Mafalda, Tochter des Gauklers (eBook)
213 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7562-1938-4 (ISBN)
1
Am Nachmittag war Orontius seiner Lieblingsbeschäftigung nachgegangen. Der Waldtümpel, an dem er mit seiner Frau und den drei Töchtern sein Lager aufgeschlagen hatte, barg Karpfen und Hechte, die von dem örtlichen Kloster gezogen wurden. Auf seine Anfrage, ob er in dem Tümpel für seine Mahlzeiten fischen dürfte, hatte der klösterliche Teichmeister ihn gebeten, nur die größten Hechte zu nehmen. Der Teich hätte lange gestanden und die Hechte wären zu mächtig geworden. Je größer sie wurden, desto mehr würden sie die Karpfen verzehren, die aber für die Anzucht neuer Hechte gebraucht würden.
Das ließ sich Orontius nicht zweimal sagen. Das Fischen lohnte sich und es machte Spaß. Die Hechte waren von beträchtlicher Größe und ließen sich mit Fröschen an seiner selbstgebauten Angel leicht ködern. Schmunzelnd erinnerte er sich, wie es wieder und wieder an seiner Angel gezuckt hatte. Auch wenn er häufig nur einen kleinen Karpfen aus dem Wasser gezogen hatte, den er kopfschüttelnd wieder in den Teich zurück warf.
Zufrieden blickte Orontius in das wärmende Feuer hinein und erfreute sich seiner Familie. Die Mädchen und seine Frau waren glücklich und hatten genug zu essen. „Wir bleiben für ein paar Wochen hier“, verkündete er. „Ich habe mich mit dem Abt arrangiert. Er zeigt Mitgefühl mit Menschen wie uns und schätzt unsere Weisheiten, die wir aus der Welt mitbringen.“
„Ja, Menschen wie wir“, sagte Mafalda und sah plötzlich traurig aus. „Es ist nicht lange her, da beschimpfte uns ein Vornehmer auf dem Markt als Teufelsgesindel!“ Sie sah zu Dorothea hinüber, die zustimmend nickte.
„Wir hatten unsere Federkleider an und führten den Vogeltanz vor“, erklärte Dorothea. „Was ist daran so schlimm? Die Zuschauer klatschten begeistert und lachten über uns. Haben wir vielleicht zu viel mit den Hüften gewackelt, das seine Wut heraufbeschwor?“
Die Töchter sahen ihren Vater erwartungsvoll an.
„Ihr wisst doch, Frauen werden schnell als Hexen verurteilt, sobald sie sich etwas anders benehmen. Deswegen sollten wir uns vor Leuten wie ihm in Acht nehmen. Außerdem …“, überlegte Orontius kurz, „vergesst nicht, wir sind das fahrende Volk, die Rechtlosen und Heimatlosen, die alles entbehren, was Sicherheit und Ehre gibt. Das Leben dieser Menschen ist umfriedet durch die Grenzzeichen und das Recht einer Heimat. Sie glauben, sie wären besser als wir.“
„Warum brauchen wir das Mitgefühl des Abts?“, fragte Maren. „Auch wenn sie meinen, sie wären besser als wir, sind wir nicht weniger wert als die Sesshaften!“
Orontius dachte kurz nach. „Nun, das fahrende Volk wurde schon immer von den noblen Gesellschaften verachtet. Das macht uns verletzbar und Leute wie dieser Vornehme auf dem Markt ziehen ihren Nutzen daraus.“
„Welchen Nutzen sollte er davon haben, meine Schwestern ein Teufelsgesindel zu nennen?“, fragte Maren.
„Er demonstriert damit seine Macht über andere“, antwortete Orontius. „Es holt das Schlimmste aus dem Menschen heraus, wenn es um den Stand in der Gesellschaft geht.“
„Obwohl wir als Bewahrer unserer heiteren Kunstfertigkeit Geistlichen und Laien sehr willkommen sind und den Vornehmen während ihrer Hof- und Kirchenfeste durch unsere Vorführungen Freude bringen!“, warf Dorothea ein.
„Genau“, stimmte Orontius ihr zu. „Deswegen begreife ich nicht, warum auf uns hinabgesehen wird. Das Schreckliche ist jedoch, dass wir auch als Kinder des Teufels bekannt sind und von der Kirche gehasst werden, egal ob sie protestantisch oder katholisch ist. Es ist eine Schande, dass dem fahrenden Geschlecht das Recht, an den Sakramenten des Christentums teilzunehmen, genommen wird.“
Es entstand eine Pause, in der sich die Familie besann.
„Hat man dich im Kloster, als du Mönch warst, auch verachtet?“, fragte Mafalda.
Orontius überlegte. „Nein, aber ich war immer ein Außenseiter, weil ich gerne Kunststücke vorgeführt habe. Ich konnte mich auf diese Weise mit Gott austauschen. Die anderen beteten nur — tagein und tagaus.“
Vieles hatte sich verändert, seitdem Orontius das Franziskaner-Kloster verlassen und er und Hildegard sich gemeinsam mit ihrer Truppe auf den Weg gemacht hatten. Damals war die Kutsche, die sie Arche nannten und die sie von dem alten Gaukler Eberlein übernommen hatten, für das Paar ausreichend gewesen. Mittlerweile war die Familie in zwei Kutschen untergebracht, denn in der Arche gab es zum Schlafen nicht genug Platz für die Eltern mit ihren drei heranwachsenden Töchtern. Die zweite Kutsche, die die Töchter ihr Nest nannten, war ausschließlich als ihr Schlaf- und Ruhelager eingerichtet, während die Arche auch als Koch- und Aufenthaltsstätte an Regentagen diente.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Waldtümpels hatten die anderen Mitglieder der Truppe ihr Lager aufgeschlagen. Darunter waren der Poet William mit seiner sechsköpfigen Familie, verschiedene Spielleute und ehemalige Nonnen und Mönche, die sich nach und nach Orontius´ Truppe angeschlossen hatten. Die Flammen der einzelnen Lagerfeuer, die sie am Rand des kleinen Gewässers aufgebaut hatten, spiegelten sich auf der glatten Oberfläche des Teiches wider. Sanfte Klänge einer Laute, untermalt von den rhythmischen Schlägen des Tamburins, drangen durch die Natur wie in einer Zauberwelt.
Die Truppe hatte ein Gesetz, nach dem sich jeder richtete: Keiner sollte sich alleine fühlen. Jedoch gab jedes Mitglied dem anderen genügend Raum, um einen respektablen Abstand genießen zu können. Ihr Miteinander gab ihnen gleichzeitig Kraft, die Herausforderungen ihres bunten Lebens zu meistern und sich gegenseitig bei der Versorgung mit den Grundbedürfnissen des Lebens zu unterstützen.
Es gab allerdings einen wesentlichen Unterschied zwischen Orontius´ Töchtern und den anderen, besonders weiblichen Mitgliedern des fahrenden Volkes. Maren, Dorothea und Mafalda konnten lesen und schreiben. Ihr Vater war in allen Fragen des Christentums bewandert, wusste über weltliche Dinge Bescheid und hatte die Fähigkeit, seinen Töchtern alles beizubringen, was man mit Worten ausdrücken konnte. Mit der Zeit hatte jedes der Mädchen seine eigene Handschrift entwickelt, sie konnten Texte lesen und hatten sich ein Wissen angeeignet, von dem ihre Altersgenossen nur träumen konnten. Doch dieses Wissen bedeutete auch eine Gefahr, denn junge Frauen waren gewöhnlich ohne Ausbildung und hatten keine andere Wahl, als zu heiraten und Kinder zu bekommen. Außerdem wurden gebildete Frauen schnell der Hexerei angeklagt, weil sie andersdenkend waren. Auch das wusste Orontius und er ermahnte seine Töchter, in ihrem täglichen Tun vorsichtig, nicht hochmütig gegenüber anderen zu sein und ihre Kenntnisse so gut wie möglich zu verbergen und sie nur für ihre Sicherheit zu nutzen.
Mafaldas Wissensdrang war unerschöpflich. Es fiel ihr schwer, sich unter dem Volk anders zu geben als sie es wirklich war. „Vater, darf ich heute noch einmal die Ikone betrachten?“, fragte sie, während sie sich den süßen Brei in den Mund stopfte.
„Selbstverständlich“, antwortete Orontius und lächelte. „Nur zu, meine Liebe, hole sie dir. Und dann ist es Zeit zum Schlafengehen. Ich wünsche euch eine gesegnete Nacht.“
Die drei Schwestern säuberten ihre Teller und verschwanden in ihr Nest. Noch lange sollte die Kerze an Mafaldas Bettlager nicht ausgehen. Wie so oft zuvor studierte sie die religiöse Szene, die in der kleinen Buchsbaum-Ikone dargestellt war. Ihr Vater hatte ihr deren Bedeutung in allen Einzelheiten erklärt. Dieses winzige Stück, das so klein war, dass sie es in ihrer Handfläche hin und her rollen konnte, spielte in seinem Leben eine wichtige Rolle. Der Erinnerungswert war in ihrem Vater tief verwurzelt. Auch sollte die wertvolle Ikone seine Altersversorgung sein. In Mafalda verursachte die Betrachtung des kleinen Artefakts jedoch etwas ganz anderes; ein brennendes Interesse für alles Antike und Althergebrachte.
An einem Tag im Jahre 1551 geschah etwas, das zu einem Wendepunkt in Mafaldas Leben werden sollte.
Die Familie hatte sich zu einem Umweg über Siegen entschieden, während der Rest ihrer Truppe weiter südöstlich in Richtung Koblenz zog.
Die Stadt Siegen und ihre waldige Umgebung hatte für Orontius´ Familie eine besondere Bedeutung. Seine vor langer Zeit verstorbene Mutter war gebürtige Siegenerin gewesen. Orontius hatte über zwei Jahrzehnte im Siegener Franziskaner-Kloster verbracht. Jahre danach, im August 1534, kam in Flecken, später Freudenberg genannt, einem kleinen Dorf unweit von Siegen, Mafalda zur Welt. Sechs Jahre später wurde das Dorf einschließlich seiner Burg durch ein verheerendes Feuer zerstört. Den Stadtkern, den Flecken, ließ der Graf von Nassau in parallelen Reihen wieder neu erbauen.
Mafalda wollte unbedingt ihren Geburtsort sehen, und da sich die Familie in der Gegend zu Hause fühlte, hatte niemand etwas dagegen.
Auf verschlammten Wegen trudelten sie in Flecken ein und ließen sich zur Feier ihrer Ankunft in einem kleinen Gasthaus nieder, der Fleckerei, wo sie eine herzhafte Niederwild-Platte mit Bohnen und Brot genossen. Es war etwas Besonderes, ein Mahl serviert zu bekommen, ohne dafür arbeiten zu müssen. Als sie wieder mit vollen Bäuchen in ihren Kutschen saßen, um einen Platz für die Nacht zu suchen, war die Stimmung gut. Ein von Bäumen...
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
ISBN-10 | 3-7562-1938-0 / 3756219380 |
ISBN-13 | 978-3-7562-1938-4 / 9783756219384 |
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