Das Meer war dunkel.
Der atlantische Ozean wirkte so weit und geheimnisvoll wie das Universum.
Regine Mertens saß an einem einsamen Strand auf El Hierro, der kleinen Kanarischen Insel. Die junge deutsche Studentin seufzte wohlig, lauschte auf das Geräusch der Wellen, die sanft auf den Sand fluteten. Regine genoss das Naturerlebnis in dieser milden Nacht. Von dem Seelen fressenden Dämon in ihrer Nähe ahnte sie noch nichts…
Der Sand knirschte, als sich leise Schritte der jungen blonden Frau näherten, aber Regine drehte sich nicht um. Sie wusste, dass es nur ihr Freund Bernd sein konnte, der sich ihr näherte. Er war eben gerade zu ihrem gemieteten Toyota-Allrad-Jeep gegangen, um eine Flasche Wein zu holen.
Und nun kehrte er zurück.
Seit drei Jahren war Regine mit dem großen dunkelhaarigen Bernd liiert, der genau wie sie selbst in Hannover Jura studierte. Und sie war noch genauso verknallt in ihn wie am ersten Tag…
Als die Beiden vor einiger Zeit Urlaubspläne schmiedeten, hatten sie sich gemeinsam für El Hierro entschieden. Die westlichste der Kanarischen Inseln fristete fast so etwas wie ein touristisches Schattendasein.
Während auf benachbarten Inseln wie Teneriffa oder Gran Canaria ein Ferienflieger nach dem anderen landete, verirrten sich nur wenige Naturfreunde in die zerklüftete Bergwelt und zu den stillen Stränden von El Hierro.
Im Hauptort Valverde hatten sie die Allrad-Karre gemietet. Das war kein Problem gewesen. Jètzt, im Dezember, verirrten sich noch nicht einmal deutsche Winter-Flüchtlinge auf die kleine Insel.
Und schon am zweiten Tag ihres Urlaubs hatten Regine und Bernd diese Traumbucht entdeckt, wo sie in aller Ruhe wild zelten konnten und niemand sie störte.
Jedenfalls glaubten sie das…
Bernd setzte sich neben Regine auf das Strandtuch. Er trug Sweat-Shirt und Shorts. In der einen Hand hatte er die Weinflasche und zwei Plastikbecher, in der anderen eine leichte Strickjacke. Er ließ das Kleidungsstück in Regines Schoß fallen.
»Die habe ich dir mitgebracht. Sonst erkältest du dich noch…«
»Danke, Schatz! Du bist immer so lieb.«
Regine schmatzte ihrem Freund einen Kuss auf die Wange. Sie war in der Tat nur mit einem violetten Badeanzug bekleidet. Die Studentin hatte gar nicht bemerkt, dass es jetzt nach Sonnenuntergang um einige Grade kühler geworden war. Auch auf El Hierro hatte der Winter Einzug gehalten. Obwohl - was hieß das schon auf einer Insel, die vor der Küste der afrikanischen Sahara-Staaten lag…
»Ich könnte stundenlang nur auf den Ozean schauen«, seufzte Regine zufrieden.
Bernd goss Rotwein in einen Becher und reichte ihn ihr. Der Vollmond und die funkelnden Sterne spendeten ein fahles Licht.
»Andere Unterhaltung als das Meeresrauschen gibt es zwischen diesen Felsen ja auch nicht.«
Regine kicherte.
»Du bist ein Banause, Bernd! Hast du denn gar keinen Sinn für dieses -Gefühl der Ewigkeit?«
»Schreiten wir zur Beweisaufnahme!« Bernd ahmte einen ihrer Jura-Professoren nach, der wegen seiner geschraubten und trockenen Sprechweise ständiges Spottobjekt der Studenten war. »Was wollen Sie mit Ihren Ausführungen andeuten, Fräulein Mertens?«
Die Studentin lachte erneut.
»Ach, du weißt schon. Ich kann das nicht so in Worte fassen. Aber… Es ist dieses weite Meer dort vor uns. Was heißt schon Meer. Das ist ein richtiger Ozean. Der atlantische Ozean. Atlantis, verstehst du? Vielleicht liegt irgendwo dort in der Tiefe wirklich dieses sagenumwobene Reich verborgen.«
»Vielleicht auch nicht«, meinte Bernd lakonisch. »Aber ich weiß, was du meinst, Regine. Man kommt sich hier als Mensch so klein und unbedeutend vor. Diese winzige Insel mitten im Ozean, auf der wir uns befinden - und über uns dieser riesige Himmel. Vor uns der unendliche Ozean. Das ist schon Schwindel erregend.«
»Halt mich fest«, flüsterte die junge Studentin.
Bernd legte den Arm um sie.
Allmählich kroch in Regine die Panik hoch. Sie hätte gar nicht sagen können, was sie plötzlich so ängstigte.
Die Einsamkeit dieses menschenleeren Strandes bei Nacht?
Nein, das konnte es nicht sein. Regine hatte immer schon abgeschiedene Regionen für den Urlaub bevorzugt. Sie war nicht der Typ, um sich auf den Germanengrill zu legen. Da machte sie lieber zusammen mit Bernd Wanderungen im schottischen Hochland oder durchstreifte polnische Naturschutzgebiete. Sogar auf Island waren sie schon gewesen. Je abgelegener, desto besser.
Aber plötzlich spürte die Studentin eine ungreifbare Bedrohung. Etwas, das ihr den Atem abschnürte. Das ihr auf einen Schlag jeden Spaß am Leben raubte.
Vielleicht stimmte etwas mit dem Wein nicht?
Regine stellte den Becher in den Sand. Der edle Tropfen schien ohnehin plötzlich nach Galle zu schmecken.
Bernd war die Stimmungsänderung seiner Freundin nicht entgangen.
»Was ist los, Regine?«
»Ich weiß nicht, Bernd. Mir ist plötzlich so seltsam zu Mute…«
»So stark ist der Wein doch gar nicht. Oder hast du zu wenig gegessen?«
Die Worte ihres Freundes konnten kaum noch zu der Studentin durchdringen. Der Wein war wirklich nicht das Problem. Das Grauen lauerte nicht in ihrem Magen oder in ihrem Gehirn.
Sie bekam keinen Schwips, ihr war auch nicht schwindlig oder albern zu Mute.
Es war etwas mit Regines Seele geschehen.
Verzweifelt versuchte die junge Frau zu erkennen, was mit ihr vor sich ging. Die seltsame Veränderung ließ sich kaum in Worte kleiden.
Es war, als hätte jemand in ihrem tiefsten Inneren ein Tor aufgestoßen. Ein Tor, das besser für immer verschlossen geblieben wäre.
Ein Tor, hinter dem das absolute Grauen lauerte…
»Neeeiiiiinnnn!«, schrie Regine plötzlich gellend.
Sie sprang auf und lief ins Wasser.
Bernd war schockiert. Er kannte seine Freundin als vernünftige und selbstbeherrschte Person. Regine plante ihr Leben genau durch, überließ nichts dem Zufall. Ein solcher Gefühlsausbruch war völlig untypisch für sie.
Gerade diese Tatsache beunruhigte den Studenten zutiefst. Und nun rannte sie auch noch ins Meer. Wollte sie vielleicht nachts schwimmen, in unbekannten Gewässern, mitten im Dezember?
Das wäre Selbstmord!
»Regine!«, brüllte Bernd. »Komm sofort zurück!«
Doch seine Freundin hörte nicht auf ihn. Der junge Mann glaubte allerdings nicht, dass sie ihn überhaupt verstanden hatte.
Sie eilte auch nicht zielgerichtet in die Brandung, sondern torkelte planlos herum wie eine Volltrunkene. Bernd biss sich auf die Lippen, als er ihr folgte, um sie zurückzuholen.
Es war völlig unmöglich, dass der Wein ihr so zugesetzt hatte. Zwei, drei Schlucke. Mehr konnte Regine von dem Roten unmöglich genippt haben. Hatte sie sich vielleicht eine Grippe eingefangen und litt jetzt unter hohem Fieber?
Eine andere Erklärung fiel Bernd zunächst nicht ein. Er hatte auch keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Zunächst musste er seine Freundin vor dem Ertrinken bewahren. Denn er glaubte nicht, dass Regine in ihrem Zustand würde gut schwimmen können.
Sie stieß immer noch seltsame, schaurige Schreie aus. Nun war sie bereits bis zur Brust im Wasser. Im Gegensatz zum Strand von El Hierro, der noch im Dezember von den heißen Sahara winden angewärmt wurde, war das Atlantik-Wasser schon ziemlich kalt.
Bernd packte seine Freundin an den Schultern.
»Komm zurück, Regine! Du holtst dir den Tod! Du…«
»Den Tod.«
Mit einer völlig fremden Stimme antwortete das Mädchen. Sie sprach die beiden Worte aus, als würde sie eine Fremdsprache zum ersten Mal benutzen. Als wollte sie ein Wort nachbeten, dessen Bedeutung sie nicht kannte.
Nun drehte Regine den Kopf. Sie wandte Bernd ihr Gesicht zu. Und obwohl der Student es in dem bleichen Mondlicht kaum erkennen konnte, wurde er von einem entsetzlichen Horror gepackt.
Dabei wirkte Regines Gesicht auf den ersten Blick unverändert. Die hohe Stirn, die gezupften Augenbrauen, die grünen Pupillen, die gerade Nase und der sinnlich geschwungene, breite Mund. Alles das kannte und liebte Bernd an seiner Regine.
Und doch war sie grauenvoll verändert worden.
Die Einzelteile ihres schönen Gesichts waren immer noch vorhanden. Doch etwas Grundsätzliches stimmte nicht mehr.
Ihr Gesicht hatte seine innere Ordnung verloren. Anders konnte Bernd es nicht beschreiben. Aber dann ging ihm ein passenderer Gedanke durch den Kopf.
Regine ist… entseelt!, sagte er zu sich selbst. Unwillkürlich taumelte er in dem kalten Wasser einen Schritt zurück. Er spürte nicht die spitzen Steine unter den Leinenschuhen an seinen Füßen. Mit seinem angeborenen Überlebensinstinkt wich er vor einem Wesen zurück, das kein Mensch mehr war.
Regine stand Hohn lachend vor ihm. Sie lebte, sie atmete. Aber Bernd fühlte ganz genau, dass ihre Seele verschwunden war. Die Seele der Frau, die er liebte…
Doch gleichzeitig kam ihm ein noch unheimlicherer...