Hunger. Roman (eBook)

(Autor)

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2023
224 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-30589-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hunger. Roman - Knut Hamsun
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»Es war in jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist.« So beginnt Knut Hamsuns großer Roman »Hunger«, mit dem ihm 1890 der literarische Durchbruch gelang. Atemlos verfolgt der Leser, wie ein namenloser, erfolgloser Journalist und Schriftsteller durch Kristiania, das heutige Oslo, treibt und dabei mehr und mehr in Elend gerät. Obdachlos hungert, friert, fantasiert er durch die Straßen. Die Außenwelt, Scham und Stolz verstellen ihm den Weg in ein gesichertes Leben. Ein radikaler Roman und Meilenstein modernen Erzählens, der bis heute seine Leser zeichnet.
  • »Keine literarische Erfahrung hat sich mir tiefer eingeprägt als Knut Hamsuns Hunger.« Roger Willemsen
  • »Voll von grotesker Komik und düsterer Tragik, aber auch voll großer Leidenschaft.« Deutschlandfunk
  • Autobiografisch, stilbildend - ein Meilenstein der Literatur


Knut Hamsun (1859-1952), Sohn eines Schneiders und Landpächters, wuchs zweihundert Kilometer nördlich des Polarkreises auf. Ausgedehnte Reisen führten ihn bis nach Amerika und in den Orient, ehe er vor dem Ersten Weltkrieg schließlich in seine Heimat Norwegen zurückkehrte. 1920 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Bei Manesse sind von ihm der Roman «Pan» und der Erzählband «Die Königin von Saba», beide in Neuübersetzung, erschienen.

Zweiter Abschnitt

Ein paar Wochen später befand ich mich eines Abends draußen.

Ich war wieder in einem der Friedhöfe gewesen und hatte an einem Artikel für irgendeine Zeitung geschrieben. Während ich damit beschäftigt war, wurde es zehn Uhr, die Dunkelheit fiel ein und die Pforte sollte geschlossen werden. Ich war hungrig, sehr hungrig; die zehn Kronen waren leider nur allzu bald verbraucht; nun waren es zwei, beinahe drei Tage und Nächte her, seit ich etwas gegessen hatte, und ich fühlte mich matt, ein wenig angegriffen vom Schreiben mit dem Bleistift. Ich hatte ein halbes Federmesser und einen Schlüsselbund in der Tasche, aber nicht einen Ör.

Als die Friedhofpforte geschlossen wurde, hätte ich ja geradeaus heimgehen sollen; aber aus einer instinktmäßigen Scheu vor meinem Zimmer, wo alles dunkel und leer war – einer verlassenen Klempnerwerkstatt, in der mich einstweilen aufzuhalten ich endlich Erlaubnis bekommen hatte – schwankte ich weiter, trieb aufs Geratewohl am Rathaus vorbei, bis hinunter zum Hafen und auf eine Bank auf dem Eisenbahnkai zu, wo ich mich hinsetzte.

Es fiel mir in diesem Augenblick kein trauriger Gedanke ein, ich vergaß meine Not und fühlte mich beruhigt bei dem Anblick des Hafens, der friedlich und schön im Halbdunkel dalag. Aus alter Gewohnheit wollte ich mich daran erfreuen, das Stück durchzulesen, das ich eben geschrieben hatte, und das meinem leidenden Gehirn als das Beste vorkam, was ich je gemacht hatte. Ich zog mein Manuskript aus der Tasche, hielt es dicht vor die Augen, um besser zu sehen und durchlief eine Seite nach der anderen. Zuletzt wurde ich müde und steckte das Papier wieder in die Tasche. Alles war still; die See lag wie blaues Perlmutter da, und kleine Vögel flogen stumm an mir vorbei von Ort zu Ort. Ein Schutzmann patrouilliert etwas weiter weg, sonst ist kein Mensch zu sehen, und der ganze Hafen liegt schweigend da.

Ich zähle wieder mein Geld: ein halbes Federmesser, ein Schlüsselbund, aber nicht ein Ör. Plötzlich greife ich in meine Tasche und ziehe die Papiere wieder hervor. Es war ein mechanischer Akt, ein unbewusstes Nervenzucken. Ich suche mir ein weißes unbeschriebenes Blatt aus und – Gott weiß, woher ich die Idee bekam – ich machte eine Tüte, schloss sie sorgfältig, sodass sie wie voll aussah, und warf sie weit über das Pflaster weg; sie wurde vom Wind noch etwas weiter fortgeführt, dann blieb sie liegen.

Nun hatte der Hunger begonnen mich anzugreifen. Ich saß da und sah nach dieser weißen Tüte, die gleichsam von blanken Silbermünzen angeschwollen war, und hetzte mich selbst dazu auf, zu glauben, dass sie wirklich etwas enthalte. Ganz aufrecht saß ich da und verleitete mich dazu, die Summe zu erraten – wenn ich richtig riet, war sie mein! Ich stellte mir die kleinen, niedlichen Zehnörestücke zuunterst vor und die fetten, gerippten Kronen obendrauf – eine ganze Tüte voll Münzen! Ich saß da und sah sie mit aufgesperrten Augen an und führte mich selbst in Versuchung, hinzugehen und sie zu stehlen.

Dann höre ich den Schutzmann husten – und wie konnte ich darauf verfallen, genau das Gleiche zu tun? Ich erhebe mich von der Bank und huste, und ich wiederhole dies dreimal, damit er es hören soll. Wie würde er sich auf die Tüte stürzen, wenn er käme! Ich freute mich über diesen Streich und rieb mir entzückt die Hände und fluchte großmächtig vor mich hin. Der sollte ein langes Gesicht machen, der Hund! In den heißesten Pfuhl der Hölle sollte er versinken über diesen Spitzbubenstreich! Ich war vor Hunger trunken geworden, mein Hunger hatte mich berauscht.

Ein paar Minuten später kommt der Schutzmann daher, mit seinen Eisenabsätzen auf dem Pflaster klappernd und nach ­allen Seiten spähend. Er lässt sich gut Zeit, er hat die ganze Nacht vor sich; er sieht die Tüte nicht – nicht bevor er ganz nahe bei ihr ist. Da bleibt er stehen und betrachtet sie. Es sieht so weiß und wertvoll aus, was dort liegt, vielleicht eine kleine Summe, was? Eine kleine Summe Silbergeldes? … Und er hebt sie auf. Hm! Das ist leicht, das ist sehr leicht. Vielleicht eine kostbare Feder, ein Hutschmuck … Und er öffnet sie behutsam mit seinen großen Händen und schaut hinein. Ich lachte, lachte und schlug mir auf das Knie, lachte wie ein Rasender. Und nicht ein Laut kam mir aus der Kehle, mein Lachen war stumm und hektisch, hatte die Inbrunst des Weinens …

Dann klappert es wieder auf dem Pflaster und der Schutzmann macht eine Schwenkung zum Kai hinüber. Ich saß mit Tränen in den Augen da und rang nach Atem, ganz außer mir vor fiebriger Lustigkeit. Ich begann laut zu sprechen, erzählte mir selbst von der Tüte, ahmte die Bewegungen des armen Schutzmannes nach, schaute in meine hohle Hand und wiederholte wieder und wieder vor mich hin: Er hustete, als er sie wegwarf! Diesen Worten fügte ich neue hinzu, gab ihnen aufreizende Zusätze, stellte den ganzen Satz um und spitzte ihn zu: Er hustete einmal – khöhö!

Ich erschöpfte mich in Variationen über diese Worte, und es dauerte weit in den Abend hinein, bevor meine Lustigkeit aufhörte. Dann überkam mich eine schläfrige Ruhe, eine behagliche Mattheit, der ich keinen Widerstand entgegensetzte. Die Dunkelheit war ein wenig dicker geworden, eine kleine Prise furchte das Perlmutter der See. Die Schiffe, deren Masten sich gegen den Himmel abhoben, sahen mit ihren schwarzen Rümpfen wie lautlose Ungeheuer aus, die die Borsten sträubten und dalagen und auf mich warteten. Ich verspürte keinen Schmerz, mein Hunger hatte ihn abgestumpft; stattdessen fühlte ich mich angenehm leer, unberührt von allem um mich her und froh darüber, von keinem gesehen zu werden. Ich legte die Beine auf die Bank und lehnte mich zurück, auf diese Weise konnte ich am besten das ganze Wohlsein der Abgesondertheit fühlen. Keine Wolke war in meinem Gemüt, kein Gefühl des Unbehagens, keine unerfüllte Lust oder Begierde, so weit meine Gedanken reichten. Ich lag mit offenen Augen, in einem Zustand der Abwesenheit meiner selbst, ich fühlte mich herrlich entfernt.

Immer noch gab es keinen Laut, der mich störte; die milde Dunkelheit hatte die Allwelt vor meinen Augen verborgen und mich hier in eitel Ruhe begraben – nur das öde Rauschen der Stille schweigt mir monoton in die Ohren. Und die dunklen Ungeheuer da draußen würden mich an sich saugen, wenn die Nacht kommt, und sie würden mich weit über das Meer tragen und in fremde Länder, in denen keine Menschen wohnen. Und sie werden mich zum Schloss der Prinzessin Ylajali bringen, wo mich eine ungeahnte Herrlichkeit erwartet, die größer ist als die irgendeines Menschen. Und sie selbst wird in einem strahlenden Saal sitzen, in dem alles aus Amethyst ist, auf einem Thron von gelben Rosen und wird mir die Hand entgegenstrecken, wenn ich hereinkomme, mich begrüßen und Willkommen rufen, wenn ich mich nähere und niederknie: Willkommen, Ritter, bei mir und in meinem Land! Ich habe dich seit zwanzig Sommern erwartet und in allen hellen Nächten dich gerufen, und wenn du traurig warst, habe ich hier geweint, und wenn du schliefst, habe ich dir herrliche Träume eingeatmet … Und die Schöne nimmt meine Hand und folgt mir, leitet mich durch lange Gänge, in denen große Menschenscharen Hurra rufen, durch helle Gärten, in denen dreihundert junge Mädchen spielen und lachen, in einen anderen Saal hinein, in dem alles aus leuchtendem Smaragd besteht. Die Sonne flutet herein, durch Galerien und Gänge schreiten singende Chöre, Ströme von Duft schlagen mir entgegen. Ich halte ihre Hand in meiner, und ich fühle die wilde Köstlichkeit der Verzauberung in mein Blut dringen; ich lege meinen Arm um sie, und sie flüstert: Nicht hier, folge mir weiter! Und wir treten in den roten Saal, in dem alles Rubin und eine schwellende Herrlichkeit ist, in die ich versinke. Da fühle ich ihren Arm um mich, sie atmet in mein Antlitz, flüstert: Willkommen, Geliebter! Küss mich! Mehr … mehr …

Ich sehe von meiner Bank aus Sterne vor den Augen und meine Gedanken streichen in einen Orkan von Licht hinein …

Ich war in Schlaf gefallen und wurde vom Schutzmann geweckt. Da saß ich, unbarmherzig zum Leben und zum Elend zurückgerufen. Mein erstes Gefühl war ein stupides Erstaunen darüber, mich selbst draußen unter offnem Himmel zu finden, aber bald wurde dieses von einem bitteren Missmut abgelöst, und ich war nahe daran zu weinen, vor Trauer darüber, noch am Leben zu sein. Es hatte geregnet, während ich schlief. Meine Kleider waren ganz durchnässt, und ich fühlte die raue Kälte in meinen Gliedern. Die Dunkelheit war noch dichter geworden, zur Not konnte ich die Gesichtszüge des Schutzmannes vor mir erkennen.

Soo, sagte er, stehen Sie nun auf!

Ich erhob mich sofort; hätte er mir befohlen, mich wieder hinzulegen, hätte ich auch gehorcht. Ich war sehr nieder­gestimmt und ganz ohne Kraft, dazu kam, dass ich den Hunger fast augenblicklich wieder zu fühlen begann.

Warten Sie doch ein wenig, Dummkopf!, rief der Schutzmann mir nach, Sie gehen ja ohne Ihren Hut fort. Soo, gehen Sie jetzt!

Mir schien es auch so, als ob ich gleichsam – gleichsam ­etwas vergessen hatte, stammelte ich abwesend. Danke, gute Nacht.

Und ich schwankte weiter.

Wer nun ein wenig Brot hätte! Ein solch herrliches kleines Roggenbrot, von dem man herunterbeißen konnte, während man durch die Straßen ging. Und ich ging weiter und stellte mir eben diese besondere Sorte Roggenbrot vor, von der jetzt so herrlich zu essen gewesen wäre. Ich hungerte bitterlich, wünschte mich tot und fort, wurde sentimental und weinte. Mein Elend wollte kein Ende nehmen! Dann blieb ich...

Erscheint lt. Verlag 18.1.2023
Übersetzer Julius Sandmeier
Sprache deutsch
Original-Titel Sult
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • 2023 • Avantgarde • eBooks • Erlebte Rede • Henry Miller • Hunger Hamsun • Innerer Monolog • James Joyce • Klassiker der Weltliteratur • Knut Hamsun Hunger deutsch • Kristiana • Kurt Tucholsky • Literarische Moderne • Literarisches Quartett 2023 • Literatur der Moderne • Literaturnobelpreis • Literaturnobelpreisträger • moderne Prosa • Neuerscheinung • Nobelpreis • Norwegen • Norwegische Klassiker • norwegische Literatur • Oslo • Roman Norwegen • Samuel Beckett • Schriftsteller Norwegen • Skandinavien Literatur • Skandinavische Literatur • Thomas Mann • Zivilisationskritik
ISBN-10 3-641-30589-6 / 3641305896
ISBN-13 978-3-641-30589-5 / 9783641305895
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