst alles lang und breit erklären zu müssen. Allerdings wird diese Theorie von den beiden Palomars auf sehr verschiedene Weise in die Praxis umgesetzt: Sie drückt sich in mehr oder minder vollständigen, aber oft allusiven oder sibyllinischen Sätzen aus, um die Assoziationsfähigkeit ihres Mannes auf die Probe zu stellen und die Feinabstimmung zwischen seinen und ihren Gedanken zu testen (was nicht immer funktioniert). Er dagegen läßt aus den Nebeln seines inneren Monologes einzelne, nur eben angedeutete Laute aufsteigen, im Vertrauen darauf, daß aus ihnen, wenn nicht die Klarheit einer vollständigen Botschaft, so doch das Zwielicht einer Stimmungslage hervorgeht.

Frau Palomar weigert sich allerdings, sein Gebrumm und Geknurre als Rede anzuerkennen, und um ihr Nichtbetroffensein zu betonen, sagt sie jetzt leise: »Psst, du verscheuchst sie!« – womit sie ihm die Ermahnung zurückgibt, die er glaubte, ihr entgegenhalten zu dürfen, und von neuem ihren Primat in Sachen Aufmerksamkeit für die Amseln bekräftigt.

Nach Verbuchung dieses Punktes zu ihren Gunsten entfernt sich Frau Palomar. Die Amseln...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Faulheit • Freundschaft • Genuss • Hoffnung • Jahreszeiten • Lebenskunst • Liebe • Natur • Reisen • Sommer • Urlaub
ISBN-10 3-10-491749-3 / 3104917493
ISBN-13 978-3-10-491749-8 / 9783104917498
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