Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier (eBook)
192 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77376-5 (ISBN)
Als am 20. Juli 1944 Stauffenbergs Bombe explodiert, ist der Knall in der ganzen Wolfsschanze zu hören. Auch in den Baracken des Sperrkreises II, in denen der Historiker und Obergefreite Dr. Felix Hartlaub am offiziellen Kriegstagebuch der Wehrmacht mitarbeitet. Das Attentat wird für ihn zum Auslöser, insgeheim an seinen in Berlin und im besetzten Paris begonnenen literarischen Aufzeichnungen weiterzuschreiben - »ätzenden Miniaturen der NS-Geselligkeit« (Helmut Lethen), präzisen Innensichten aus der militärischen Befehlszentrale des Dritten Reichs. Darunter ist ein spektakulärer Romanentwurf über die unmittelbaren Nachwirkungen des 20. Juli, der in der Auseinandersetzung mit Stauffenbergs Attentat bislang kaum zur Kenntnis genommen wurde.
<p>Felix Hartlaub, geboren 1913 in Bremen, gestorben (vermisst) 1945 in Berlin.</p>
[Der Zug in den Abgrund]
[Textverlust][Rou]leau, die Lederimitation rollt sich an den Rändern, unten hat er sie gestern mit einem Schnürsenkel festgebunden.
Ein Geschiebe und Geschurre ringsum, eine ununterbrochene geduckte Prozession, keine Flankenfreiheit, Schr. schätzt das garnicht. Und mit einzelnen Lauten greift es auch über das Dach, hat ein Joch über den Zug gelegt, in ein Futteral aus trüber tuschelnder Watte haben sie den Zug gelotst. Aber dann weiss er es auch schon: Sie halten auf dem Bahnhof einer grösseren Station, der Fernschreiber ist angeschlossen, alles völlig planmässig. Und draussen walzt ziviles Reisevolk vorbei, nicht unmittelbar am Zuge, sonst wäre es viel lauter, wahrscheinlich ist der ganze Bahnsteig abgesperrt. Aber auf dem nächsten Bahnsteig walzt es sich um so dichter, mit gedämpften Stimmen, nur die Kinder sind laut, kriegen aber keine Antwort. Die Schultern niedergezerrt durch das schwere Gepäck, Schr. kennt das Bild ja genau, aber die Köpfe alle nach diesem fremdartigen, glatten abweisenden Zug gedreht, dessen Wagen weder Raucher noch Nichtraucher sind[,] weder erster noch dritter Klasse, Schlaf- und Speisewagen aus aller Welt durcheinander, die sollen doch schon längst aus dem Verkehr gezogen sein, sie sind auch alle irgendwie umgeändert, dunkel gespritzt, haben Milchglasscheiben, blaue Scheiben, die meisten Fenster sind noch verdunkelt, die pennen wohl noch alle, die haben ihre Uhren noch nicht umgestellt. Schr. ist jedenfalls froh, dass er gestern das Rouleau festgebunden hat, sonst wäre es am Ende hochgeschnellt heute nacht und das deutsche Volk sähe ihn womöglich hier, wie er am hellichten Tag lang liegt, halbnackt trotz mindestens einem halben Dutzend roter Mitropadecken und offensichtlich noch nicht ganz nüchtern, dazu noch diese Knabenkräuter in der Sektflasche auf der Fensterbank, Gruss aus den bayrischen Kalkalpen.
Soviel getrunken hat er doch eigentlich garnicht, aber jedenfalls zuviel durcheinander. Gegen Steinhäger ist garnichts zu sagen, aber dann soll man sich nicht von den Stabshelferinnen den für sie bestimmten süssen Moscateller zuschieben lassen. Und das mit dem »Türkenblut« war ganz grosser Blödsinn, diese Mischung von Sekt und dem blauen franz. Kommisswein, Marke Arrestzelle am Senegal, mit so etwas haben sie in der graphischen Anstalt Kupferplatten geätzt, sagt Z. Das Kopfweh rührt vor allem daher, dass er sich nichts unter den Kopf gepackt hat. Besser hätte er die blaue zylinderförmige Seitenlehne wieder aufmontiert, nachdem es ihm nicht gelungen war, das Sopha herumzudrehen, [Leerraum] auf der Unterseite befindet sich nämlich, mit Gurten zusammengeschnallt, ein richtiges Bett, aber er hatte einfach nicht mehr den nötigen Murks in den Armen, um die Sache ganz herumzuschwingen, er kam immer nur bis zu 180 °.
Das Licht geht nicht an, zumindestens funktioniert die Zugleine nicht mehr, sie ist so lasch und abgegriffen. Nur die kleine blaue Notbeleuchtung brennt, hat wahrscheinlich die ganze Nacht über gebrannt. Man muss schon die Tür aufmachen, wenn man etwas Helligkeit in das Abteil bekommen will, Schr. angelt mit den Füssen nach seinen Schnürschuhen, löst die Sperrkette, schiebt den Kopf durch die Tür auf den Gang hinaus. Es ist, wie er es sich gedacht hat; volle Tageshelle, gedämpft durch das trübe Glas der Bahnhofshalle, aber schon mit einem deutlichen Schuss Mittag drin. Auf dem Nachbargleis hält ein Güterzug, die schwarzen Fähnchen an den Waggons, ein Pulverzug, keine angenehme Nachbarschaft, die 150 Toten, die die Panzerlehr-Div[ision] auf dem Bahnhof in Wiesbaden gehabt hat, sind auch nur dadurch zu Stande gekommen, dass der Transport neben einem Munitionszug hielt, der gleich bei der ersten Bombe in die Luft geflogen ist. Einer von den dreien wird jedenfalls erschossen, der Chef OKW hat sich persönlich für den Fall interessiert, der Transportführer oder der Bahnhofskommandant oder, wer der dritte war, ist ihm entfallen. Mimi, die Riesin, geht unten zwischen den beiden Zügen lang, mit einem Eimer, sie passt noch gerade in den Zwischenraum, was die dort wohl zu suchen hat, es ist doch alles im Zuge vorhanden, die Abfälle kann man ja auch irgendwo auf freier Strecke rauskippen. Anscheinend hat sie Hausschuhe an, damit geht es sich schlecht auf dem Schotter, sie hat sich wohl nicht durch den Liegewagen getraut, weil vielleicht einige noch nicht nüchtern sind. Er ruft nach ihr hinunter, wie spät es denn eigentlich ist, aber sie hört nicht, die Scheibe ist so dick, er müsste sich auch erst einmal ordentlich räuspern. Schade, dass sie so strohiges glanzloses Haar hat, wie eine Fellmütze sitzt es auf, na, den Kopf muss man sich bei ihr überhaupt wegdenken.
Vielleicht war es doch der Spiess, der an der Tür gerüttelt hat, mag er noch so blau sein, der Mann ist ja so unberechenbar. Er schläft ganze Tage lang, mitten beim Essen schläft er ein, neulich, wie nach dem Kino das Licht wieder anging, schlief er wie mit einer Keule erschlagen, mit der Stirn auf der Heizung, die Brille hing nur noch an einem Ohr. Aber wenn er jemand auf dem Kieker oder etwas bestimmtes vor hat, kann er sich unheimlich zusammennehmen, nichts ist ihm dann anzumerken, nur die Narbe auf der Stirn ist feuerrot, sonst denkt man meistens, es ist nur eine Falte, senkrecht zur Ordensspange, die zu jedem Spiessgesicht mitgeliefert wird, aber im Suff erkennt man, dass es eine Riesennarbe ist, die ganze Stirne akurat in der Mitte gespalten, das halbe Gehirn hat ihm draussen gehangen. Übrigens ist es ziemlich egal, ob er gerüttelt hat oder nicht, der Zusammenstoss mit ihm ist doch kaum noch zu umgehen. Mit allergrösster Wahrscheinlichkeit sitzt er im Speisewagen und spannt auf die Leute, die zu spät zum Frühstück kommen, ach was, das Frühstück schreibt man am besten ganz ab, wenigstens den Kaffee und die Orangenmarmelade. Die Butter lässt man sich dann irgendwann am Nachmittag von Bulli106 in der Spühlküche aushändigen, mag er noch so sehr toben, der Mottenkopp[,] die steht mir ja zu, und wenn sie weg ist, gibt's eine zackige Meldung beim Oberfeldintendanten, damit du Bescheid weisst. Gearbeitet wird ja heute nichts, der Major ist auch frühstens zum Mittagessen wieder flott, das ganze Arbeitsabteil ist ausserdem blockiert durch die Höhensonne, die sie noch ganz zum Schluss hereingepfercht haben. Lagemässig wird sich seit gestern mittag auch kaum etwas geändert haben, wenigstens auf unseren Kriegsschauplätzen, ein Einbruch des Feindes in die Weite des franz. Raumes muss unter allen Umständen verhindert werden, der eigene Grossangriff zur Vernichtung des Feindes im Landekopf ist zur Zeit ausgeschlossen, statt dessen sind Teilschläge in den jetzigen Landekopf, der eng umschlossen zu halten ist u. s. w., kennen wir, kennen wir alles schon von Nettuno her,107 diese Teilschläge sind unsere Art der Bankrotterklärung, es fehlt jetzt nur noch die Weisung über ein neuartiges infanteristisches Angriffsverfahren á la 1918, Sturmbatl., Nachtkampfschulung überraschend, über die Tiefengliederung der Artl., wendige, raffinierte Feuerzusammenfassung u. s. w., die kommt nach den Teilschlägen wie die Lieder der Nat[ionalsozialisten] nach dem Siegheil …
Der Zug setzt sich langsam in Bewegung, Schr. wartet noch eine halbe Minute und lässt dann das Rouleau hochgleiten, was, erst Augsburg, dann müssen sie aber schon eine mächtige Verspätung haben. Alle Dächer sind von neuen roten Ziegeln gesprenkelt, aber von Zerstörungen ist weiter nichts zu sehen, dabei waren hier doch enorme Luftangriffe, wann mag das gewesen sein, doch, da haben sie einem Turm die Zwiebel glatt abgeschlagen, das Zifferblatt der Uhr ist abgerutscht. Und von dem Barackenlager hier stehen nur noch die Öfen auf Backsteinuntersätzen, aber in dem Schwimmbad daneben ist Hochbetrieb, winken tut keiner, wahrscheinlich wieder alles Ausländer. Das Wasser läuft, sogar warm, zuerst mal ordentlich die Zähne putzen.
Draussen singt jemand »Oh Schwarzwald, oh Heimat«, das kann nur Seppl sein. Zwischenhinein flicht er Ketten, kleine drei- bis viergliedrige Guirlanden von Schimpfworten, Mistviecher, Drecktiere, sowas müsste meine Tochter sein, aber die...
Erscheint lt. Verlag | 26.9.2022 |
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Co-Autor | Matthias Weichelt |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Briefe / Tagebücher | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | aktuelles Buch • Berlin • Bibliothek Suhrkamp 1540 • BS 1540 • BS1540 • bücher neuerscheinungen • Drittes Reich • Erinnerungen • Geschichte • Hitler • Nationalsozialismus • Neuerscheinungen • neues Buch • NSDAP • Paris • Stauffenberg • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-518-77376-3 / 3518773763 |
ISBN-13 | 978-3-518-77376-5 / 9783518773765 |
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