Verschwiegen (eBook)
368 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30419-0 (ISBN)
Eva Björg Ægisdóttir ist Jahrgang 1988 und lebt mit ihrem Partner und drei Kindern in Reykjavík. Sie ist in Akranes geboren und aufgewachsen, der Stadt, in der ihre Krimis spielen. Nach ihrem Abschluss in Soziologie zog sie nach Trondheim in Norwegen, wo sie einen Master in Globalisierung machte. Für ihren ersten Krimi wurde sie mit dem renommierten isländischen Blackbird-Award ausgezeichnet.
Eva Björg Ægisdóttir ist Jahrgang 1988 und lebt mit ihrem Partner und drei Kindern in Reykjavík. Sie ist in Akranes geboren und aufgewachsen, der Stadt, in der ihre Krimis spielen. Nach ihrem Abschluss in Soziologie zog sie nach Trondheim in Norwegen, wo sie einen Master in Globalisierung machte. Für ihren ersten Krimi wurde sie mit dem renommierten isländischen Blackbird-Award ausgezeichnet. Freyja Melsted ist in Österreich und Island aufgewachsen. Sie übersetzt aus dem Englischen, Spanischen und Isländischen.
Die Versammlung der Eigentümergemeinschaft am Abend zuvor hatte sich lange hingezogen. Nicht etwa, weil es so viel zu besprechen gegeben hätte, sondern weil die Leute plauderten, statt die Tagesordnung durchzugehen. Abgestimmt wurde erst am Ende, also konnte Elma nicht einfach früher gehen. Dem Angebot für die Reparatur wurde zugestimmt, was bedeutete, dass sich die Beiträge in die Hauskasse eine Zeit lang um zehntausend Kronen erhöhten. Elma hätte eigentlich gerne dagegen gestimmt, traute sich aber nicht, weil alle anderen offenbar dafür waren. Der Gehsteig musste ja repariert werden. Und als neue Eigentümerin wollte sie nicht gleich bei der ersten Sitzung gegen alle anderen stimmen. Außerdem war es sowieso egal, mit ihrer Meinung war sie in der absoluten Minderheit.
Nach der Versammlung hatte sie eigentlich gleich schlafen gehen wollen, das wäre am vernünftigsten gewesen. Aber nachdem sie unruhig in der Wohnung auf und ab gelaufen war, hatte sie beschlossen, mit dem Streichen des Wohnzimmers anzufangen – die Farbe stand seit dem Einzug unberührt herum. Also war sie erst spät ins Bett gekommen, erschöpft und die Arme voller Farbflecke.
Jetzt saß sie am neuen Schreibtisch im neuen Büro und konnte die Augen kaum offen halten. Sie beugte sich vor und starrte mit leerem Blick auf den Bildschirm. Elma musste an die Nachricht denken, die sie Davíð geschickt hatte. Sie stellte sich vor, wie er sie öffnete, leicht lächelte und antwortete. Das war nur ein Wunschgedanke, ihr war völlig klar, dass er nicht antworten würde. Einen Moment lang schloss sie die Augen und spürte, wie die Atemzüge kürzer und schneller wurden. Wieder dieses beklemmende Gefühl, als würden die Wände sie aus allen Richtungen bedrängen. Sie konzentrierte sich aufs Atmen.
»Ähemm.« Sie öffnete die Augen. Vor ihr stand ein Mann mit ausgestreckter Hand. »Sævar.« Elma fing sich schnell wieder und nahm die große Hand. Sie war ungewöhnlich zart.
»Wie ich sehe, hast du einen Platz zugeteilt bekommen«, sagte Sævar und lächelte. Er trug dunkle Jeans und ein T-Shirt, sodass die behaarten Arme zu sehen waren, und von ihm ging ein schaler Geruch nach Rasierwasser aus. Er hatte dunkle Haare und einen dichten Bart. Etwas an den buschigen Augenbrauen und den groben Gesichtszügen weckte den Anschein, als wohnte er in Wirklichkeit in einer Höhle.
»Ja, ist ganz nett hier. Geht völlig in Ordnung«, sagte Elma und strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht.
»Und, wie gefällt dir das Landleben so?«, fragte Sævar immer noch lächelnd. Das musste der andere Kommissar sein, von dem Hörður erzählt hatte. Elma wusste, dass er schon mit zwanzig zur Polizei in Akranes gekommen war. Aber sie kannte ihn nicht von früher, obwohl er kaum älter sein konnte als sie. In Akranes gab es nur zwei Grundschulen und ein Gymnasium. In so einem kleinen Ort lernten sich alle Gleichaltrigen irgendwann kennen – das dachte Elma jedenfalls.
»Doch, doch … sehr«, antwortete sie und versuchte, fröhlich zu klingen, kam sich aber komisch vor. Sie hoffte, dass ihre Augenringe nicht allzu offensichtlich waren, was aber gänzlich unwahrscheinlich war. Im grellen Licht der Neonröhren ließen sich diverse Müdigkeitserscheinungen nur schwer vertuschen.
»Du warst bei der Polizei in Reykjavík, hab ich gehört. Wie kam’s, dass du da aufgehört hast und nach Akranes gekommen bist?«, fragte Sævar.
»Ich bin hier aufgewachsen … Ich schätze, ich habe einfach die Familie vermisst«, antwortete Elma.
»Ja, nichts geht über die Familie«, sagte Sævar, »das wird einem klar, wenn man in die Jahre kommt.«
»In die Jahre kommt?« Elma sah ihn verdutzt an. »So alt bist du doch auch wieder nicht.«
»Nein, das vielleicht nicht.« Sævar lächelte ein wenig. »Fünfunddreißig, die besten Jahre kommen noch.«
»Das hoffe ich«, sagte Elma. Für gewöhnlich versuchte sie, so wenig wie möglich über das Altern nachzudenken. Sie wusste, dass sie noch jung war, und trotzdem spürte sie auf alarmierende Art, wie schnell die Zeit verging. Meist musste sie kurz nachdenken, wenn sie nach ihrem Alter gefragt wurde. Deshalb nannte sie oft einfach das Geburtsjahr. Das Baujahr. Als wäre sie ein Auto.
»Das hoffen wir beide«, antwortete Sævar und verschwand wieder.
Kurz darauf steckte er noch einmal den Kopf durch die Tür. »Wir hatten am Wochenende einen Einsatz, nachdem Leute in der Wohnung über ihnen Frauenschreie und viel Lärm gehört hatten. Als wir dort ankamen, war die Lage gelinde gesagt ziemlich schlimm. Der Mann hatte die Frau so vermöbelt, dass seine Finger voller Schrammen und Blut waren. Die Frau behauptete, nicht klagen zu wollen, aber ich gehe davon aus, dass es trotzdem zur Anklage kommen wird. Wobei es immer besser ist, wenn sie bereit ist, selbst auszusagen, auch wenn die Verletzung ärztlich bestätigt wird und noch andere Beweise vorliegen. Sie ist jetzt aus dem Krankenhaus entlassen, und ich wollte kurz mit ihr reden. Es wäre sicher gut, eine weibliche Kommissarin dabeizuhaben. Noch dazu eine, die auch Psychologie studiert hat«, sagte er und grinste.
»Das war nur für zwei Jahre«, nuschelte Elma und fragte sich, woher er von ihrem kurzen Psychologiestudium vor der Polizeischule wusste. Sie erinnerte sich nicht daran, es je erwähnt zu haben. Er musste es in ihrem Lebenslauf gesehen haben. »Ich komme mit, aber ich bezweifle, dass meine Psychologiekenntnisse viel bringen werden.«
»Ach, Quatsch, ich glaub an dich.«
Es roch stark nach Essen, als sie an die Tür klopften. Nach einer kurzen Stille erklangen Schritte. Laut Sævar war die Frau, die sie treffen wollten, bei ihrer betagten Großmutter untergekommen.
Einige Augenblicke später öffnete sich die Tür mit einem lauten Knarren, und im Eingang stand eine kleine Frau mit tiefen Falten und braunen Altersflecken im Gesicht. Sie hatte schulterlange hellgraue Haare, für ihr Alter ungewöhnlich dicht und schön, die von einer Spange nach hinten gehalten wurden. Die Frau hob fragend die Augenbrauen.
»Wir sind auf der Suche nach Ásdís Sigurðardóttir, ist sie hier?«, fragte Sævar. Die Frau drehte sich um und gab ihnen schweigend ein Zeichen, ihr zu folgen.
Das Haus hatte sich wohl kaum verändert, seit es in den Achtzigerjahren gebaut wurde, vermutete Elma. Darin befand sich ein altmodischer Teppichboden, und die Wände waren mit Holz verkleidet. Im Innern des Hauses war der Essensgeruch noch stärker.
»Dieser Vollidiot«, sagte die alte Frau plötzlich, so unvermittelt, dass Elma erschrak. »Soll der Jammerlappen doch in der Hölle schmoren. Aber meine kleine Ásdís hört nicht auf mich. Nein, nein. Sie will davon nichts wissen. Ich hab ihr gesagt, dass sie gehen muss. Ich werfe sie raus, wenn sie nicht auf mich hört.« Die Frau drehte sich abrupt um und griff nach Elmas Arm. »Aber ich bin nicht so durchsetzungsfähig, vielleicht hat sie das von mir. Ich kann sie nicht rauswerfen – nicht jetzt. Hoffentlich kannst du mit ihr reden, sie sitzt in ihrem alten Zimmer.« Sie zeigte auf den Flur und wandte sich ab, während sie unverständlich vor sich hin murmelte.
Elma und Sævar blieben zurück und überlegten, welche Tür die alte Frau gemeint hatte. Im Flur waren vier Türen, und Elma fragte sich, was die alte Frau in so einem großen Haus machte. Ihren Informationen nach wohnte sie allein. Schließlich klopfte Sævar vorsichtig an eine der Türen. Es kam keine Antwort, also öffnete er sie langsam.
Auf dem Bett saß ein deutlich jüngeres Mädchen, als Elma sich vorgestellt hatte. Sie hatte einen Laptop auf dem Schoß, und als Sævar und Elma das Zimmer betraten, blickte sie auf. Das Mädchen war kaum älter als fünfundzwanzig, trug einen dunkelblauen Kapuzenpulli und eine weiß-rosa gemusterte Schlafanzughose. Die Haare hatte sie zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden, und die Augenbrauen waren schwarz gefärbt, deutlich dunkler als die braunen Haare. Es war schwer, auf etwas anderes zu achten als ihr übel zugerichtetes Gesicht. Die Lippen waren aufgerissen, und die Schwellung um die Augen hatte sich grünblau und braun verfärbt.
»Darf ich?«, fragte Elma und deutete auf einen Schreibtischstuhl am Fuße des Bettes. Mit Sævar war abgesprochen, dass sie das Reden übernehmen würde. Nach allem, was ihr dieser Mann angetan hatte, würde Ásdís sicher lieber mit einer Frau sprechen. Als das Mädchen nickte, setzte Elma sich.
»Weißt du, wer ich bin?«, fragte sie dann.
»Nein, woher soll ich das wissen?«
»Ich bin von der Polizei. Wir unterstützen die Staatsanwaltschaft bei der Klage gegen deinen Freund.«
»Ich möchte keine Anzeige erstatten. Das habe ich schon im Krankenhaus gesagt.« Ihre Stimme klang bestimmt, und sie straffte die Schultern.
»Leider liegt das nicht mehr in deiner Hand«, sagte Elma. Sie versuchte, freundlich zu klingen, und fügte erklärend hinzu: »Wenn die Polizei gerufen wird, darf sie den Fall untersuchen und wenn nötig Anklage erheben.«
»Du verstehst nicht … ich will ihn nicht anzeigen. Tommi ist halt … er hat es selbst auch nicht leicht. Er wollte das nicht tun«, sagte sie gereizt.
»Ja, ich verstehe, aber das entschuldigt trotzdem nicht, was er dir angetan hat. Viele von uns haben es nicht leicht, aber nicht alle reagieren so.« Elma lehnte sich nach vorne und sah Ásdís in die Augen. »Hat er das schon mal getan?«
»Nein«, antwortete sie schnell und fügte dann leise hinzu: »Er hat mich noch nie geschlagen.«
»Der Arzt hat auch noch ältere Verletzungen bei dir festgestellt, vermutlich von vor einem...
Erscheint lt. Verlag | 1.1.2023 |
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Reihe/Serie | Mörderisches Island | Mörderisches Island |
Übersetzer | Freyja Melsted |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | aegis dottir • Aegisdottir • Akranes • Anne Mette Hancock • Arnaldur Indriðason • Beste isländische Krimi-Schriftsteller • Beste skandinavische Krimi-Schriftsteller • Debüt • Island • isländischer Krimi • Johanna Mo • Krimi-Neuerscheinungen 2023 • Krimiserie aus Island • Moderner Krimi • neue Krimireihe • Nordic-Crime • Nordic Noir • Nordischer Krimi • Psychologischer Krimi • Ragnar Jonasson • Reykjavik • Scandi-Crime • Skandi-Crime • Skandi-Krimi • Skandinavien-Krimi • Skandinavische Krimis • Spannung • Tove Alsterdal • verschwunden • Viveca Sten • Yrsa Sigurðardóttir |
ISBN-10 | 3-462-30419-4 / 3462304194 |
ISBN-13 | 978-3-462-30419-0 / 9783462304190 |
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