Tatort Nord 2 (eBook)
448 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0575-1 (ISBN)
Die deutsche Küste und der Norden haben so einiges zu bieten: frische Luft, tolle Landschaft, wortkarge Mitmenschen - und den ein oder anderen Mörder! Während die Sonne scheint und die Wellen glitzernd an den Strand spülen, stehen unsere Ermittler vor einer Herausforderung. In 21 Kurzkrimis untersuchen sie die Fälle, die alle nur eins gemeinsam haben: den Tatort ...
Mit Kurzkrimis von Gesine Berg, Ulrike Bliefert, Carola Christiansen, Anja Gust, Jutta Götze, Kathrin Hanke, Franziska Henze, Eva Jensen, Anke Küpper, Angela Lautenschläger, Alexa Linell, Anja Marschall, Bettina Mittelacher, Ricarda Oertel, Alex Roller, Regina Schleheck, Bea Schreiner, Regine Seemann, Carolyn Srugies, Sabine Weiß und Fenna Williams
MÜRITZWAHN
Kathrin Hanke
Röbel an der Müritz, Mecklenburg-Vorpommern
Sie stellte das Fahrrad in dem kleinen Hofgarten, der zu ihrem Ferienapartment gehörte, ab und setzte sich auf einen der beiden Holzstühle an dem dazu passenden Klapptisch. Gleich darauf zog sie die Trinkflasche aus ihrem Rucksack, schüttelte sie und lauschte. Die Flasche war leer. Ihr Blick fiel auf das halb volle Wasserglas, das noch vom frühen Morgen auf dem Tischchen stand. Innerlich mit den Schultern zuckend, griff sie es, führte es an den Mund und trank. Das Wasser schmeckte wie erwartet etwas schal, tat aber ihrer trockenen Kehle gut. Bevor sie gleich in ihr Apartment gehen würde, wollte sie noch einen Moment in der Sonne ausruhen.
Sie war das Radfahren nicht mehr gewohnt. In Hamburg ging sie im Alltag entweder zu Fuß, nutzte öffentliche Verkehrsmittel oder für weitere Strecken ihren Wagen, und in ihrer Freizeit hatten Fahrradausflüge bislang auch nicht auf dem Aktivitätenplan gestanden. Darüber hinaus war das Rad, das sie eben für ihre erste Tour durch die historische Altstadt von Röbel bis hin nach Fincken und wieder zurückgebracht hatte, mit seinen mindestens fünfunddreißig Jahren auf dem Buckel schwer zu treten. Fincken lag nicht weit entfernt, nur knapp fünfzehn Kilometer, was früher ein Klacks für sie gewesen war. Aber heutzutage eben nicht mehr. Immerhin hatte das Rad eine funktionierende Drei-Gang-Schaltung, das war es dann aber auch schon. Und genau dies alles fand sie gut, denn die körperliche Anstrengung bei gleichzeitiger eintöniger Beinbewegung zog ihre gesamte Konzentration auf sich und brachte ihr Gedankenkarussell wenigstens für eine Weile zum Stillstand. Hätte sie das auch nur im Entferntesten geahnt, hätte sie sich schon längst in körperliche Aktivitäten gestürzt und nicht versucht, ihren Geist durch allerlei kulturellen Input abzulenken und mit chemischen Keulen ruhigzustellen. Sie lehnte ihren Kopf zurück, schloss die Augen und ließ sich von der Sonne bestrahlen, die sie in eine warme Decke zu hüllen schien. Wie schön und einfach das Leben doch sein konnte.
Das Wohlbehagen hielt nicht lange vor. Nach und nach floh die neu und als angenehm empfundene Anstrengung aus ihrem Körper und machte den gewohnten, miteinander ringenden Gedanken Platz. Dennoch schlug sie die Augen nicht auf und rappelte sich aus dem Stuhl hoch. Wozu auch? Natürlich, sie befand sich auf der Flucht. Vor sich selbst. Vor der Person, zu der sie geworden war – skrupellos und selbstherrlich. Andere sagten von ihr, sie würde über Leichen gehen und wussten nicht, wie recht sie damit hatten. Sie wollte wieder zurück zu ihrem eigentlichen Ich finden, zu dem Menschen, der sie einmal gewesen war. Das ging aber nicht überstürzt. Das ging nur planvoll und verlangte Zeit. Deswegen konnte sie ruhig noch ein bisschen in der Mittagssonne verweilen, die paar Minuten mehr waren nicht entscheidend.
Lange Zeit hatte sie es mit sich ausgehalten, indem sie sich einfach ein neues Leben mit einer makellosen Identität aufgebaut und diese als ihre eigene und einzig wahre zur Schau gestellt hatte. So gut war sie gewesen, dass sie sich selbst geglaubt hatte. Dies war nun vorbei. Ihre fugenfreie Fassade hatte einen deutlichen Riss bekommen, und ohne Unterlass sickerte seitdem all das wieder an die Oberfläche, was sie über Jahrzehnte erfolgreich unterdrückt hatte. Der Riss war von einer auf die andere Sekunde entstanden. Ohne Vorwarnung. Zunächst hatte sie mit aller Kraft versucht, ihn zu kitten, doch schnell hatte sie aufgegeben. So musste sie ihrer befleckten Vergangenheit, aber vor allem ihrer Gegenwart, mit all den so schön konstruierten Lügen, gegenübertreten. Sie verabscheute sich nahezu sofort, und bereits nach kurzer Zeit hatte sie einsehen müssen, dass sie nicht mehr mit sich klarkam. Deswegen war ihre Flucht vor sich selbst außerdem eine Suche nach der ganzen Wahrheit, denn ihre Erinnerung hatte Lücken oder vielmehr schwarze Flecken. Auch das hatte sie festgestellt, als der Riss entstanden war. Sie war hier, um die Flecken zu entfernen und zu erfahren, was sie verbargen. Sie wusste, dass vor allem die Farben Blutrot und Wachsweiß zum Vorschein kommen würden, und sie hatte sich innerlich darauf vorbereitet, diesen Farben des Todes entgegenzublicken. Was sie nicht wusste, machte sie derzeit verrückt: Wie war es genau zu dem Blutrot und Wachsweiß gekommen? Sie brauchte das vollständige Bild. Für ihre Zukunft. Sonst hatte sie keine, sondern würde täglich ein Stückchen mehr untergehen. Diese Erkenntnis hatte sie hierher in das alte Handwerker- und Ackerbürgerstädtchen mit seinen frisch gestrichenen bunten und etwas windschiefen Häusern gebracht – auch hier war die graue Vergangenheit farbenfroh übertüncht worden. So wie sie es jahrelang getan hatte.
Gestern Abend war sie angekommen. Offiziell als Feriengast. Wie so viele andere. Fast direkt nach ihrer Ankunft in dem liebevoll sanierten Fachwerkhaus, das ihr Ferienapartment beherbergte, war ihr das Fahrrad ins Auge gesprungen. Den Wagen wollte sie für ihre »Ausflüge« sowieso nicht bewegen. Dann wäre es nicht echt. Sie hatte ihn nur genutzt, um von Hamburg hierher in den Südwesten der Mecklenburgischen Seenplatte zu kommen und damit er sie beizeiten wieder zurückbrachte. Für ihre Touren wollte sie den Bus oder ein Rad nehmen. Sie hatte dabei an ein leichtgängiges oder gar ein E-Bike gedacht und vorgehabt, es sich beim Fahrradverleih zu mieten. Als die Hausbesitzerin – eine ältere Frau, die die Ferienunterkünfte mit ihrem Sohn und der Schwiegertochter zusammen betrieb, wie sie ihr erzählte – sie jedoch in ihre von Hamburg aus online gebuchte Wohnung gebracht und den dazugehörigen Innenhof gezeigt hatte, hatte sie es bemerkt.
Das Fahrrad, von dessen Sattel sie eben erst gestiegen war, hatte an der mit Efeu bewachsenen Mauer gelehnt, die den Hof nach hinten begrenzte und für Vorübergehende uneinsehbar machte. Aber selbst wenn das Rad etwas im Abseits gestanden hätte, hätte es über kurz oder lang ihre Aufmerksamkeit erregt. Da war sie sich sicher, denn es sah genauso aus wie jenes, das sie selbst gefahren war, als sie noch keinen Führerschein, geschweige denn ein Auto gehabt hatte. Es war eine Ewigkeit her, berührte sie aber sofort. Abgesehen von der Marke und Farbe – ein frisches Grün – stimmte auch die Anzahl der Katzenaugen. Sie hatte damals in einem Anflug von Protzerei nicht nur die vorgeschriebenen zwei, sondern pro Reifen sechs zwischen die Speichen geklemmt. Ihre beste Freundin hatte es ebenso gemacht, und wenn sie dann abends in der Dunkelheit auf ihren Rädern unterwegs gewesen waren, hatten die Katzenaugen im Licht der Straßenlaternen geflackert, während sie lauthals »It’s My Life« geschmettert und Discoqueen gespielt hatten. Sie schluckte bei der Erinnerung, schlug nun doch ihre Augen auf und erhob sich vom Stuhl. Der Ohrwurm dudelte in ihrem Hirn weiter, als sie die nur angelehnte Tür zu ihrem Apartment – einem kombinierten Wohn- und Schlafraum mit offener Küche – aufstieß und eintrat. »It’s My Life« wurde lauter in ihrem Kopf, und sie schüttelte ihn unwillkürlich, um den Song, der Anfang der 1990er die Hitparaden gestürmt hatte, wieder aus ihm herauszubekommen. Manchmal wurde er noch im Radio gespielt, und dann stellte sie ihn jedes Mal sofort ab, und das nicht, weil der Song von Dr. Alban so überhaupt nicht mehr ihrem Musikgeschmack entsprach, sondern da er sie quälte. Das tat er auch jetzt, und um die Quälerei perfekt zu machen, tauchte zugleich das Gesicht von Stephanie vor ihrem inneren Auge auf. Ihre einst beste Freundin hatte ihren Mund zum Lachen weit aufgerissen. Sie wollte dieses Bild nicht sehen! Ein weiteres Mal schüttelte sie ihren Kopf. Jetzt noch heftiger als zuvor, doch es half nicht. Wie »It’s My Life« blieb auch Stephanies lachendes Gesicht und füllte inzwischen ihr gesamtes Sichtfeld aus. Unwillkürlich schloss sie die Augen, um in Dunkelheit zu versinken, doch Stephanies Antlitz wurde nur umso schärfer, glücklicherweise brach jedoch die Musik ab. Immerhin. Sie riss ihre Augen wieder auf und stolperte durch den Raum zum kleinen Duschbad. Schnell öffnete sie die Tür und war mit einem Schritt am Waschbecken. In der Absicht, ihr Gesicht mit Wasser zu bespritzen, drehte sie den Hahn auf. Dabei fiel ihr Blick auf den Spiegel vor ihr. Sie schrak nicht zurück, als sie sich Stephanie und nicht sich selbst gegenübersah. Im Gegenteil stützte sie ihre Hände auf dem Waschbeckenrand ab, beugte sich nach vorn und hielt ihren Kopf direkt vor den runden Spiegel. Hinter Stephanie kam schemenhaft ihr eigenes Gesicht zum Vorschein. Das hatte sie gehofft. Sie verengte ihre Augen zu Schlitzen, sodass sie besser fokussieren konnte. Sie wollte ihr Spiegelbild mehr in den Vordergrund holen und Stephanies Gesicht dadurch verdrängen. Es schien zu klappen. Langsam, wie in Zeitlupe, verschmolzen die Porträts miteinander. Doch was war das? Nun bildete sich aus ihrem Konterfei und dem der früheren Freundin ein neues, ein drittes heraus.
Ihr wurde flau, und sie begann zu zittern. Beim Anblick der Freundin verspürte sie jedes Mal einen fast nicht zu ertragenden Schmerz, doch dieses Gesicht, welches ihres und Stephanies inzwischen verdrängt hatte, verursachte ihr Gänsehaut. Es wirkte bedrohlich, obwohl es sich noch nicht einmal komplett entwickelt hatte. Es war, als ob es sich aus einer dicken Nebelwand hervorarbeitete. Wollte sie wirklich darauf warten, es gleich deutlich zu sehen? Konnte sie überhaupt etwas dagegen tun? Bei Stephanie hatte es eben durch Verdrängung geklappt, aber von deren Bild wusste sie auch, dass es in ihrem Inneren entstanden war. Bei dem, das sich ihr jetzt zeigte, war sie sich nicht so sicher. Hörte sie...
Erscheint lt. Verlag | 25.4.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Deutsche Autoren • Deutsche Krimis • Krimi • Krimi Anthologie • Krimi Kurzgeschichten • Kriminalroman • Kurzgeschichten • Kurzgeschichten Krimi • Kurzgeschichten Sammlung • Küstenkrimi • Küstenroman • Nordsee • Nordseekrimi • Nordsee Roman |
ISBN-10 | 3-7499-0575-4 / 3749905754 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0575-1 / 9783749905751 |
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Größe: 1,7 MB
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