Der Klang von Licht (eBook)
304 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60302-7 (ISBN)
Clara Maria Bagus hat im Alter von acht Jahren ihre ersten Geschichten für Zeitungen geschrieben. Sie studierte Psychologie in Konstanz und Stanford und war einige Zeit in der Hirnforschung tätig, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Nach vielen Jahren im Ausland lebt die Bestsellerautorin heute mit ihrem Mann und ihren Zwillingssöhnen in Bern.
Clara Maria Bagus hat in den USA und in Deutschland Psychologie studiert und war einige Zeit in der Hirnforschung tätig. Ihr Lebensweg führte sie über zahlreiche Kontinente. Dort begegneten ihr immer wieder Menschen auf der Suche nach sich selbst. In einer Welt, in der Orientierung schwer zu finden ist, hat sie ihnen durch ihre berührenden Bücher geholfen, den roten Faden ihres Lebens wiederzufinden. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren Zwillingssöhnen in Bern.
Erste Familie
Sie hatte es sofort gewusst. Ohne den Anflug eines Zweifels. Und dann hatte sie gespürt, wie es sich in ihr bewegte.
Sie wollte dieses Kind nicht. Sie wollte ihn. Nicht sein Kind. Aber mit diesem Kind würde sie ihn verlieren.
Was immer sie versucht hatte, um das Baby in ihrem Bauch loszuwerden, es war nicht gewichen. Sie hatte wenig gegessen, sich in enge Kleider geschnürt, auf ihren Bauch geschlagen. Vielleicht, so hatte sie am Anfang noch gehofft, würde das Kind durch ihre Ablehnung aufhören zu wachsen und aus ihrem Leben verschwinden. Aber es verschwand nicht.
Dann kam es zur Welt. Und sie fasste es an, ohne es zu berühren. Schaute es an, ohne es zu sehen.
Nun stand sie im Ruderboot, das auf dem See schaukelte, und hielt dieses Baby in den Armen. Ein Säugling, eingewickelt in ein weißes Leintuch. Ein Kind, nicht ohne Ähnlichkeit mit ihm. Ein Sohn.
Ringsum blitzende Spiegelungen der Bläue. Hier und da Fischreiher, die geräuschlos vorbeiglitten. Weiter entfernt schwammen blühende Inseln wie Gärten voller Frühling. Fragmente, die sich über die Jahrzehnte vom Ufer gelöst hatten. Kormorane stoben als dunkle Wolke in den Himmel empor, ein lautloses Geflatter von Schatten.
Sachte legte sie das Kind zwischen ihre Füße ins Heck, setzte sich auf das Brett und umfasste die Ruder. Die untergespülten Luftblasen zerplatzten.
Lange trieben sie so dahin. Die Bläue des Himmels wurde blasser und blasser, dann durchsichtig und füllte sich schließlich mit dem Schwarz der Nacht.
Über ihr dieser riesige Mond, den die Wolken immer wieder verschleierten und der, wenn sie vorübergezogen waren, wie aus einem leeren Himmel silbernes Licht auf das Kind fallen ließ.
Der Grund des Sees wurde sumpfiger. Sie steuerte das Ruderboot durch Buchten von Schilfgras, bis der Bug schließlich ans sandige Ufer stieß. Mit bloßen Füßen, den langen Rock über den Knien zu einem Knoten gebunden, stieg sie aus dem Boot ins Wasser, schob es am Heck die letzten Meter bis auf den Sand. Einen Arm unter seinen Kopf geschoben, den anderen in den Kniekehlen, hob sie das Baby heraus und stapfte durch die schlammige Erde, bis sie hier und da erste Häuser zwischen dem hohen Schilf ausmachen konnte. Mehrmals sackte sie so tief in den feuchten Boden ein, dass sie beinahe mit dem Kind gestürzt wäre, fing sich aber immer wieder und ging keuchend weiter. Bis das Haus der beiden alten Schwestern aufblitzte, von denen bekannt war, dass sie sich Problemen wie diesem annahmen, und es, gelang es einem, rechtzeitig wieder zu verschwinden, für einen aus der Welt schafften.
Sie legte das Kind vor der Eingangstür auf der Veranda ab und lief davon. Ohne sich ein einziges Mal umzublicken. Paddelte zurück in das ihr zugewiesene Leben – bis die Sonne am Horizont hervorkroch und sich über ihr der weite helle Himmel des anbrechenden Tages ausbreitete wie blanker Hohn.
Sie fanden den Säugling mit den ersten Sonnenstrahlen. An das Leintuch ein bloßer Zettel geheftet, auf dem in zittrigen Buchstaben stand: Eine Handvoll Licht. Sonst nichts. Kein Name. Kein Geburtsdatum. Sodass der kleine Junge auf die Frage, wie alt er sei, später immer antworten würde: »fast sechs«, »etwa acht«, »beinahe zwölf«.
In der kommenden Nacht erwachte erstmals die tiefe Sehnsucht in ihr, ihr Kind in den Armen zu halten. Nicht wie ein Bündel von Problemen. Sondern wie eine Mutter ihr Kind hielt. Sie tastete im Bett neben sich in eine Leere, die sie hochschrecken ließ. Erst jetzt begriff sie, was sie getan hatte. Furcht durchflutete sie. Die Furcht, das eigene Kind nie wiederzusehen. Eine Furcht, die sie fast umbrachte. Und zum ersten Mal im Leben wusste sie wirklich, was Angst ist.
Nur noch zwei Wochen verblieben, bis ihr Mann mit der gemeinsamen zwölfjährigen Tochter von einem sechsmonatigen Streifzug durch die Welt zurückkehrte. Sie hätte ihre Familie begleiten sollen, hatte aber am Abreisetag vorgegeben, sich unwohl zu fühlen. Gesagt, sie käme nach, sobald es ihr besser ginge. Und war nicht nachgekommen. Stattdessen hatte sie ein Kind geboren, von dem niemand wusste.
Hinter ihren Lidern immer wieder das Gesicht des Mannes, den sie liebte und der der Vater war. Der, nachdem sie die Liaison – aufgrund der sie in Panik versetzenden Schwangerschaft – beendet hatte, etwas tat, das entscheidender war als alles andere: Er war für immer aus ihrem Leben verschwunden.
Sie irrte durch die Tage. Als eine Woche vergangen war und sich der Schock über ihren Verzweiflungsakt so tief in Glieder und Seele gefressen hatte, dass sie sich kaum noch zusammenhalten konnte, zog sie sich hastig an und rannte hinunter zum Ufer.
Draußen hing ein bleicher Morgen über dem See. Sie löste das Ruderboot und stieg hinein. Paddelte so schnell sie konnte, ohne einmal innezuhalten. Bis sie sich Stunden später der Siedlung näherte und Stimmen zu ihr hinübertrieben.
Zwischen Büscheln von Schilfgras versteckte sie sich und wartete. Das Haus der Schwestern im Blick. Weißes Holz, vier Pfosten, die die Veranda stützten. Blühende Sträucher davor. Über allem ein leerer Himmel.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sich die Tür schließlich öffnete und jemand heraustrat. Ein Mann. Eine Frau. Und schon erblickte sie ihn. Ihren Sohn. Das schwarze Haar, das wie nasser Stein glänzte. Die winzigen zu Fäusten geballten Händchen. In den Armen dieser Fremden.
Sie musste es gespürt haben. Tief drinnen gefühlt haben, dass ihn jemand genau an diesem Tag holen und für immer von ihr fortbringen würde.
Aus der Entfernung konnte sie das Gesichtchen kaum erkennen, erst recht nicht das Sternenmuster aus Talgdrüsen an seiner linken Stirn, das sie sich so fest eingeprägt hatte. Doch sein leises, helles Wimmern drang bis in ihr Herz.
Ohne dass sie etwas dagegen machen konnte, verschwand ihr Kind hinter dem Schleier ihrer Tränen.
Unsicher trat sie aus ihrem Versteck hervor, doch es war bereits zu spät. Die Fremde drückte den kleinen Jungen fest an sich, strich ihm über den Kopf, küsste ihn auf die Stirn.
Jeder konnte sehen, was diese Frau hinter sich hatte. Jener Moment musste die Befreiung aus einer langen Zeit voller Sehnsucht und Anspannung sein. Zum Greifen nahe war das aufkommende Gefühl überfließenden Glücks dieser Fremden, das gleichzeitig ihr Unglück bedeutete.
Die alten Schwestern hatten schneller als gedacht Eltern für ihr Kind gefunden.
Sie konnte nichts mehr tun. Ihn nur noch mit den Augen festhalten, ihren kleinen Sohn. Und dieser Blick barg mehr Worte, mehr Wahrheit und mehr Liebe, als sie je hätte aussprechen können.
Dann stieg das Paar mit dem Kind in einen Lloyd Alexander TS, dessen apricotfarbener Lack verblichen und kreidig vom Sandstaub war. Im rechten hinteren Kotflügel hatte er eine tiefe Delle, und der Kofferraum schloss nicht richtig. Die Frau hatte mit dem Baby auf der Rückbank Platz genommen. Der Mann ließ den Motor an. Die Räder wirbelten einen Schleier aus Staub auf, in dem die winzigen Sandkörnchen in der Sonne wie Gold funkelten. Dann fuhren sie davon. Der Wagen wurde kleiner und kleiner, schmolz zu einem schwarzen Strich, dann zu einem winzigen Punkt, der sich schließlich auflöste.
Scharf wie eine Messerklinge durchtrennte dieser Augenblick den Faden, der sie mit ihrem Sohn verband.
Mit den Lippen formte sie die Worte: »Ich werde dich finden. Eines Tages werde ich dich wiederfinden«, während er weiter und weiter von ihr fortgetragen wurde. Sie schloss die Lider. Tränen rannen ihr über die Wangen. Als sie die Augen wieder öffnete, waren sie fort, diese Menschen. Mit ihrem Kind.
Dieses letzte Bild – ihr Sohn in den Armen einer fremden Frau – sollte ein Leben lang in ihren Träumen flimmern. Seine kleinen Hände, zu Fäusten geballt, und der Kuss der fremden Frau auf seiner Stirn.
Das Nachmittagslicht strömte herab auf die Blätter der Bäume, auf die Dächer der Häuser, auf den See. Stille. Etwas spülte über sie hinweg wie eine Welle. Und...
Erscheint lt. Verlag | 27.10.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Achtsamkeit • Achtsamkeits-Bestseller • Achtsamkeitsroman • Achtsamkreitsroman • Ajahn Brahm • Bestsellerautorin • Buch für die beste Freundin • Das Café am Rande der Welt • der auszog • Der Duft des Lebens • Die Farbe von Glück • Dobelli • Eine Reise zur Leichtigkeit • Ein Roman über das Ankommen • Geschenkbuch für Frauen • Glück • Inspirational • Inspirierend • John Strelecky • Paulo Coelho • Persönlichkeitsentwicklung • poetisch • Sergio Bambaren • Sinn des Lebens • um den Frühling zu suchen • vom Mann • Vom Mann, der auszog, um den Frühling zu suchen |
ISBN-10 | 3-492-60302-5 / 3492603025 |
ISBN-13 | 978-3-492-60302-7 / 9783492603027 |
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