Tür an Tür (eBook)

Nazis und Juden im argentinischen Exil

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
176 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32129-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tür an Tür -  Ariel Magnus
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Als der Jude Heinz Magnus während des Zweiten Weltkrieges vor den Nationalsozialisten von Hamburg nach Argentinien flieht, ahnt er nicht, wer ihm dort begegnen wird: Nazis. Nicht nur Juden und Jüdinnen suchen in Argentinien ihr Exil, sondern auch Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen, die dort die Ideologie Hitlers ungebrochen weiter verbreiten und ausleben. Trotz der allgegenwärtigen antisemitischen Haltung entwickelt sich eine faszinierende Gemeinschaft, in denen zwei verfeindete Gruppen aufeinanderprallen und doch friedlich nebeneinander koexistieren - bis heute. Ariel Magnus erzählt nicht nur die Einwanderungsgeschichte deutscher Juden und seiner Familie, sondern beleuchtet unter verschiedenen Aspekten das Zusammenleben von Nazis und Juden im Exil.  »Man muss sich das vorstellen: da flüchtet ein Jude zwölftausend Kilometer von Hamburg nach Buenos Aires und gerät just in ein Haus, in dem Nazis wohnen. Sogar in einem Roman klänge das ein wenig übertrieben.« Ariel Magnus

Ariel Magnus, geboren 1975 in Buenos Aires. Studium in Deutschland, schrieb für verschiedene Medien in Lateinamerika, die taz in Berlin und SPIEGEL ONLINE und lebt heute als Autor und literarischer Übersetzer in Buenos Aires und Berlin. 2007 wurde er für seinen Roman »Ein Chinese auf dem Fahrrad« mit dem internationalen Literaturpreis Premio La Otra Orilla ausgezeichnet. 2012 folgte das Porträt seiner jüdischen Großmutter »Zwei lange Unterhosen der Marke Hering« und 2018 »Die Schachspieler von Buenos Aires«.

Ariel Magnus, geboren 1975 in Buenos Aires. Studium in Deutschland, schrieb für verschiedene Medien in Lateinamerika, die taz in Berlin und SPIEGEL ONLINE und lebt heute als Autor und literarischer Übersetzer in Buenos Aires und Berlin. 2007 wurde er für seinen Roman »Ein Chinese auf dem Fahrrad« mit dem internationalen Literaturpreis Premio La Otra Orilla ausgezeichnet. 2012 folgte das Porträt seiner jüdischen Großmutter »Zwei lange Unterhosen der Marke Hering« und 2018 »Die Schachspieler von Buenos Aires«.

Inhaltsverzeichnis

3 Eine Geschichte des jüdischen Deutschen


Ich habe die Geschichte des Deutschtums in Argentinien so ausführlich zitiert, um zu zeigen, dass sie nicht meine Geschichte ist, egal wie deutsch und argentinisch ich sein mag. Es fehlt darin nämlich, wie der vorurteilsfreie Leser schon erahnen konnte, ein kleines Element, nämlich das des jüdischen Deutschen. Auf den knapp 400 Seiten behandeln diesen Teil der deutschen Kolonie gerade mal drei Unterkapitel, durchaus problematische obendrein.

Dabei hätte es gute Gründe gegeben, auch hier die ganze Geschichte des Landes einem Deutschen zuzuschreiben, nämlich Luis Hartwig Brie (1834–1917). Aber vielleicht haben die Herren vom Deutschen Klub – dem »Versammlungsort aller angeekelten Ehemänner, gelangweilter, dem Alkohol ergebener Junggesellen«, der sich zu Festzeiten in einen Marktplatz verwandelte, »um die Töchter auszustellen und an die Meistbietenden zu verkaufen«, wie es im Roman Morath schlägt sich durch vom nicht jüdischen Deutschen Max René Hesse aus dem Jahr 1933 heißt – nicht gewusst, dass Brie, der als erster argentinischer Jude gilt, in Hamburg geboren wurde.

Was aber Lütge et al. mit Sicherheit wussten und dennoch nicht berichten, ist, dass Baron Maurice Hirsch, dessen Großvater einer der wenigen Juden war, die einen Adelstitel erhielten, 1831 in München auf die Welt kam. Nachdem sein einziger Sohn früh gestorben war, entschied sich der Baron, sein Erbe in (jüdische) philanthropische Projekte zu investieren. Damals wurde die Einwanderung vonseiten der argentinischen Behörden stark gefördert. Mit dem Dampfschiff Weser kamen 1889 achthundert jüdische Russen aus Bremen, was der Hälfte aller in Argentinien ansässigen Juden entsprach. Wie in der Geschichte der jüdischen Einwanderung von Haim Avni zusammenfassend steht, hatten sich mehrere Familien aus Podolien (ein Gebiet zwischen der heutigen Ukraine und Moldau) vor möglichen Pogromen in Sicherheit bringen wollen. Ein Vertreter wurde nach Paris geschickt, um eine Migration nach Palästina in die Wege zu leiten, doch er scheiterte und erwarb stattdessen Land in Argentinien. Als die Einwanderer dort ankamen, hatte das Stück Land, das sie gekauft hatten, so sehr an Wert gewonnen, dass der Verkäufer, ein argentinischer Großgrundbesitzer, das Geschäft platzen ließ. Als Trost wurden ihnen weit schlechtere Ländereien zur Verfügung gestellt.

Der Betrug gelangte zu Hirschs Ohren. Mit finanzieller Unterstützung der jüdischen Gemeinde in Berlin und mithilfe des auch in Berlin gegründeten Deutschen Central Komitee für die Russischen Juden begann das spektakuläre Projekt der Jewish Colonization Association (JCA), das Argentinien in ein neues Zion und den Baron in einen neuen Moises verwandeln sollte.

Doch auch dieses Projekt scheiterte – wie übrigens auch die deutschen Kolonisten, die schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts ihr Glück in verschiedenen Regionen des Landes versucht hatten. Die JCA plante, eine Million Juden ins Land zu holen, schaffte aber tatsächlich im ersten Jahrzehnt nur 10000, also 1 %. Und darunter waren viele, die schnell zurückkehrten. Kurzfristig jedoch rettete das Vermögen des Barons (es wurde wohlgemerkt nur als günstige Anleihe den Einwanderern zur Verfügung gestellt) viele Leben und unterstützte die spontane jüdische Migration. Der englische Reisende Elkan Adler schrieb 1905, es sei egal, wie viel Wert oder Erfolg man den Hirsch-Kolonien zuschreiben könne, ihrer Existenz sei zu verdanken, dass sich in Argentinien so viele jüdische Immigranten niedergelassen haben, mehr als in jedem anderen Land Südamerikas. Er sah Buenos Aires in dieser Hinsicht als ein künftiges New York, womit er nicht ganz danebenlag: Heutzutage gibt es hier mehr Psychoanalytiker als in der Stadt Woody Allens. Die gauchos judíos, wie sie der berühmte argenjüdische Schriftsteller Alberto Gerchunoff im gleichnamigen Buch von 1910 getauft hat, haben »Weizen gesät und Doktoren geerntet«. Man kann also gut argumentieren, dass sie den Weg für die Juden aus Deutschland gebahnt haben, als die Pogrome sich ausbreiteten.

Nichts davon lässt sich in der Geschichte des Deutschtums in Argentinien finden. Und ich möchte hinzufügen: Kaum einer der Leser, für die es geschrieben wurde, hätte das gern lesen wollen. Die Kolonien von Hirsch werden zwar kurz erwähnt, es ist von einem »eigenartig fremden Bild« einer Synagoge die Rede, von einem »Ausschnitt orientalischen Lebens hier mitten in der Pampa«, sogar von »stark gekrümmten Nasen«. Aber Lütge kann nichts dafür, er zitiert hier nur aus Wilhelm Vallentins Streifzüge durch Pampa und Kordillere Argentiniens.

Über die Gruppe der ab 1933 aus Deutschland »ausgewanderten« Juden heißt es später:

Sie wurden von dem offiziellen Deutschtum selbstverständlich nicht mehr als Deutsche anerkannt und legten selbst auch keinen Wert mehr darauf, sondern versuchten vielmehr, sich so rasch wie möglich in Argentinien zu assimilieren. Gerade die deutschen Juden aber haben die stärkste Welle deutschen Einflusses mitgebracht, den Argentinien in den letzten Jahrzehnten erfahren hat.

45000 an der Zahl, davon 15000–17000 zwischen 1934 und 1937, übten sie einen »außerordentlich starken Einfluss auf die Industrialisierung des Landes, auf die Europäisierung vieler Aspekte des Geschäftslebens und nicht zuletzt auf die Verbreitung der Kultur, insbesondere der Musik«, aus.

Man fragt sich nur: Welche Kultur, welche Musik? Natürlich die deutsche, auf die diese Vertriebenen, darunter auch mein Großvater, unheimlich viel Wert legten.

»Heute ging ich ausnahmsweise einmal frisch aus dem Geschäft«, schrieb er in sein Tagebuch am 22. Oktober 1936, als er noch in Hamburg lebte und Rabbiner werden wollte. »Dann kam ich an einem Radiogeschäft vorüber und herrliche Walzerklänge, natürlich Strauss, hielten mich in meinem Gange auf. Mit einem Male kam mir der Gedanke, dass es gar nicht mehr so weit sei, dass ich von hier fortfahren werde in eine fremde Welt. Gibt es da auch Strauss? Gibt es dort auch Musik, die einen wiegt und mit der man lebt? Und plötzlich erkannte ich, wie stark man mit dieser Deutschen Kultur verwachsen ist. Beethoven, Mozart, Haydn, Mendelssohn, Strauss und viele andere. Sind das nicht Selbstverständlichkeiten?«

Mit der Zeit sahen selbst die Herren des Deutschen Klubs ein, dass es in Lütges Buch einige problematische Stellen gab, z.B. die oben zitierte, und haben ihn in der zweiten Auflage gründlich überarbeitet. Das geschah 1981 aus Anlass ihres 125. Jubiläums – in einer bescheidenen Ausgabe des Verlags Alemann, unter dem bekömmlicheren Titel Deutsche in Argentinien und dem Engagement zweier weiterer Verfasser. Jetzt heißt es offiziell an der gleichen Stelle:

»… die Ächtung des Judentums in Deutschland … hatte zur Folge, dass die antinazistisch gesinnten Kreise sich schon bald nach 1933 durch eine weitere Gruppe von Menschen deutscher Herkunft erweiterten: die aus Deutschland zuwandernden Juden, denen es gelungen war, rechtzeitig vor noch schlimmerer Verfolgung ihre Heimat zu verlassen, in der man sie nicht mehr als Deutsche ansehen wollte, und die nun versuchen mussten, in Argentinien so rasch und so gut wie möglich Fuß zu fassen.«

Bei der Gelegenheit strich man auch den letzten Abschnitt des 1955er-Buches, in dem es u.a. hieß:

»Noch ist die tiefe Spaltung, die das Deutschtum 1933 erlitten hat, nicht völlig überwunden, aber ihre Ursachen gehören der Vergangenheit an und für die Zukunft gilt nur das Gebot immer größerer Einigkeit. Eine neue, zahlenmäßig geringe, durch ihre beruflichen und geistigen Qualitäten aber bedeutsame Schicht von Einwanderern weiß nichts von den Kämpfen der letzten Jahrzehnte und trägt dazu bei, die Decke über die Vergangenheit immer fester zu schließen.«

In der »neuen« Geschichte von 1981 kommen plötzlich auch die Juden vor, die bereits vor 1933 im Land waren. So erfahren wir zum Beispiel, dass der erste nicht argentinische Präsident der Zentralbanken des Landes ein jüdischer Deutscher war. Als Ausrede für das Weglassen dieser Information in der Ausgabe von 1955 behaupten die Verfasser, dass er doch Teil der deutschen Kollektivität gewesen sei und deswegen auch selbstverständlich – und stillschweigend – in der Geschichte derselben mit inbegriffen.

»Dieses hier bereits verwurzelte Judentum deutscher Herkunft war im Wesentlichen Bestandteil der deutschen Kolonie und ihrer Organisationen; insofern ist seine Geschichte in dem mit enthalten, was über die zurückliegende Entwicklung in diesen Blättern gesagt ist.«

Doch erst in dieser neuen Ausgabe wird Hirsch wieder als »Baron« betitelt und über seine Kolonien ausführlich berichtet; erst jetzt taucht zumindest der Name der (meiner) Pestalozzi-Schule auf, die wichtigste Anti-Nazi-Institution Argentiniens und womöglich ganz Lateinamerikas während des Dritten Reichs. Dass all das in der Erstausgabe fehlte, wussten auch ihre Verfasser:

»Es ist zu erwarten und zu hoffen, dass unser Buch auf eine Kritik stößt, die ihm vor allem manche Unterlassungen vorwerfen wird. Diese Kritik wird uns umso willkommener sein, wenn sie von Hinweisen begleitet ist, die ein Ausfüllen der Lücken ermöglichen.«

Das Auslassen der jüdischen Deutschen war aber keine Lücke, oder doch, eine gewollte. Ich würde sogar behaupten, dass diese...

Erscheint lt. Verlag 4.5.2023
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Adolf Eichmann • Argentinien • Auswanderung • Emigration • Exil • Flucht • Holocaust • Josef Mengele • Juden • Nationalsozialismus • Neue Nazis
ISBN-10 3-462-32129-3 / 3462321293
ISBN-13 978-3-462-32129-6 / 9783462321296
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