Erzählungen vom Balkan

Ausgewählt, eingeleitet und aus dem Serbischen übersetzt von Robert Hodel

(Autor)

Buch | Hardcover
364 Seiten
2022
Leipziger Literaturverlag
978-3-86660-293-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erzählungen vom Balkan - Bora Stankovic
29,95 inkl. MwSt
Bora Stankovic hat mit seiner ersten Erzählsammlung "wie ein Blitz in die Literatur eingeschlagen", schrieb der führende Literaturkritiker Jovan Skerlic 1899, und 1902, als der zweite Erzählband herauskam, rief der Dichter Jovan Ducic begeistert aus: "Ich kenne nichts, das wärmer und reizender wäre, und dieser erregte Zustand der Seele, diese Leidenschaft, diese aufgewühlte Wärme, hält sich von der ersten bis zur letzten Zeile."Noch heute berühren Stankovics Geschichten zutiefst, lassen Liebe, Bangen, Mitleid und Sehnsucht erleben - es scheint, dass sich die menschliche Seele nicht in Zeiträumen verändert, die in Jahrhunderten gemessen werden.Dieses Buch versammelt vierzehn Erzählungen und neunzehn Skizzen, die Stankovic von der Jahrhundertwende bis in die 1920er Jahre verfasst hat. Die ersten Geschichten spielen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich Serbiens Südosten vom Osmanischen Reich zu befreien beginnt, die späteren im Belgrad der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.Der Auswahl kanonischer Texte geht eine Einführung in das Leben und Werk des Schriftstellers voraus. Sie bietet einen Einblick in einen historischen Raum, der südslavische, westeuropäische und osmanische Einflüsse in sich vereinigt, und in eine Zeit, die in patriarchal-feudalen Besitzverhältnissen beginnt und mit dem Übergang in eine moderne europäische Gesellschaft endet.Bora Stankovic: geb. 1876 (?) in Vranje, gest. 1927 in Belgrad, zählt zu den wichtigsten Autoren der serbischen Literatur. Sein Theaterstück Kostana ist das meistgespielte Drama des Landes und ist, wie der Roman Hadschi Gajka verheiratet sein Mädchen, mehrfach verfilmt und vertont worden. Seine Erzählungen gehören zu den ersten Prosatexten Europas, die eine offene Sinnlichkeit thematisieren. "Die Seiten, auf denen er die Macht der Leidenschaft beschreibt, sind wahrscheinlich die feurigsten, emotional intensivsten unserer gesamten Literatur." (Mesa Selimovic)Robert Hodel: geb. 1959 in Buttisholz (Luzern), studierte Slavistik, Philosophie und Ethnologie in Bern, Sankt Petersburg und Novi Sad. Seit 1997 ist er Professor für Slavische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg.

Leben und Werk des Schriftstellers Bora Stanković7

Erzählungen vom Balkan125
Aus einem alten Evangelium127
In der Nacht127
Georgstag137
Welke Rose (aus einem Tagebuch)144
Erstes Weinen175
Alte Tage185
Nuška185
In den Weinbergen191
Sie200
Die Frau des Verstorbenen221
Aus meiner Gegend250
Ein verstörender Tag250
Onkel Petar255
Jovča258
Der Herr Tasa274
Die Armseligen286
Seelensamstag286
Manasije290
Ljuba und Naza292
[Allein]297
Die Kräutersammlerin298
Paraputa301
Mase303
Marko304
[Beginn der Befreiung...]305
Der verrückte Rista306
Unter der Okkupation308
Notizen308
Internierung des Buchhändlers Kon308
Für Grigorije Božović308
Zwei Prozessionen am Epiphaniefest310
Belgrader Spaziergänge312
Kalemegdan312
Der Kleine Kalemegdan314
Mein neuer Verleger und Buchverkäufer317
„Der Alte“324
Drückeberger327
Drückeberger327
[Wann immer...]329
Frühe Erzählungen332
In jene Welt332
Heimliche Schmerzen341


Deutsch-serbisches Wörterbuch346
Serbisch-deutsches Wörterbuch351

Aus einem alten Evangelium In der Nacht Cveta saß auf dem Acker und wartete auf ihren Mann Jovan, der Wasser für den Tabak zuleiten wollte. Sie hatten die Pflanzen letzte Woche gesetzt und noch immer waren sie nicht angegossen. Cveta kauerte, ihr Kinn lag auf den an­gezogenen Knien, sie blickte mit schläfrigen Augen in die warme, dunkle Nacht hinaus. Im Osten hoben sich die Umrisse der nahen Hügel und Berg­käm­me dunkel vom tiefroten Himmel ab, der Mond war noch nicht aufgegan­gen. Auf den bepflanzten, von Furchen durchzogenen Äckern arbeiteten in ihrer Nähe überall Menschen im Laternenlicht, und vor ihr, am Fluss und am Weg ent­lang, ragten hohe Pappeln und dichte Weiden empor, die lispelten und schwankten, als seien sie menschliche Gestalten... Hier und da war der dumpfe, metallene Klang einer Haue zu vernehmen, die heiseren Stimmen von Ar­­beitern, deren Zurufe der warme Wind, der leise durch die Ebene strich, so­gleich wieder vertrug. Cveta war erschöpft und müde, kämpfte gegen den Schlaf, als sie plötzlich dumpfe Schritte hörte, die näherkamen. Schon bald erkannte sie die Stimme ihres Mannes. „Hier!“, sagte er zu jemandem, „schau, Bruder, schon das ganze Jahr herrscht Trockenheit, kein Tropfen Wasser ist gefallen... Schau, wie welk alles ist, eine Sünde, nur schon hinzusehen... Da! Von zehn Setzlingen hat nicht einer Wurzeln geschlagen. Ein Elend, sag ich dir!...“ „Schon wahr! Schon wahr!“, erwiderte der andere. „Gott!, wieder er?!“, schreckte Cveta auf, als sie die zweite, weiblich klin­gen­de Stimme erkannte. Sie erhob sich hastig, ergriff die Haue, lief, als würde sie fliehen, in den Acker und begann zu hacken. Jovan trat auf sie zu: „Du arbeitest?“ Er nahm die Haue von der Schulter, schlug sie in die Erde, legte die Laterne ab und setzte sich auf den Flurrand. „Komm her, Gazda Stojan, wandte er sich an seinen Begleiter, der ihm folgte, „komm, setz dich ein bisschen.“ „Gleich, gleich!“, ließ sich die andere Stimme vernehmen. Mit unsicheren Schritten, von einer Furche in die nächste stolpernd, tauchte eine lange, schmächtige Gestalt auf, die ebenfalls eine Laterne und eine Haue trug. „Guten Abend! Ihr arbeitet?“, fragte er leise und irgendwie schüch­tern. Cveta grüßte nicht. Vielleicht war sie in die Arbeit vertieft und hatte ihn nicht gehört. „So quälen wir uns ab, Herr, wie alle armen Schlucker“, gab ihm Jovan zur Antwort und rückte etwas zur Seite, um ihm Platz zu machen. „Setz dich. Ruh dich aus. Möchtest du etwas Tabak?“ „Ja, warum nicht!“ Und um sich blickend, setzte sich Stojan langsam hin, kreuzte die Beine, drehte den Tabak ein und begann hastig, ungeschickt, zu rauchen. Jovan führte seine Klage über die schlimmen Jahre, die schlechten Zeiten, die Gemeinde, die Müller und alle anderen fort, die verhinderten, dass ihm Wasser zugeteilt wurde. Stojan hörte zu, nickte zustimmend mit dem Kopf, rauchte, gab hier und da zerstreut Antwort. Wer weiß, wie lange es noch gedauert hätte, wenn Jovan nicht plötzlich aufgesprungen wäre, um sich über die Erde zu beugen: Er hörte, wie in der Ferne ein Wasserlauf rieselte und schlängelnd in ihre Richtung floss. Voller Freude warf er die Zigarette zu Boden, ergriff die Haue und rannte ohne Laterne dem Wasser entgegen. „Cveta, mach die Furchen bereit“, rief er ihr zu, die weiter entfernt noch immer hackte. „Und du, Gazda, warte, ich komme gleich wieder... E-e-ej!“, rief er fröhlich und gedehnt und tauchte in die Dunkelheit ein. Sein plötzliches Verschwinden schien Stojan zu erschrecken, denn auch er erhob sich, lief hinter ihm her, kam aber sogleich wieder zurück, setzte sich erneut und begann trockene Grashalme auszuzupfen. Er horchte auf Cvetas Schläge. Auf einmal legte er die Hand an den Mund und rief leise in ihre Rich­tung: „Cveta!“ Es kam keine Antwort, er vernahm nur das Schlagen der Haue. „Cveta!“, rief er lauter. Sie schwieg noch immer. „Cveta, hörst du mich?“ Er beugte sich nach vorne, schärfte Ohren und Augen, sah, wie sie sich krümmte und so kräftig die Haue schlug, dass von den Steinen, auf die sie traf, die Funken sprühten. „Cveta, komm, oder...“ – er wollte sich erheben, fuhr jedoch jäh zurück, als er sah, dass sie auf ihn zulief. Sie beugte sich über ihn und fragte ihn gedämpft: „Warum bist du gekom­men?“ „Ich?!“, erschauderte er und schluchzte. „Ich bin nicht..., glaub mir, ich bin nur, weißt du, auf den Acker gegangen, und da bin ich auf deinen Mann ge­stoßen, so... so sind wir zusammen... gekommen! Bist du mir böse?“ „Geh! Augenblicklich!“, gab sie zurück und wandte ihm zornig den Rücken zu. „Du bist mir böse? Sei doch nicht so!“ „Ich bin dir nicht böse.“ Sie begann zu schlucken, als würde sie von Tränen überwältigt. „Ich bin dir nicht böse, aber was werden die Leute sagen! Geh, wenn du Gutes im Sinn hast. Was willst du? Ich bin verheiratet!“ „Das ist wahr“, antwortete er weich. „Wenn es wahr ist, warum kommst du dann? Warum lässt du mich nicht in Ruhe...? Du hast doch Frau und Kinder.“ „Ach“, winkte er ab, „erinnere mich nicht daran“. „Ja, das hast du, und ich? Es fehlt nur noch, dass er davon hört – wohin, wohin soll ich dann gehen?“ „Aber nicht doch, Cveta“, rief er, als er spürte, wie ihre Stimme zitterte und ihr Tränen aufstiegen. „Ich gehe. Gleich. Es stimmt, was du sagst, aber ich... Du kennst mich. Ich bin nur... ich bin gekommen, um dich zu sehen. Und wenn du…, wenn du wirklich willst, dass ich nicht mehr komme, dann will ich mich daran halten... Lebwohl!“ Sie reichte ihm nicht die Hand, wich zurück und sagte scharf: „Lebwohl. Geh.“ „Ech, du bist mir böse!“, antwortete er bestürzt, warf die Haue über die Schulter und ging. Als er verschwunden war, wandte sie sich mit aller Kraft um, als müsste sie sich vor etwas schützen, ergriff ihre Hacke und flüsterte vor sich hin: „Er lügt, er lügt. Er kommt wieder. Och, und was sucht er?“ (Sie wusste es.) Warum lässt er sie nicht in Ruhe? Ihrem Mann darf sie nichts erzählen. Bei einem Tempera­ment wie dem seinen könnte noch Blut fließen... Würden sie sich aber sehen, sich unterhalten, würde man sagen, er kommt zu ihr, ohne dass ihr Mann etwas davon weiß... Und wohin kommen dann ihre Seele und ihr Leib im Jen­seits?... Eine Sünde ist es, eine Sünde... Mutter Gottes!“ Sie bekreuzigte sich, flüsterte ein Gebet! Doch diese warme Nacht, der dumpfe, metallene Klang der Haue und die Bewegungen menschlicher Schat­ten im Schein der düsteren Laternen wühlten sie auf, erfüllten sie mit Angst und süßer Erinnerung. Ihre Gedanken begannen wider alle Bekreuzigungen und Gebete zu schweifen und heraufzuholen, was einst war: – – – – Sie war noch ein Kind gewesen, als ihre bedürftigen Eltern sie als Dienst­botin in Stojans Haus gaben. Man wollte sie auf diese Weise angemessen ver­heiraten. Doch Stojans Vater war ein schroffer und ungehobelter Mensch. Nach seinem finsteren, verschlossenen Gesicht zu urteilen, hatte keiner jemals ein zärtliches Wort von ihm vernommen. Er behandelte selbst seine Frau und sein einziges Kind, Stojan, wie Knechte. Alle fürchteten ihn, zitterten vor ihm. Und wäre nicht Stojans Mutter gewesen, eine warmherzige Frau, hätte wohl auch Cveta das Schicksal ihrer Genossinnen geteilt: Die Mägde reicher Häuser wurden von den Knechten missbraucht, manchmal sogar vom Gazda, oder be­kamen so schwere Arbeit aufgebürdet, dass sie bald gebrochen und mutlos waren. Stojans Mutter gab auf sie acht, weil ihr Kind am liebsten mit ihr, Cveta, spielte. Sie schirmte sie von den Knechten ab und bürdete ihr keine schwe­ren Lasten auf. So wuchs Cveta zu einem schönen, anmutigen Mädchen heran. Ihre Kraft und kernige Schönheit verzückten alle, und am meisten Sto­jan, der später, als er älter wurde, kaum mehr von ihrer Seite wich. Die beiden schienen unzertrennlich zu sein. Überall, auf dem Acker, auf dem Feld, immer waren sie zusammen. Stojan gab ihr auch nie zu spüren, dass sie bei ihnen nur Magd war. Er machte ihr Geschenke, überreichte ihr, vor seinem Vater ver­heimlicht, Korn, Mehl und andere Speisen, die sie ihren armen Eltern brachte. Stojan war mild, friedlich, still; und arbeitsam war er, wie kaum jemand. Ach, diese Tage! Sie gehen auf den Acker, um frische Tabaktriebe auszubrechen. Die Setz­linge reichen ihnen bis zum Gürtel, unter den nackten Füßen bricht und zer­bröckelt die trockene Erde, sie sind von einem unendlichen, üppigen Grün um­geben. Die frische, saubere Luft prickelt, wärmt und treibt ihnen das Blut in die prallen Wangen. Sie arbeiten, brechen die Triebspitzen aus. Vom Fluss her weht ein leiser Wind und trägt ihnen von den abgeernteten Stoppelfeldern den Gesang der Turteltauben entgegen... Sie arbeiten, laufen um die Wette, necken sich, zanken, rücken voneinander ab, als wären sie sich böse. Beide schweigen. Und dennoch blicken sie sich aus den Augenwinkeln heim­lich an; ein trotziges Lächeln umspielt ihre Lippen. Cveta trägt ein enges Jäck­chen und ein Kopftuch, schaut ihn mit einem neckischen, dreisten Lächeln bei­nah verstohlen an, sieht, wie er sich kratzt, sich windet, wie er sie be­trachtet und ihr etwas sagen möchte. Doch sie dreht ihm den Rücken zu, stellt sich ahnungslos. „Cveta!“, sagt er schließlich. „Lass uns singen.“ „Ich will nicht.“ „Warum nicht? Schau, wie ich dich bitte!“ „Ausgerechnet du! Ich will nicht.“ „Aber wenn ich dich doch bitte?“, sagt er mutiger und geht auf sie zu. „Warum ärgerst du mich?“, fragt sie, lacht von Herzen, kommt ihm näher und spielt noch immer die Beleidigte. „Los. Mach schon!“ Sie stimmen ein Lied an, das damals überall bekannt war. Ihre reinen, hel­len Stimmen beben vor Freude. Ihre Hände arbeiten und fliegen, ihre Verse brei­ten sich über die ganze Umgebung aus: Es weht der Wind, es weht der Wind, rote Nelken duften; Der Liebste schreibt ein Büchlein zart seiner Allerliebsten!

Erscheinungsdatum
Übersetzer Robert Hodel
Zusatzinfo historische Fotografien
Verlagsort Leipzig
Sprache deutsch
Maße 140 x 210 mm
Gewicht 506 g
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Schlagworte Erster Weltkrieg • Österreich • Serbien
ISBN-10 3-86660-293-6 / 3866602936
ISBN-13 978-3-86660-293-9 / 9783866602939
Zustand Neuware
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