Wilde Geschichten (eBook)

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2023 | 1. Auflage
288 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31157-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wilde Geschichten -  Ludwig Tieck
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Er galt als »König der Romantik«, brachte Deutschland mit seinen Übersetzungen Shakespeare und Cervantes nahe, war genialer Entdecker, Förderer, Vorleser - doch seine eigenen frühen Erzählungen, in denen er Wahnsinn, Raserei, Furcht und Schrecken literaturfähig macht, gilt es erst noch zu entdecken. Schon als Junge war Tieck ein Bücherfresser par excellence. Und seine eigene Phantasie schlug wilde Volten. Der Fremde, Der Psycholog, Liebeszauber, Der Runenberg und ähnlich heißen seine frühen Geschichten, die freilich kaum jemand kennt. Ein großer Fehler, sagen Jörg Bong und Roland Borgards - und liefern zu Tiecks 250. Geburtstag eine brillante Auswahl davon. Sie erzählen zudem in kurzen Zwischentexten vom Genie ihres Erfinders. Tiecks Erzählungen haben bis heute nichts von ihrer mitreißenden Intensität verloren. Denn sie haben es in sich: Tieck entwickelt darin Arten des Erzählens, die bis heute bestimmend geblieben sind, von der Literatur über das Kino bis zur Netflix-Serie, im Dreiklang von Comedy, Horror und Fantasy.

Ludwig Tieck (31.5.1773-28.4.1853), erster deutscher Großstadtautor, Übersetzer- und Herausgebergenie. Einer der vielfältigsten, spannendsten und überraschendsten Autoren der deutschen Literaturgeschichte. 

Jörg Bong, geboren 1966, promovierter Literaturwissenschaftler, Autor, freier Publizist sowie ehemaliger Verleger des S. Fischer Verlags (bis 2019). Schrieb unter anderem für die FAZ, DIE ZEIT und den SPIEGEL. Unter dem Namen Jean-Luc Bannalec veröffentlicht er Kriminalromane. Zuletzt Herausgeber des Buches »57 Interventionen für die Kultur« zusammen mit Marion Ackermann, Gesine Schwan und Carsten Brosda. Roland Borgards, geb. 1968, ist Professor für deutsche Literaturgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und großer Kenner der Romantik.  Ludwig Tieck (31.5.1773–28.4.1853), erster deutscher Großstadtautor, Übersetzer- und Herausgebergenie. Einer der vielfältigsten, spannendsten und überraschendsten Autoren der deutschen Literaturgeschichte. 

Inhaltsverzeichnis

Die beiden merkwürdigsten Tage
aus Siegmunds Leben


Es war schon gegen Abend, als ein Wagen vor dem Gasthofe still hielt, und ein junger Mensch munter und fröhlich herausstieg, um sich vom Wirt ein Zimmer anweisen zu lassen. Es entstand ein Laufen im ganzen Hause, Treppe auf und nieder, um Licht und Feuerung zu besorgen, alle Schritte hallten fünffach von den großen Gewölben wider, man führte den Fremden auf sein Zimmer und ließ ihm Wachslichter auf sehr eleganten Leuchtern da, und Herr Siegmund merkte aus allen Zeichen, dass er hier zwar in ein vornehmes, aber gewiss sehr teures Wirtshaus geraten sei.

Mag’s doch!, sagte er ganz laut, indem er mit zuversichtlichen Schritten in seinem Zimmer auf- und abging, und flüchtig die englischen Kupferstiche betrachtete. Ich bin morgen vielleicht schon Rat, und alle Sorgen für die Zukunft sind gehoben.

Er sah aus dem Fenster; es war auf der Gasse noch ziemlich hell, und selbst hell genug, um ein allerliebstes Gesichtchen im gegenüberstehenden Hause zu bemerken, das aufmerksam nach ihm hinüber sah. Seine Augen begegneten ihren freundlichen Blicken, er grüßte endlich, und sie dankte verbindlich.

Der zukünftige Rat sah bei so guten Vorbedeutungen die Stadt mit sehr günstigen Augen an. Er träumte sich hundert angenehme Abenteuer, und sah es sehr ungern, als sich die Schöne von ihrem Fenster zurückzog, und er nur noch hinter ihren Vorhängen das Licht bemerkte, das sehr oft seine Stelle veränderte, und bald näher zum Fenster, bald weiter zurückgesetzt ward.

Er ließ ebenfalls die Vorhänge herunter. Der Ofen wärmte das Zimmer nur wenig, und da er von dem Fahren noch eine gewisse Unruhe im Körper verspürte, so nahm er die Lichter, verschloss die Stube, und bestellte unten in der Küche, dass er zum Abendessen zurückkommen würde. Es wurde ziemlich spät gegessen, und er hatte daher zum Spazierengehn noch Zeit genug.

Siegmund liebte nichts so sehr, als aufs Geratewohl die Straßen einer fremden Stadt zu durchkreuzen, bald hier, bald dort zu verweilen, und die mannigfaltigen wunderbaren Eindrücke in seine Seele aufzunehmen, die die fremden Gegenstände, die unbekannten Häuser in ihm erregten. Es war ein angenehmer Herbstabend, allenthalben stand der Rauch des Abendessens über den Häusern und vermischte sich mit dem Dunste des feuchten Herbstnebels, der tauend in die Gassen niedersank; der Mond fing eben an die Dämmerung gelb zu färben, und aus den Fabriken kehrte jauchzend der Schwarm der jungen und alten Arbeiter nach Hause. Mädchen durchstreiften Arm in Arm die entfernteren Gassen und plauderten laut durcheinander, um die vorübergehenden jungen Leute aufmerksam zu machen, und desto leichter ein interessanteres Gespräch mit diesen anzuknüpfen. Kleine Jungen balgten sich, und die Bettler sumsten ihre Bitten dreister den Eilenden nach.

Siegmund labte sich an den abwechselnden Gestalten, er stand oft still und sah durch ein niedriges Fenster in die sparsam erleuchtete Stube, deren Schein so anlockend, und deren enge von der Lampe schwarzgeräucherte Wände so abschreckend waren. Die Familien der Handwerker saßen um runde Tische und verzehrten froh und lebhaft kauend ihr Abendbrot; in andern Stuben saß eine emsige Alte beim Haspel, und zählte aufmerksam seine Umwälzungen, um morgen ihr gesponnenes Garn abzuliefern. Oft stand Siegmund still, wenn er in der Ferne auf den Fluren der Häuser ein Licht wahrnahm, und die hin und her schießenden Schatten; oder wenn sich eine Tür unter dem Schall einer lauten Klingel eröffnete, und der Hausherr mit vielen Bücklingen einen Besuch entließ, der mit einer ehrbaren Laterne nach Hause schritt. – Siegmund las bei solchen Wanderungen das ganze menschliche Leben gleichsam kursorisch, er dachte sich in jede Familie hinein, und erinnerte sich seiner frühesten Kinderjahre, wo ihm in trüben regnigten Nächten der Schein des Lichts aus den Häusern immer wie ein Feenland gewinkt hatte. – Er bestieg in seinem poetischen Taumel endlich noch den Wall der Stadt, und sah nun auf der einen Seite dunkelflimmernde Lichter, ein dumpfes Geräusch von Wagen und Stimmen durcheinander, die sich ablösenden Wachten und das Schlagen der Glocken, Häuser hinter Bäumen versteckt, und der Abendwind, der im rasselnden Laube nachsuchte, einen Kahn auf dem kleinen Flusse: – auf der andern Seite das freie Feld mit Nebelwolken, mit fernen Hügeln und Wäldern, Bauern, die nach Hause fahren, Mühlen, die ihren einförmigen Takt im kleinen Wasserfall unermüdet wiederholen, Stimmen, von denen er nicht wusste, wo sie hingehörten, wandernde Vögel; – als er so alle die einzelnen zerstreuten Gemälde in ein einziges in seiner Phantasie sammelte, so war er mit sich und seinem Schicksale außerordentlich zufrieden, er dachte sich sein künftiges Leben hier recht schön, und es befiel ihn unter seinen Hoffnungen nur die dunkle Beklemmung, die sich fast jeglichem Menschen in fremden Gegenden nähert.

Siegmund überließ sich seinen Träumereien und ging immer in verkehrten Richtungen, wie sie der Zufall ihm bot. Er überließ sich gern einer unbestimmten Ahndung, um sich mühsam aus kreuzenden Wegen heraus zu finden, und am Ende musste er gewöhnlich doch zum Fragen seine Zuflucht nehmen.

Die Szenen in den Straßen hatten sich jetzt sehr geändert, aus den Wirtshäusern tönte Musik und stampfender Tanz, die Fenster klirrten von fröhlichem Gelächter, Schattenspielleute zogen orgelnd und singend durch die Straßen, und kontrastierten seltsam mit den heiligen Liedern, die aus manchen unerleuchteten Dachstuben herunter winselten; an manchen Orten wurde gezankt, Bettler lehnten betrunken an den Ecken, und nahmen jetzt das Mitleid übel, das sie noch vor kurzem erfleht hatten. Die Grazien wandelten einsamer und stiller und viele waren in männlicher Begleitung; nur aus den vornehmen Häusern rauchten die Schornsteine noch und bewölkten den Mond.

Eben wollte sich Siegmund nach seinem Gasthofe erkundigen, als er ein lautes Gezänk durch die stille Straße schallen hörte; es machte ihn aufmerksam, und er ging dem kreischenden Tone nach. – Auf der steinernen Treppe eines kleinen Hauses stand ein ältlicher wohlgekleideter Mann in einem Winkel und schien in das Haus zu wollen. Eine alte Weiberstimme versagte ihm den Eingang. – »Und Sie wissen ja ein für alle Mal, dass Mamsell nichts mit Ihnen zu sprechen hat«, – rief es zu wiederholten Malen kreischend aus dem Hause heraus; der alte Mann hatte aber immer wieder die Klingel in der Hand, und machte mit gedämpfter Stimme neue Vorschläge, von denen die Alte nichts wissen wollte. Die Kapitulation währte eine geraume Zeit, und Siegmund, der hier eine lustige Szene aus einem komischen Stücke zu sehn glaubte, konnte sich am Ende nicht mehr halten, sondern fing an überlaut zu lachen. Der alte Mann sah sich brummend um, und ging dem Lachenden hart vorüber nach Hause. Dieser erkundigte sich nun nach seinem Gasthofe, und die Reihe, ausgelacht zu werden, war jetzt an ihm, denn er stand dicht davor. – Das Haus, vor welchem die merkwürdige Kapitulation vorgefallen war, war dasselbe, aus welchem in der Dämmerung das allerliebste Mädchengesicht heraus gesehn hatte. –

Er ging in das Wirtszimmer, wo man schon stark mit Essen und politischen Gesprächen beschäftigt war. Es war gerade um die Zeit, als Dümouriez sein Heer verlassen hatte,[2] und dieser Schritt den Verstand und die Imagination aller Leute beschäftigte, man schrie und eiferte, um ihn zu verteidigen oder zu verdammen, es wurde seine Gesundheit getrunken und an einer andern Stelle auf ihn geflucht, ein Spieler schalt ihn niederträchtig und sprach mit Enthusiasmus von den hohen Pflichten der Vaterlandsliebe; ein Gelehrter, der kürzlich einen Traktat über die römischen Silbenmaße herausgegeben hatte, bewies, dass Dümouriez den ganzen Feldzug ohne die nötigen taktischen Vorkenntnisse unternommen hätte; ein anderer sprach mit Verachtung von ganz Frankreich, und war schon halb betrunken, das arme Land hatte ihm in seinem eignen Weine Waffen wider sich in den Mund gegeben. –

Aber, meine Herren, der Präsident ist völlig meiner Meinung!, rief ein kleiner untersetzter Mann hinter dem Tische hervor.

Sehr natürlich, antwortete der Spieler, weil Sie immer seiner Meinung sind.

Die ganze Gesellschaft lachte, und der kleine Mann ward rot, er wollte zu verstehen geben, dass er dem Präsidenten gar manches über die Zeitläufte unter den Fuß gebe, allein er fand kein Gehör. Je näher er die Parallele zwischen sich und dem Präsidenten zog, je deutlicher ward es den Zuhörern, dass er nichts als ein Echo seines Gönners sei, und manche spielten ziemlich handgreiflich darauf an, dass er nur durch sein Wiederhallen eine einträgliche Stelle suche. Der Mann ward immer hitziger und röter, und wandte sich vorzüglich mit seinen schutzsuchenden Blicken an Siegmund, dem die Verlegenheit des aufgelaufenen Gesichts wehe tat, und der deswegen eine kleine Pause benutzte, um die Rechtfertigung des Kleinen über sich zu nehmen. –

Muss man denn, meine Herrn, immer nur Vorteil suchen, fing er an, wenn man der Meinung eines klugen angesehenen Mannes beitritt? Soll man ihm der Höflichkeit, der Freundschaft, ja seiner eigenen Überzeugung zum Trotz nur stets widersprechen, bloß um der Welt zu zeigen, dass man unabhängig von ihm leben könne?

Nur der Egoismus kann in allen Schritten Eigennutz entdecken. – Und warum soll ich auch nicht die unschädliche Schwachheit eines Vornehmen auf eine unschädliche Art benutzen dürfen? Wir sind selbst gegen unsere vertrautesten Freunde nie...

Erscheint lt. Verlag 5.4.2023
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Horror • Jörg Bong • Ludwig Tieck • Phantastik • Raserei • Roland Borgards • Romantik • Wahnsinn
ISBN-10 3-462-31157-3 / 3462311573
ISBN-13 978-3-462-31157-0 / 9783462311570
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