Der Tote am Urfahraner Markt (eBook)
288 Seiten
Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
978-3-96215-473-8 (ISBN)
3
Es stellte sich heraus, dass es doch keine so gute Idee gewesen war, für die Heimfahrt die schmale, wenig befahrene Straße durch den Wald zu nehmen. Die Brünette hatte schon seit einiger Zeit Probleme mit dem Sehen bei Nacht, und hier war es stockdunkel. Dicht stehende hohe Nadelbäume säumten die Fahrbahn zu beiden Seiten. Straßenlaternen, die ihr den Weg durch die Wohngegenden geleuchtet hatten, gab es in freier Natur nicht mehr. Bis vor wenigen Metern hatte sie sich noch an den weißen Holzpflöcken mit Rückstrahlern orientieren können, aber jetzt fehlten auch die. Sie traute sich nicht, schneller als Schritttempo zu fahren. In der Hoffnung, so ein wenig besser sehen zu können, lehnte sie sich weit nach vorne und kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Wo war denn nur die verflixte Straße? Ah, da! Sie machte eine scharfe Linkskurve. So, jetzt über die Kuppe, sehr gut. Da, eine lange Gerade. Die Frau atmete auf und ließ sich im Sitz zurückfallen. Endlich konnte sie die Straße besser überblicken. Sie wurde mutig, erhöhte die Geschwindigkeit wieder, schaltete in den dritten Gang. Und in den vierten. Jetzt nur noch ...
Der Aufprall war so heftig und kam so unerwartet, dass sie, ohne nachzudenken, reflexartig das Richtige tat. Sie sprang mit beiden Füßen und voller Kraft aufs Bremspedal. Der Wagen kam nach wenigen Metern abrupt zum Stillstand, und der Airbag öffnete sich mit einem so lauten Knall, dass sie vor Schreck alles rund um sich vergaß. Vor allem aber verhinderte er, dass sie mit voller Wucht gegen das Lenkrad geschleudert wurde. Einige Augenblicke lang saß sie regungslos da, den Kopf mit geschlossenen Augen gegen die Sitzlehne gedrückt. Im Wagen war es wieder vollkommen still. Allerdings waren ihre Ohren durch den Knall so in Mitleidenschaft gezogen worden, dass sie bestimmt noch einige Zeit lang Mühe haben würde, gut zu hören. Der Steg ihrer Brille drückte unangenehm gegen die Nase. Ihre Finger betasteten eine Stelle an der rechten Wange. Sie fühlte sich an, als wäre sie verbrannt. Aufstöhnend lehnte sie sich wieder nach vorne, nahm die Brille ab und überprüfte die Gläser. Sie hatten nicht einen einzigen Kratzer abbekommen, obwohl das Gestell leicht verbogen war.
Ein Reh, dachte die Brünette benommen. Das musste ein Reh gewesen sein. Ein sweet little Rehlein! Energisch wies sie sich selbst zurecht. So ein Unsinn! Die Lieder, die ihr immer noch in den Ohren dröhnten, machten sie noch ganz verrückt. Es konnte genauso gut ein Hirsch gewesen sein. Aber wie käme ein Hirsch ins Linzer Stadtgebiet? Der Wald war doch viel zu klein, um scheuen Wildtieren geeigneten Unterschlupf zu bieten. Und warum hatte sie das Tier nicht gesehen? Wieso hatte sie bloß den Weg durch den Wald nehmen müssen? Die Ingrid mit ihrem depperten Prosecco! Wäre sie doch nur die Freistädter Straße gefahren! War sie verletzt?
Sie betastete noch einmal das Gesicht und diesmal auch den Nacken. Sie schien den Unfall unbeschadet überstanden zu haben. Gott sei Dank! Dann warf sie einen prüfenden Blick an sich hinunter. Au, jetzt tat der Nacken doch weh.
Hoffentlich habe ich kein Schleudertrauma, fuhr es ihr durch den Kopf. Sollte sie das zur Sicherheit im Spital abklären lassen? Besser nicht. Dort würde man nur feststellen, dass sie zu viele Promille Alkohol im Blut hatte, um Auto zu fahren.
Vorsichtig bewegte sie die Füße und ließ die Hände kreisen. Das Aufseufzen kam aus tiefstem Herzen. Keine Verletzung. Nur der Atem ging noch immer schnell, und das Herz raste. Die Arme schmerzten und fühlten sich schwer an. Aber das kannte sie. Das war ganz normal, wenn sie sich erschreckte und das Adrenalin ihre Blutbahn überschwemmte. Sie brauchte dringend frische Luft.
Sie drehte den Zündschlüssel einmal um und ließ das Fenster hinunter. Ah, schon besser! Was sollte sie jetzt tun? Weiterfahren, das war ihr erster und einziger Impuls. So schnell wie möglich nach Hause kommen, sich ins Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen und so tun, als wäre nichts geschehen. Wenn man morgen das Tier fand, würde niemand wissen, dass sie etwas mit seinem Tod zu tun hatte. Sie kannte eine Werkstätte im Süden von Linz, da würde man keine unnötigen Fragen stellen und ihr Auto einfach reparieren.
Dann kam ihr ein anderer Gedanke in den Sinn: Was, wenn das Reh nicht tot war? Gab es eigentlich so etwas wie eine Tierrettung? Und wenn ja, war sie verpflichtet, die anzurufen? Aber dann könnte sie gleich die Polizei holen, und das war das Letzte, was sie wollte. Nie mehr trinke ich Prosecco!, schwor sie sich im Stillen. Und Vogelbeerschnaps schon gar nicht. Der hatte ihr ohnehin noch nie geschmeckt, darum hatte sie das Zeug ja auch in einem Zug hinuntergeschüttet. Was war denn das schon wieder? Hatte da etwa jemand gerufen?
Sie schaute aus dem Seitenfenster, konnte aber nichts erkennen. Ein prüfender Blick durch die Windschutzscheibe: Die schmale Straße durch den Wald lag weiterhin ruhig und leer vor ihr. Und doch war sie sich sicher, etwas gehört zu haben. Das war ja richtig unheimlich! Sie spürte, wie ihr die Gänsehaut über den Rücken kroch und ihre Hände leicht zu zittern begannen. Nichts wie weg hier!
Aber konnte man mit einem offenen Airbag überhaupt fahren? Der weiße Sack lag schlaff auf ihren Oberschenkeln. Sie trat auf die Kupplung und drehte den Schlüssel im Zündschloss ein weiteres Mal um. Der Wagen sprang sofort an. Dankbar klopfte sie aufs Lenkrad. Gute japanische Wertarbeit. Erster Gang, ein Tritt aufs Gaspedal. Der Wagen rührte sich nicht vom Fleck. Sie verstärkte den Druck, doch das Auto fuhr keinen Millimeter weit.
»Herrschaftszeiten!«, fluchte sie und hatte Probleme, sich einzugestehen, dass anscheinend ein Hindernis vor ihrem rechten Vorderreifen lag. Etwas, das sie von ihrem Sitz aus nicht sehen konnte, das aber offensichtlich das Rad blockierte. Sie stellte den Motor wieder ab, löste den Gurt und griff zur Tür, um diese vorsichtig zu öffnen. Das mulmige Gefühl verstärkte sich. Was, wenn das Reh doch nicht tot war? Wenn das waidwunde Tier sie angriff? Tiere in Todesangst waren unberechenbar, das wusste sie noch aus ihrer Ausbildungszeit. Sie griff zur weißen Plastiktüte, die auf dem Beifahrersitz lag, und entnahm ihr ein längliches minttürkisfarbenes Kunstlederetui.
Auf dem Urfahraner Markt gab es Zelte, in denen es allerhand Waren zu kaufen gab, nach denen man in den Geschäften der Innenstadt vergeblich suchte. Sie hatte ein schmales Küchenmesser erstanden, dessen tschechischer Verkäufer Stein und Bein schwor, es würde sich bei ihm um ein echtes japanisches Aogami handeln, also ein Messer aus Blaupapierstahl, das mit Chrom und Wolfram legiert wurde und so einen besonders hohen Härtegrad und enorme Robustheit aufwies.
»Hilfe!«, hörte sie in diesem Augenblick eine krächzende Stimme. »So helfen Sie mir doch endlich!«
Die Brünette atmete auf. Nach einem gefährlichen waidwunden Tier klang dieses Geräusch nicht. Sofort erschrak sie über ihre eigene Reaktion. War sie wahnsinnig geworden? Sie hatte offensichtlich einen Mann angefahren. Das war noch viel schlimmer als ein Tier! Aufseufzend stellte sie fest, dass ihr nichts anderes übrig bleiben würde, als nachzusehen, wer der Rufer war. Vielleicht hätte sie es geschafft, ein verwundetes Tier liegen zu lassen, aber bei einem Menschen kam das natürlich nicht in Frage. Allerdings war es in diesem Fall wohl ratsamer, das Messer zu ihrem Schutz mit in die Dunkelheit hinauszunehmen.
Ein weiterer Blick durch die Windschutzscheibe: Es war noch immer nichts zu sehen. Also atmete sie tief durch, nahm allen Mut zusammen und das Messer in die rechte Hand, öffnete die Fahrertür und trat ins Freie. Die Scheinwerfer hatte sie wohlweislich eingeschaltet gelassen, sodass sie den Grund, der sie am Weiterfahren hinderte, sofort sah. Ein völlig verbeultes Fahrrad lag mitten auf der Straße. Wahrscheinlich hatte das Auto es beim Bremsen mitgeschleift.
Aber wo um Himmels willen war der Mensch, der zu diesem Fahrrad gehörte? Sie spürte, wie ihr Herz noch rasender zu klopfen begann und sich Panik in ihrer Brust ausbreitete. Wo war der Mann? War er verletzt? Lauerte er ihr in der Dunkelheit auf, bereit, sich an ihr zu rächen? Hilfesuchend blickte sie sich um. Warum nur kam kein anderes Auto vorbei? Warum half ihr niemand? Sie musste von hier verschwinden! Je eher, desto besser.
Die Brünette legte das Messer ins Gras, um beide Hände frei zu haben. Mit der Kraft der Verzweiflung riss sie am verbeulten Fahrrad und schaffte es tatsächlich, das Hinterrad unter dem Reifen ihres Wagens herauszuziehen.
»Jetzt lassen Sie doch das blöde Radl liegen! Mir müssen Sie helfen!«, hörte sie da wieder die krächzende Stimme.
Die Brünette schleuderte das Rad in hohem Bogen in den Wald, schnappte sich ihr Messer und drehte sich um. Sie entdeckte eine gekrümmte Gestalt auf einer kleinen Wiese neben der Fahrbahn, etwa dreißig Meter vom Auto entfernt. Sie lag auf der Seite, die Hälfte des Gesichts vom Gras und einem schwarzen Stück Stoff verdeckt.
Langsam und zögerlich ging sie näher. »Hallo? Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte sie. »Sind Sie verletzt?«
Sie verharrte im Schritt, um die Antwort abzuwarten, und blinzelte. Ihr eigenes Gesicht wurde jetzt von den roten Rückscheinwerfern ihres Autos angestrahlt, während sich der Mensch auf der Wiese immer noch in völliger Dunkelheit befand.
»Glauben Sie vielleicht, ich liege hier freiwillig herum?«, antwortete die krächzende Stimme auch schon. »Sie haben mich über den Haufen gefahren, also fragen Sie nicht so blöd!«
Dann war es kurz still. Und während die Brünette beschloss, langsam näher zu gehen, und sich dabei den Kopf zerbrach, was sie tun sollte, sprach die Stimme auch schon...
Erscheint lt. Verlag | 21.10.2022 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Buch • Krimi • krimi mit weiblicher ermittlerin • Linz Krimi • Österreich Krimi • Regionalkrimi • Sophia Scheer |
ISBN-10 | 3-96215-473-6 / 3962154736 |
ISBN-13 | 978-3-96215-473-8 / 9783962154738 |
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