Das ganze Leben ist ja ein Traum -  Jens Korbus

Das ganze Leben ist ja ein Traum (eBook)

Charlotte von Stein am 27. Juni 1787 an ihre Schwester

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
184 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7568-2406-9 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
2,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Das ganze Leben ist ja ein Traum ist der 9. Goethe-Roman des Philosophen und Germanisten Jens Korbus. Der Augsburger Literaturwissenschaftler Helmut Koopmann nannte Korbus Erzählungen faktenbasiert. Das ist aber nicht das einzige Merkmal dieser fantasievoll und empirisch angelegten Prosa. Charlotte von Stein zog sich ein halbes Jahr nach ihrer Bekanntschaft mit Goethe in das berühmte Sprudelbad Pyrmont im Fürstentum Waldeck zurück, um über ihre Beziehung nachzudenken. Ihr Seelenarzt Zimmermann, der auch in Pyrmont kurt, lässt sie zu Goethe zurückfinden. Auf der Rückreise macht sie einen Tag Station in Ilmenau, wo Goethe gerade die Silberbergwerke kontrollierte. Aus dem Wiedersehen wird ein neues Zusammenfinden der beiden. Danach weiten sich Charlottes Gedanken aus und umfassen ihr Leben. Ihre Gedankenwelt ist voller Erinnerungen und neu entdeckter Zusammenhänge. Eine Frau, die ihr Jahrhundert betrachtet.

Jens Korbus studierte Germanistik, Philosophie und ein bisschen Schwedisch. Er war Assistent am Germanistischen Institut der Universität Düsseldorf und ging dann in den Schuldienst. Für seinen Brief an Goethe bekam er einen der höchsten Literaturpreise in Rheinland-Pfalz, den Fachinger Kulturpreis. Seine Veröffentlichungen umfassen 35 Bücher, acht davon über Goethe, dessen Umfeld und Motive aus dessen Werk. Darüber hinaus hat er auch einiges über seine Heimatstadt Koblenz und über Ostpreußen geschrieben, das Land, aus dem seine Eltern stammen.

Eins


Eine von Süden nach Norden ansteigende Ebene, die im Sommer von Blumen und Gras bewachsen war. Mitten darin lag der kreisrunde Hyllige Born und der quadratisch eingefasste Brodelbrunnen mit einem hölzernen Rost. Ansonsten gab es in der Umgebung nur das Schloss und einige Bauerndörfer. Pyrmont war ein Modebad von europäischem Rang und hatte sich dadurch schnell zur Stadt nebenan entwickelt. Das Heilwasser wurde auch in bauchigen Flaschen verschickt. Es gab Hauptniederlassungen in Bremen, Hamburg und Amsterdam. Die Nutzung der Quellen und der Handel mit dem Brunnenwasser waren Vorrecht des Fürsten von Waldeck-Pyrmont.

Charlotte wusste, dass die Menschen nicht nur von der Pyrmonter Quelle, sondern auch von ihrem Fluidum affiziert wurden.

Hier, bei ihrem dritten oder vierten Besuch in Pyrmont wurde ihr schnell klar: War sie überhaupt zur Heirat bestimmt? Sie hatte sich damals, dank ihrer Tanzkunst und ihres Fluidums, den bestaussehenden und schönsten Tänzer gegriffen, sich mit ihm verbunden, ihn auch abhängig gemacht. Außer zum Kinderzeugen sah sie ihn niemals, denn er war als Oberstallmeister für den Herzog viel unterwegs. Er aß an der Hoftafel, und hinterher ging es ums Kartenspielen und um Wein. Sein Wasserschloss in Kochberg, das jetzt auch ihr gehörte, war eine Zuflucht für sie geworden. Bezahlt hatte sie mit den sieben schweren Geburten.

Zimmermann hatte ihr gezeigt, wie man verhütete. Aber ihren Spallanzani, der darüber geschrieben hatte, hatte sie selbst gelesen. Dass ein Jesuitenmönch herausgefunden hatte, wie alles vor sich ging! Dank Spallanzanis Büchern wusste sie auch, wie Verdauung funktionierte. Die Pyrmonter Quellen hatten inzwischen einen Ruf.

Sie war ein paar Tage vor Zimmermann in Pyrmont gewesen und war in einem Flügel ihres Hauses abgestiegen. Mittags und abends eine ordentliche Mahlzeit. Die älteren Kurgäste bekamen immer die oberen Sitze. Manchmal aß sie auch im Friedensthal, aber nur wenn es trocken und warm war. Zu den Bällen am Abend ging sie nicht, obwohl sie gerne tanzte. Den Adel erkannte man gleich. Gier, finstere Glut, aber Sitten. Natürlich gab es auch in ihrer Unterkunft Wanzen, wie überall.

Sie war nach Pyrmont gereist, um sich über die Beziehung zu Goethe klarzuwerden. – Sie hatte ja Zeit. Und er würde ihr ins Fürstentum Waldeck schreiben. Ihre Freundin, Isabell von Wartensleben, hatte sie gefragt: „Ist Goethe verführerisch?“ – Natürlich war er das. Aber sie war dreiunddreißig und als sie am Morgen in den Spiegel sah, war sie erschrocken, wie blass und hohlwangig sie war. Ich bin nicht mehr jung, dachte sie. Es wird Zeit, dass ich der Realität ins Auge blicke. Stein ist ein guter Ehemann, aber auch nur das. Sie hatte am Hof Anna Amalias sechs Jahre warten müssen, bis sie sich Stein hatte greifen können. Wer hatte denn von Liebe gesprochen? Es gab ein schönes Gemälde von Francesco Furini: „Die Zeit enthüllt die Wahrheit.“ Aber die Wahrheit änderte sich jeden Tag. Als sie das erkannt hatte, wusste sie, dass sie eine Auszeit brauchte. Wer wollte eine dreiunddreißig Jahre junge Person, die zu Lebensweisheiten neigte, noch haben? Obwohl sie eigentlich noch rösch war und nur ihren letzten Sohn gestillt hatte. – Der junge, glänzende Josefskörper Goethes. Aber alles war zu schnell gegangen. Sie hatte ein Glücksgefühl bekommen, anders als bei Stein. Natürlich konnte eine Frau von dreiunddreißig Jahren einen jungen, berühmten Fant nicht an sich binden, ohne ihm etwas von ihrem Körper zu geben. Danach sofort das Du. Mochte der Hof es ruhig Seelenfreundschaft nennen. Der Leib hatte es der Seele gezeigt. Seelenfeind? – Konnte auch sein! Die Seele war im Leib, jedenfalls für eine Frau mit sieben Kindern. Sie beherrschte die Liebeskunst vollkommen. Und sie war klar und unprätensiös.

Die Männer waren kein verächtliches Geschlecht, wie eine Hofdame behauptet hatte. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie könne eine Romanfigur besser bewerten als einen lebendigen Mann. Wenn es nicht reichte, hatte sie Goethe, der ihr alles erklärte. Was durch seine Vorstellung gegangen war, würde sie nie vergessen. Natürlich redete man in Weimar über ihre Beziehung. Es hatte, seit Goethe in Kochberg gewesen war, immer etwas Hohn, Spott und Herabsetzung gegeben. Liebhaber waren die Norm, wenn die Ehe zu Ende war und die Kinder geboren waren. Aber es war nicht erlaubt, den Stolz des Ehemannes zu verletzen und dadurch seinen eigenen Ruf zu schädigen. Dazu war Charlotte zu sehr im Hof und seinen Intrigen verankert. Die Herzogin Luise würde sich dann vielleicht von ihr abwenden. Sie konnte Stein keine Fallen stellen, dazu war er zu viel unterwegs.

Vielleicht hielt man sie hier in Pyrmont für eine alte Jungfer oder für eine Frau ohne Liebhaber. Wenn sie am Brunnen jemand in einem Gespräch danach fragte, sagte sie, dass es niemand gebe. Sie log gut und unauffällig und verstand es auch, einem Gespräch eine andere Richtung zu geben, ohne dass der Andere es merkte. Man hatte sie vielleicht mit einer Reihe kecker Hofleute in Verdacht, aber auf Goethe war noch niemand gekommen. Ihre Weimarer Wohnung lag zwanzig Minuten von seiner entfernt. Ein paarmal hatte sie ein Armband in seinem Bett vergessen, und er hatte in den Zettelchen, die er jeden Tag an sie schrieb, von „Torheiten“ gesprochen. Sie musste wachsam und geduldig sein. Nie einen Misserfolg haben, nicht einmal andeuten. Dass ihr ihre vier Mädchen gestorben waren, war auch anderen passiert. Die Angst vor einem neuen Kind. Stein war Pietist. Dass er so hervorragend tanzte, hatte sie zusammengebracht. Zehn Jahre lang war sie selbstlos gewesen. – Wenn es Zimmermann nicht gegeben hätte, der sie auch liebte! – Sie war nicht wert, ihm die Schuhriemen zu lösen. – Es gab Frauen, deren Schlaf kein Gewissen störte und die hier im Bad jeden Moment ihres Lebens genossen. – „Obs Unrecht ist, was ich empfinde?“ hatte sie auf die Rückseite eines von Goethes Briefen geschrieben, ihre Antwort aber nicht zurückgeschickt. Das Gedicht hatte bewiesen, mit welcher Willenskraft sie ihren Geliebten gehalten haben musste. Zimmermann hatte gesagt, jetzt, wo sie zehn Jahre verheiratet sei und sieben Kinder habe, könne sie genauso unmoralisch sein, wie jede andere Ehefrau in Weimar. Und bei ihren ungenutzten Kapazitäten sei das überhaupt nicht schlimm. – Sie war trotzdem froh, dass das Körperliche nicht ihr einziger Grund war, Goethe zu lieben. Mit dem Werther hatte er der ganzen Welt bewiesen, dass er liebenswert war. Ihre Kapazität für unmoralisches Handeln war noch lange nicht genutzt. Obwohl man sie für fromm hielt. Ihr Antlitz, das sie am Morgen im Spiegel gesehen hatte, war zwar blass, aber immer noch jünger als das der Frauen um sie herum. – Körper und Geist! Auch ihr Erkenntnisinteresse würde bei Goethe nicht zu kurz kommen. Vielleicht würde sie auch einmal ein Theaterstück schreiben! – Das schöne Geld, das man dafür bekam.

Zimmermann war der Leibarzt des englischen Königs. Er hatte gesagt, dass man im Fürstentum Waldeck alles machen könne, wenn man Geld habe. „Like everywhere“, war er fortgefahren und hatte gelacht. War sie wirklich eine der Frauen, von denen man nur wusste, dass sie nicht mehr ganz jung waren. Sie trug doch keinen Friedhof mit sich herum! Diese Sätze, dass die Zeit alle Wunden heile und dass man alles vergessen könne, auch den größten Schmerz. Sie konnte darüber nur lachen. Sie hatte schon ganz andere Treulosigkeiten überstanden: Einsiedel, Rotberg, Dürkheim!

Ein paar Männer mit Dreispitz, Frauen mit viel zu kleinen Sonnenschirmen, lustwandelten (so nannte man das hier) unter den hohen Baumstämmen. Warum schnallte man sich beim Brunnenspaziergang einen Degen um? Ein paar kleine Hunde sprangen sie an. Sie bückte sich und streichelte sie. Sie mochte Hunde. Goethe nicht. Sie fanden eine leere Bank und die Oboisten stimmten den Morgenpsalm an. Dann englische Tänze. Die Brunnengäste wollten aufgemuntert sein.

„Nur drei Gläser Wasser“, sagte Zimmermann, „zum Baden ist es noch zu früh!“

„Goethe ist so jung“, sagte sie beim Trinken, „aber er hat ein eigentümliches Wissen um die Frauen. Transzendent.“

„Kenntnisse kann er kaum haben“, sagte Zimmermann, „aber er hat die Idee der Frau. Er hat sie aber als eine tiefe innere Formlosigkeit.“

Draußen sah man die feine Welt in vollkommener Bewegung in der großen Allee. Gezeitenwelle beider Geschlechter. Alle noch in Morgenkleidung. Diejenigen, die sich schon um vier Uhr morgens zum Trinken angestellt hatten, mussten der folgenden Welle Platz machen.

„Ich bin eine Frau, und genauso gut wie ihr! Ich will dieses junge Genie haben! Wahrscheinlich war ich es, die ihn nach Weimar gelockt hat. Ich habe geträumt, dass in meinem Gästezimmer ein kleiner Benjaminibaum stand und dabei war, zu vertrocknen. Ich stand auf, um ihm Wasser zu geben, da sah ich, dass es ein Traum war.“

„Natürlich verwirrt der Traum den Geist“, sagte...

Erscheint lt. Verlag 15.9.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
ISBN-10 3-7568-2406-3 / 3756824063
ISBN-13 978-3-7568-2406-9 / 9783756824069
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 928 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die Geschichte eines Weltzentrums der Medizin von 1710 bis zur …

von Gerhard Jaeckel; Günter Grau

eBook Download (2021)
Lehmanns (Verlag)
14,99
Historischer Roman

von Ken Follett

eBook Download (2023)
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
24,99