Mutterliebe (eBook)
368 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-0530-0 (ISBN)
Nirgends bist du sicherer als in den Armen deiner Mutter
Ein Ausflug mit Mama in den Wald. Dichte Bäume, eine Lichtung mit verwunschenem Teich. Mama gibt uns Tee zu trinken. Ich werde müde, Mama drückt mich - immer fester, ihre Hände legen sich um meinen Hals. Ich kann nicht atmen, will ich sagen, doch es geht nicht. Was tust du nur, Mama?
Ein kleines Kind, brutal im Wald erstickt. Die Mutter auf der Anklagebank. Gerichtsreporterin Kiki Holland zweifelt an der Schuld der Angeklagten und recherchiert auf eigene Faust. Und was die junge Journalistin aufdeckt, hätte niemand erwarten können.
<p>Kim Selvig ist das gemeinsame Pseudonym von Silke Porath und Sören Prescher. Die beiden Autoren sind seit Jahren befreundet und haben bereits zahlreiche Krimis zusammen verfasst.</p>
Sie schlüpfte in dem Moment durch die Tür, als der Richter den Saal betrat. Kiki Holland huschte in die erste Reihe der Zuschauerbänke, die für die Presse reserviert war. Neben ihr saß Roland Mussack, ein rundlicher Kollege von der Boulevardredaktion, der wie alle anderen aufstand, als Dr. Dieter Barchmann an sein Pult trat. Erst nachdem der hochgewachsene Mann in seinem schwarzen Talar nickte, nahmen die Anwesenden wieder Platz.
Kiki atmete durch. Ihr Puls raste vom Sprint, den sie hatte hinlegen müssen. Es war kein guter Start in den Tag gewesen. Eigentlich hatte das Chaos bereits am Vorabend begonnen. Vor ihr hatten ein paar freie Tage liegen sollen, die sie sich mit zahlreichen Überstunden verdient hatte. Mit einem Gin Tonic hatte sie sich auf die perfekt durchgesessene Couch kuscheln und durchs Programm zappen wollen. Doch kaum hatte sie den Drink zur Hälfte genossen und spürte das angenehme Kribbeln des Alkohols in ihrem Blut, hatte ihr Handy geklingelt. Markus Kahler, ihr Chef in der Redaktion.
Widerstrebend hatte sie das Gespräch angenommen. Kahler rief nie an, um zu plauschen. Es war immer dienstlich. So auch jetzt.
»Die Becker hat sich die Haxe gebrochen.« Kein »Guten Abend«, kein »Hallo«.
»Aha«, hatte Kiki lang gezogen geantwortet und einen großen Schluck aus dem Longdrinkglas genommen, in dem die Eiswürfel klirrten.
»Ich finde keinen Ersatz.«
»Okay …«
»Morgen beginnt der Mutterprozess.«
»Ich weiß.« Kiki verkrampfte innerlich. Sie hatte bei der Redaktionskonferenz darauf verzichtet, sich einzutragen, und lieber der Kollegin den Vortritt gelassen. Mütter, die ihre Kinder auf dem Gewissen hatten, lagen ihr gewöhnlich schwer im Magen. Außerdem spürte sie, dass der Stresspegel in den vergangenen Wochen deutlich zu hoch gewesen war und sie dringend ein paar Tage brauchte, um runterzukommen. Vom Zustand ihrer Wohnung mal ganz abgesehen. Der letzte Großputz lag lange zurück. Zu lange.
»Neun Uhr, am Landgericht.« Das war nicht nur eine Information gewesen, sondern auch ein Befehl.
»Ich werde da sein.« Kahler hatte die Leitung ohne ein weiteres Wort getrennt.
Kiki war lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass ein weiteres Glas Gin Tonic und eine weitere Folge einer dummdusseligen Serie zwar gemütlich, aber wenig professionell gewesen wären. Und so hatte sie den Laptop, der zum Laden auf dem Sideboard aus Eiche stand, das dereinst das Wohnzimmer ihrer Großeltern dominiert hatte, aufgeklappt und sich in den Redaktionsrechner eingeloggt. Die dort hinterlegten Recherchen waren für alle Kollegen und Kolleginnen zugänglich – für genau solche Fälle wie diesen, wenn eine Reporterin ausfiel und eine andere übernehmen musste. Die Kollegin Nina Becker hatte sauber recherchiert, das hatte Kiki auf den ersten Blick gesehen. Sauber – und viel. Es würde Stunden dauern, sämtliche Links zu den Zeitungsberichten und die Notizen der Kollegin durchzugehen.
Die reißerischen Artikel der Boulevardkollegen hatte sie sofort weggeklickt. Die Monstermutter aus der Villa oder Warum musste der süße Linus sterben? waren Titelzeilen, die nicht gerade seriös klangen. Das von der Kollegin angefertigte Psychogramm der Sylvia B. hatte Kiki ignoriert. Sie wollte sich ihr eigenes Bild von der Angeklagten machen – wie immer. Diese Arbeitsweise hatte ihr in der Branche den Ruf einer Gerichtsreporterin mit seziermesserscharfem Blick eingebracht, die obendrein eine exzellente Schreibe hatte. Die allermeisten großen Tageszeitungen druckten Kikis Artikel ohne nur die kleinste Kürzung.
Es hatte bis weit nach Mitternacht gedauert, bis sie sich einigermaßen gerüstet gefühlt hatte für den kommenden Morgen. An dem dann so ziemlich alles schiefgegangen war, was schiefgehen konnte. Sie hatte einmal zu oft auf die Schlummertaste gedrückt. Es hatte nur noch für eine kurze Dusche gereicht. Die Haare, denen sie an ihrem freien Tag eigentlich eine Kurpackung hatte gönnen wollen, steckte sie mit einer Klammer am Hinterkopf zusammen. Da sie geplant hatte, den Tag mit einem Milchkaffee in ihrer Lieblingskonditorei zu beginnen, hatte sie kein Espressopulver besorgt. Der kümmerliche Rest hatte gerade noch für eine schwache Tasse gereicht, die sie hastig heruntergestürzt hatte.
Immerhin sprang Enzo, ihr gelegentlich zickender knallroter Fiat 500, beim ersten Drehen des Zündschlüssels an und knatterte sie, unter Umgehung sämtlicher Verkehrsregeln, in die Innenstadt. Dort allerdings gab es, wie üblich, keine freien Parkplätze. Und so musste Kiki Holland ihren italienischen Miniwagen einen knappen Kilometer vom ehrwürdigen Justizgebäude entfernt in einer Seitenstraße neben übervollen Papiercontainern parken und zu Fuß in den halbhohen Pumps zum Gericht hetzen, die Akten und die Tasche mit dem Laptop unter den Arm gekrallt.
Ihr Schädel pochte, als sie sich neben dem Boulevardjournalisten in die Bank quetschte und einen ersten Blick auf die Angeklagte wagte, die sich während des erlaubten dreißigsekündigen Blitzlichtgewitters der Fotografen und Fotografinnen einen grauen Ordner vor das Gesicht gehalten hatte. Sylvia Bentz hielt den Blick gesenkt. Die blonden Haare fielen ihr in leichten Wellen ins blasse Gesicht.
»Es reicht.« In der Stimme des Richters lag die Autorität eines Mannes, der sich sowohl seines Amtes als auch seiner Erscheinung bewusst war. Die Fotografierenden senkten die Kameras. Die meisten von ihnen verließen sofort den Saal, um ihren Redaktionen sekundenschnell die ersten Bilder der »Mördermutter« zu liefern.
Der Anwalt der Angeklagten flüsterte ihr etwas zu. Sie zögerte einen Moment nach den Worten des blonden, milchgesichtigen Advokaten. Obwohl Heiko Walter seit über zwanzig Jahren im Geschäft war, hatte er sich sein spitzbübisches, studentisches Aussehen bewahrt. Kiki kannte ihn aus zahlreichen Prozessen, in denen er als Strafverteidiger aufgetreten war. Mal hatte er gewonnen, mal verloren. Seinem betrübten Blick nach zu urteilen, rechnete er im Fall der Sylvia Bentz nicht unbedingt mit einem Freispruch.
Die Angeklagte offenbar genauso wenig. Als sie den Ordner senkte, blickte Kiki in ein fahlgraues Gesicht, in dem nichts mehr an die strahlende Millionärsgattin erinnerte, die noch vor nicht allzu langer Zeit bei einem Wohltätigkeitsball an der Seite ihres Mannes in die Kamera gelacht hatte. Aus dem etwas pausbackigen Gesicht mit den vollen Lippen und den tiefen braunen Augen war das verhärmte Antlitz einer Frau geworden, die um Jahre gealtert schien. Tiefe Falten hatten sich zwischen Nase und Mund eingegraben. Die Augen, obwohl mit Mascara betont, wirkten stumpf und lagen tief in grauen Höhlen. Die Angeklagte hatte abgeknabberte Fingernägel, bei einigen so weit, dass es blutete. Kurzum: Sylvia Bentz war mit den herausgewachsenen Strähnen und dem viel zu großen Blazer nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Kiki machte sich Notizen und linste auf den Block des Boulevardkollegen neben sich. Mussacks Blatt war leer. Sie grinste in sich hinein: Das war einer der Gründe, weshalb sie sich längst nicht mehr im hiesigen Boulevardressort verdingen musste. Ihre Storys wurden gern mal bundesweit aufgegriffen.
Kikis Gedanken wurden unterbrochen vom Rascheln eines Talars, als sich der Staatsanwalt erhob. Sebastian Karlsen reckte wichtigtuerisch das Kinn, und Kiki erneuerte ihren Eindruck des Vertreters des Volkes: Karlsen war ein affektierter, auf Schau spielender Kerl, den die Fälle komplett kaltließen. So kalt wie sie selbst die Verlesung der Anklageschrift, gespickt mit allerlei Paragrafen. Sie hörte nur mit halbem Ohr zu und notierte sich die Grundpfeiler.
Demnach hatte Sylvia gut acht Monate zuvor ihre beiden Kinder, die fünfjährige Larissa und den dreijährigen Linus, ins Audi-Cabriolet auf die Rückbank gesetzt, ordnungsgemäß gesichert und war mit den beiden mit offenem Verdeck und zur Musik von Max Giesinger aus der Stadt hinausgefahren. Unterwegs, das hatten die Ermittler von Larissa erfahren, habe ihre Mutter die CD ausgeschaltet und angefangen, selbst zu singen. Das Lied vom schnappenden Krokodil. Linus’ Lieblingssong, bei dem ihr Bruder leidenschaftlich mitgegrölt habe. Bei der Erwähnung des Kinderliedes senkte die Angeklagte die Augen. Der als Nebenkläger auftretende Vater von Larissa und Linus barg das Gesicht in den Händen. Seine Schultern zuckten. All das hielt Kiki in der über die Jahre antrainierten, nur für sie selbst lesbaren Schnellschrift fest.
Die lapidaren Schilderungen und Aufzählungen des Staatsanwaltes hielten sie aber nicht davon ab, die Geschehnisse des verhängnisvollen Tages in Polaroid vor ihrem inneren Auge zu erleben. Ihr wurde übel.
»Mama, warum halten wir? Hier ist doch gar keine Pommesbude.« Linus’ Gesang verstummte. Seine Schwester schwieg und betrachtete die zusammengekniffenen Augen ihrer Mutter im Rückspiegel. Larissa wusste, dass es einer jener Momente war, in denen man besser keine Fragen stellte. Weil man keine Antworten bekam.
»Weil es hier genau richtig ist«, sagte Sylvia Bentz, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und schnallte sich ab. »Aussteigen, Kinder!«
Larissa zögerte. Sie hatte keine Lust auf einen Waldspaziergang. Sie trug Sandalen ohne Socken, und die Brennnesseln würden ihre nackten Beine in den Shorts quälen. Anders Linus. Larissas kleiner Bruder ließ mit flinken Fingern das Schloss des Kindersitzes aufspringen, kletterte herunter und war mit einem Satz aus dem Cabrio ausgestiegen.
»Mach schon, du lahme Schnecke!«, rief...
Erscheint lt. Verlag | 25.4.2023 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Beziehungsdrama • Buch • Drama • Gericht • Gerichtsthriller • grausame Tat • Justizthriller • Kindermord • Kindsmörderin • Krimi • Kriminalroman • Mutter tötet • Pharmaindustrie • Pharmakologische Studie • Psychologie Depression • über |
ISBN-10 | 3-7499-0530-4 / 3749905304 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0530-0 / 9783749905300 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 661 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich