Der Seufzersee - Lemony Snicket

Der Seufzersee

Eine Reihe betrüblicher Ereignisse

(Autor)

Buch | Hardcover
192 Seiten
2004
Manhattan (Verlag)
978-3-442-54581-0 (ISBN)
13,00 inkl. MwSt
  • Titel ist leider vergriffen;
    keine Neuauflage
  • Artikel merken
Den Fängen Graf Olafs erneut nur um Haaresbreite entkommen, ziehen Klaus, Violet und Sunny zu ihrer Tante Josephine ("Der Seufzersee"). Auch wenn sie in ihrer Obhut nur kalte Gurkensuppe zu essen bekommen, weil Tante Josephine es aus Furcht vor einer Explosion nicht wagt, den Herd anzustellen, und nur in einer Sache furchtlos ist - wenn es nämlich um ihre Leidenschaft für Grammatik geht - fühlen sich die Kinder bei ihr in Sicherheit. Bis der aalglatte Kapitän Talmi auftaucht. Sofort erkennen die Kinder Graf Olaf hinter der Maske, doch die ahnungslose Tante Josephine geht ihm auf den Leim. Wie immer ganz allein auf sich selbst gestellt, müssen die Kinder ein weiteres Mal vor Graf Olaf fliehen. Auf ihrer riskanten Flucht über den Seufzersee geraten sie in einen Hurrikan und müssen es nicht nur mit Graf Olafs grimmigen Kumpanen, sondern auch mit hungrigen Blutegeln aufnehmen. Werden sie es auch diesmal schaffen, dem grässlichen Grafen zu entkommen? Wir haben nicht den Mut, Ihnen die ganze Wahrheit zu verraten.






Lemony Snickets einziger Lebenssinn war es, die Geschichte der Baudelaire-Waisen aufzuzeichnen. Dieses fürchterliche Vorhaben hat ihn zu zahlreichen Schauplätzen äußerst schrecklicher Verbrechen geführt, meist in der Nebensaison. Nachdem diese unmenschlic

Eins Wer die Baudelaire-Waisen nicht kennt, könnte, wenn er sie so am Damokleskai auf ihren Koffern sitzen sieht, annehmen, ihnen stünde ein aufregendes Abenteuer bevor. Schließlich waren die drei Kinder soeben aus der Freudlosen Fähre ausgestiegen, die sie über den Seufzersee gebracht hatte, um bei ihrer Tante Josephine zu leben. Und normalerweise wäre das der Anfang eines aufregenden und erfreulichen Lebens. Aber natürlich wäre eine solche Annahme grundlegend falsch. Denn obwohl Violet, Klaus und Sunny Baudelaire aufregende und unvergessliche Erfahrungen bevorstanden, sollten sie doch nicht in der Art aufregend und unvergesslich sein, wie wenn einem die Zukunft vorausgesagt wird oder man einen Zirkus besucht. Ihre Abenteuer sollten vielmehr so aufregend und unvergesslich sein, als ob man um Mitternacht von einem Werwolf über ein Feld voller Dornengestrüpp gejagt wird und kein Mensch in der Nähe ist, der einem helfen kann. Wenn du eine aufregende, aber erfreuliche Geschichte lesen möchtest, dann muss ich dir leider sagen, dass du mit Sicherheit das falsche Buch in der Hand hast, denn die Baudelaires erleben im Verlauf ihres bedrückenden und jammervollen Lebens nur sehr wenig Erfreuliches. Ihr Unglück ist ganz entsetzlich, so entsetzlich, dass ich mich kaum dazu durchringen kann, darüber zu schreiben. Wenn du also lieber keine tragische und traurige Geschichte lesen möchtest, dann hast du hiermit eine allerletzte Möglichkeit, dieses Buch beiseite zu legen; das Elend der Baudelaire-Waisen beginnt nämlich bereits mit der nächsten Zeile. »Schaut, was ich euch mitgebracht habe«, sagte Mr. Poe. Er grinste über beide Ohren und hielt ihnen eine kleine Papiertüte hin. »Pfefferminzbonbons!« Mr. Poe arbeitete bei einer Bank und musste sich nach dem Tode der Baudelaire-Eltern um die Angelegenheiten der Waisen kümmern. Mr. Poe war ein herzensguter Mann, aber es reicht in dieser Welt nicht aus, herzensgut zu sein, besonders dann nicht, wenn man Kinder vor Gefahren beschützen soll. Mr. Poe kannte die Kinder seit ihrer Geburt; trotzdem hatte er nicht daran gedacht, dass sie gegen Pfefferminzbonbons allergisch waren. »Danke, Mr. Poe«, sagte Violet, nahm die Papiertüte und blickte hinein. Wie die meisten Vierzehnjährigen war Violet zu wohlerzogen, um zu erwähnen, dass sie nach dem Genuss eines Pfefferminzbonbons einen Nesselausschlag erleben würde, was »eine Pustelexplosion, die den Körper für ein paar Stunden mit roten juckenden Placken bedeckt,« bedeutet. Außerdem war sie gerade viel zu sehr mit erfinderischen Überlegungen beschäftigt, um groß auf Mr. Poe zu achten. Jeder, der Violet kannte, wusste, dass, wenn ihr Haar - wie gerade jetzt - mit einem Band zusammengehalten war, um es aus den Augen zu halten, ihr Kopf mit Hebeln, Scheiben, Zahnrädern und anderen Gegenständen angefüllt war, wie man sie für Erfindungen braucht. In diesem Augenblick dachte sie darüber nach, wie sie den Motor der Freudlosen Fähre so verbessern könnte, dass er keinen Rauch mehr in den grauen Himmel spuckte. »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Klaus, das mittlere der Baudelaire-Kinder, lächelnd zu Mr. Poe. Dabei dachte er daran, dass seine Zunge, wenn er nur kurz an einem Pfefferminz lutschte, sofort anschwellen würde und er kaum in der Lage wäre zu sprechen. Klaus nahm seine Brille ab und wünschte, Mr. Poe hätte ihm statt der Bonbons besser ein Buch oder eine Zeitung gekauft. Klaus war eine richtige Leseratte, und kaum hatte er im Alter von acht Jahren bei einer Geburtstagsfeier die erste Erfahrung mit seiner Allergie gemacht, da hatte er sofort alle Bücher seiner Eltern über Allergien gelesen. Noch vier Jahre danach konnte er die chemischen Formeln auswendig, die für das Anschwellen seiner Zunge verantwortlich waren. »Toi!«, quiekte Sunny. Die Jüngste der Baudelaires war noch ein Kleinkind, und wie die meisten Kleinkinder sprach sie überwiegend in Worten, die schwer zu verstehen waren. Mit »Toi!« meinte sie wahrscheinlich: »Ich habe noch nie ein Pfefferminzbonbon gegessen, weil ich befürchte, dass ich wie meine Geschwister allergisch dagegen bin«, aber ganz sicher konnte man sich da nicht sein. Es wäre auch möglich, dass sie sagen wollte: »Ich wünschte, ich könnte in ein Pfefferminzbonbon beißen, denn ich liebe es, mit meinen vier scharfen Zähnen in Dinge zu beißen, aber ich möchte lieber keine allergische Reaktion riskieren.« »Ihr könnt sie während der Taxifahrt zum Haus von Mrs. Anwhistle lutschen«, sagte Mr. Poe und hustete in sein weißes Taschentuch. Er war anscheinend immer erkältet, und die Baudelaire-Waisen waren schon daran gewöhnt, alle Mitteilungen von ihm zwischen Anfällen von trockenem Husten und Krächzen zu erhalten. »Sie lässt sich entschuldigen, dass sie euch nicht vom Kai abholt, aber sie hat Angst davor.« »Warum sollte sie Angst vor einem Kai haben?«, fragte Klaus und blickte sich nach den hölzernen Landestegen und den Segelbooten um. »Sie hat vor allem Angst, was mit dem Seufzersee zu tun hat«, sagte Mr. Poe, »aber sie hat nicht gesagt, warum. Vielleicht hat es mit dem Tod ihres Mannes zu tun. Eure Tante Josephine - in Wirklichkeit ist sie natürlich nicht eure Tante, sondern die Schwägerin eurer Kusine zweiten Grades, aber sie hat darum gebeten, dass ihr sie Tante Josephine nennt -, eure Tante Josephine hat kürzlich ihren Mann verloren, und es könnte sein, dass er ertrunken oder bei einem Bootsunglück umgekommen ist. Ich hielt es für unhöflich, nachzufragen, wie sie zur Witwe geworden ist. Nun, dann will ich euch mal in ein Taxi verfrachten.« »Was bedeutet dieses Wort?«, fragte Violet. Mr. Poe blickte Violet mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ich bin erstaunt über dich, Violet«, sagte er. »Ein Mädchen in deinem Alter sollte eigentlich wissen, dass ein Taxi ein Auto ist, das dich gegen eine Gebühr irgendwohin bringt. Also lasst uns euer Gepäck zusammensuchen und an die Bordsteinkante treten.« »Wittib«, flüsterte Klaus Violet zu, »ist ein hochgestochenes Wort für Witwe.« »Danke«, flüsterte sie zurück und nahm ihren Koffer in die eine Hand und Sunny an die andere. Mr. Poe schwenkte sein Taschentuch in der Luft, um ein Taxi herbeizurufen; im Nu verstaute der Taxifahrer das ganze Gepäck der Baudelaires im Kofferraum, und Mr. Poe verstaute die Baudelaire-Kinder auf dem Rücksitz. »Ich verabschiede mich hier von euch«, sagte Mr. Poe. »In der Bank wird schon gearbeitet, und ich bekomme nichts mehr geschafft, wenn ich euch begleite. Grüßt eure Tante bitte von mir, und richtet ihr aus, dass ich in Verbindung mit ihr bleiben werde.« Mr. Poe machte eine Pause und hustete in sein Taschentuch, bevor er fortfuhr: »Also, Josephine hat ein wenig Angst davor, drei Kinder in ihrem Haus zu haben, aber ich habe ihr versichert, dass ihr euch sehr gut zu benehmen wisst. Passt also auf und achtet auf eure Manieren. Wie immer könnt ihr mich in der Bank anrufen oder mir ein Fax schicken, wenn es irgendein Problem gibt. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass diesmal irgendetwas schief geht.« Als Mr. Poe »diesmal« sagte, blickte er die Kinder bedeutungsvoll an, als ob es ihre Schuld wäre, dass Onkel Monty tot war. Die Baudelaires waren jedoch vor dem Treffen mit ihrem neuen Vormund zu nervös, um Mr. Poe mehr zu sagen als »bis dann«. »Bis dann«, sagte Violet und steckte die Tüte mit den Pfefferminzbonbons in die Tasche. »Bis dann«, sagte Klaus und warf einen letzten Blick auf den Damokleskai. »Frul!«, kreischte Sunny und kaute auf dem Verschluss ihres Sicherheitsgurtes herum. »Bis dann«, erwiderte Mr. Poe, »und viel Glück. Ich werde so oft wie möglich an euch denken.« Mr. Poe gab dem Taxifahrer etwas Geld und winkte den drei Kindern zum Abschied nach, als das Auto vom Bordstein abfuhr und in eine graue Straße mit Kopfsteinpflaster einbog. Sie kamen an einem kleinen Lebensmittelgeschäft vorbei, vor dem Fässer mit Limetten und Rüben standen. Sie sahen ein Kleidergeschäft namens "Das könnte Ihnen so passen!", das offenbar gerade renoviert wurde. Und da war ein fürchterlich aussehendes Restaurant "Zum Bangen Clown" mit Neonleuchten und Luftballons im Fenster. Die meisten Läden und Geschäfte jedoch waren mit Brettern oder Metallgittern vor Fenstern und Türen verrammelt. »Die Stadt scheint nicht gerade sehr bevölkert«, bemerkte Klaus. »Ich hatte gehofft, wir könnten hier ein paar neue Freunde finden.« »Die Saison ist vorbei«, sagte der Taxifahrer, ein dürrer Mann, dem eine dünne Zigarette aus dem Mundwinkel hing, und während er mit den Kindern sprach, betrachtete er sie im Rückspiegel. »Die Stadt Seufzersee ist ein Kurort, und wenn schönes Wetter herrscht, ist sie gestopft voll. Aber um diese Zeit ist alles so tot wie die Katze, die ich heute Morgen überfahren habe. Um neue Freunde zu finden, müsst ihr warten, bis das Wetter etwas besser wird. Übrigens: Der Hurrikan Hermann wird in etwa einer Woche in der Stadt erwartet. Ihr solltet dafür sorgen, dass ihr genug Verpflegung da oben im Haus habt.« »Ein Hurrikan auf einem See?«, fragte Klaus. »Ich dachte immer, Hurrikane kommen nur in der Nähe des Meeres vor.« »Auf einem Gewässer so groß wie der Seufzersee«, sagte der Fahrer, »kann alles passieren. Ehrlich gesagt hätte ich etwas Angst, oben auf dieser Anhöhe zu wohnen. Wenn der Sturm erst einmal losbricht, wird es schwierig, den ganzen Weg hinab in die Stadt zu fahren.« Violet, Klaus und Sunny sahen zum Fenster hinaus und verstanden, was der Fahrer mit »den ganzen Weg hinab« gemeint hatte. Das Taxi hatte eine letzte Kurve umrundet und war auf der zerklüfteten Kuppe eines ganz, ganz hohen Hügels angekommen. Ganz, ganz tief unten konnten die Kinder die Stadt sehen, die Straße mit dem Kopfsteinpflaster, die sich wie eine winzige graue Schlange um die kastenförmigen Gebäude wand, und das kleine Viereck des Damokleskais mit stecknadelkopfgroßen hin und her eilenden Menschen darauf. Und jenseits des Kais sah man wie einen Tintenklecks den Seufzersee, riesig und finster, als ob ein Ungeheuer über den drei Waisenkindern stünde und einen riesigen Schatten nach unten würfe. Für ein paar Augenblicke starrten die Kinder auf den See, wie hypnotisiert von diesem gigantischen Fleck auf der Landschaft. »Der See ist wirklich gigantisch«, sagte Klaus, »und wie tief er aussieht. Ich kann fast verstehen, warum Tante Josephine sich vor ihm fürchtet.« »Die Dame, die hier oben lebt«, fragte der Taxifahrer, »fürchtet sich vor dem See?« »Das hat man uns gesagt«, antwortete Violet. Der Fahrer schüttelte den Kopf und hielt an. »Ich kapier nicht, wie sie's dann hier aushalten kann.« »Wie meinen Sie das?«, fragte Violet. »Wollt ihr sagen, ihr wart noch nie in diesem Haus?«, fragte er. »Nein, niemals«, antwortete Klaus. »Wir kennen auch unsere Tante Josephine nicht.« »Also, wenn eure Tante Josephine Angst vor dem Wasser hat«, sagte der Taxifahrer, »dann glaube ich nicht, dass sie in diesem Haus wohnt.« »Wie meinen Sie das?«, fragte jetzt Klaus. »Schaut euch doch mal um«, sagte der Fahrer und stieg aus. Die Baudelaires schauten sich um. Zunächst sahen die drei Kinder nur einen kleinen viereckigen Kasten mit einer Tür, von der die weiße Farbe abblätterte, und es sah aus, als wäre das Haus kaum größer als das Taxi, das sie hierher gebracht hatte. Aber als sie aus dem Wagen kletterten und näher an das Haus herangingen, sahen sie, dass dieser kleine Kasten der einzige Teil des Hauses war, der sich auf der Kuppe des Hügels befand. Der Rest - eine ganze Reihe viereckiger Schachteln, die wie Eiswürfel zusammenklebten - hing über die Kante des Hügels und war nur mit langen Metallstelzen an ihm befestigt, die wie Spinnenbeine aussahen. Als die drei Waisenkinder auf ihr neues Zuhause herabblickten, hatten sie den Eindruck, dass das ganze Haus sich krampfhaft an den Hügel klammerte. Der Taxifahrer holte ihr Gepäck aus dem Kofferraum, stellte es vor die Tür, von der die weiße Farbe abblätterte, verabschiedete sich mit einem Tuut seiner Hupe und fuhr den Hügel hinab. Mit einem leisen Quietschen öffnete sich die Haustür und dahinter erschien eine bleiche Frau. Ihr weißes Haar trug sie hoch oben auf dem Kopf zu einem Knoten gebunden. »Hallo«, sagte sie mit einem dünnen Lächeln. »Ich bin eure Tante Josephine.« »Hallo«, sagte Violet unsicher und trat vor, um ihren neuen Vormund zu begrüßen. Hinter ihr trat Klaus vor, und hinter ihm kroch Sunny. Alle drei Baudelaires bewegten sich ganz vorsichtig, als könnte ihr Gewicht das Haus aus seiner heiklen Lage kippen. Die Waisenkinder fragten sich, wie eine Frau, die solche Angst vor dem Seufzersee hatte, in einem Haus leben konnte, das jeden Augenblick in dessen Tiefen zu stürzen drohte. Zwei »Das ist die Heizung«, sagte Tante Josephine und deutete mit einem bleichen, mageren Finger auf einen Heizkörper. »Fasst sie bitte niemals an. Vielleicht findet ihr es hier bei mir etwas kühl. Aber ich stelle die Heizung nie an, weil ich Angst habe, sie könnte explodieren; daher wird es abends oft sehr kalt.« Violet und Klaus blickten sich kurz an, und Sunny blickte beide an. Tante Josephine führte sie durch ihr neues Zuhause, und bislang schien sie vor allem Angst zu haben, vom Fußabtreter am Eingang, über den man, wie Tante Josephine erklärte, stolpern und sich das Genick brechen könnte, bis zum Sofa im Wohnzimmer, das, wie sie meinte, jederzeit umkippen und sie erschlagen könnte. »Hier ist das Telefon«, sagte Tante Josephine und zeigte auf das Telefon. »Man sollte es nur im Notfall benutzen, denn es besteht die Gefahr, dass man sich einen tödlichen Stromschlag holt.« »Ich habe«, sagte Klaus, »viel über Elektrizität gelesen. Ich bin ziemlich sicher, dass das Telefon völlig ungefährlich ist.« Tante Josephines Hände flatterten zu ihrem weißen Haar, als ob ihr etwas auf den Kopf gesprungen wäre. »Man darf nicht alles glauben, was man liest«, erklärte sie. »Ich habe mal ein Telefon aus allen Einzelteilen zusammengebaut«, sagte Violet. »Wenn du magst, könnte ich das Telefon auseinander nehmen und dir zeigen, wie es funktioniert. Vielleicht fühlst du dich dann sicherer.« »Das glaube ich nicht«, sagte Tante Josephine mit gerunzelter Stirn. »Delmo!«, war Sunnys Beitrag, was vermutlich etwas bedeutete wie: »Wenn du willst, beiße ich in das Telefon, um dir zu zeigen, dass es ungefährlich ist.« »Delmo?«, fragte Tante Josephine, während sie sich bückte und einen Fussel vom Teppich mit dem verblichenen Blumenmuster aufhob. »Was meinst du mit ›delmo‹? Ich betrachte mich als Sprachexpertin, aber ich habe keine Idee, was das Wort ›delmo‹ bedeutet. Welche Sprache spricht Sunny?« »Sunny spricht noch nicht flüssig, fürchte ich«, sagte Klaus und hob seine kleine Schwester hoch. »Meistens nur Kleinkindergebrabbel.« »Gran!«, kreischte Sunny, was in etwa bedeutete: »Ich protestiere dagegen, dass du das Kleinkindergebrabbel nennst!« »Nun gut, dann muss ich ihr die richtige Sprache beibringen«, sagte Tante Josephine steif. »Ich bin sicher, ihr braucht eigentlich alle drei etwas Nachhilfe in Grammatik. Grammatik ist das größte Vergnügen im Leben, findet ihr nicht?« Die drei Geschwister schauten sich an. Violet hätte wahrscheinlich eher gesagt, dass Erfindungen zu machen das größte Vergnügen im Leben sei, und Klaus dachte das vom Lesen, und für Sunny gab es natürlich kein größeres Vergnügen, als in Dinge zu beißen. Die Baudelaires dachten über Grammatik, all diese Regeln für das Schreiben und Sprechen einer Sprache, wie sie auch über Bananenkuchen dachten: ganz nett, aber nichts, worüber man sich groß aufregen sollte. Doch sicher wäre es unhöflich, Tante Josephine zu widersprechen. »Ja«, sagte Violet schließlich. »Grammatik haben wir immer gemocht.« Tante Josephine nickte und schenkte den Baudelaires ein flüchtiges Lächeln. »Ich bringe euch jetzt auf euer Zimmer, und den Rest der Besichtigung machen wir nach dem Abendessen. Wenn ihr diese Tür öffnet, drückt nur hier gegen das Holz. Benutzt niemals den gläsernen Türgriff. Ich habe immer Angst, dass er in tausend Stücke zerspringt und eins davon mir ins Auge fliegt.« Die Baudelaires glaubten allmählich, dass sie keinen einzigen Gegenstand im ganzen Haus berühren durften, aber sie lächelten Tante Josephine zu, drückten gegen das Holz und öffneten so die Tür. Dahinter zeigte sich ein geräumiges, helles Zimmer mit kahlen weißen Wänden und einem schlichten blauen Teppich. Da standen zwei große Betten und ein großes Kinderbettchen, offenbar für Sunny. Alle drei waren mit einer schlichten blauen Tagesdecke bedeckt, und an jedem Fußende stand eine mächtige Truhe, in der man Sachen aufbewahren konnte. An einem Ende des Zimmers befand sich ein großer Kleiderschrank für sie gemeinsam, ein kleines Fenster zum Hinausschauen und ein mittelgroßer Haufen von Blechdosen zu keinem erkennbaren Zweck. »Es tut mir Leid, dass ihr drei euch ein Zimmer teilen müsst«, sagte Tante Josephine, »aber dieses Haus ist nicht allzu groß. Ich habe mir Mühe gegeben, alles bereitzustellen, was ihr braucht, und ich hoffe, dass ihr es bequem habt.« »Ganz bestimmt«, sagte Violet und trug ihren Koffer in das Zimmer. »Vielen Dank, Tante Josephine.«

Reihe/Serie Eine Reihe betrüblicher Ereignisse
Illustrationen Brett Helquist
Übersetzer Klaus Weimann
Sprache deutsch
Original-Titel A Series of Unfortunate Events - The Wide Window
Maße 125 x 187 mm
Gewicht 305 g
Einbandart Leinen
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte Antolin (6. Klasse)
ISBN-10 3-442-54581-1 / 3442545811
ISBN-13 978-3-442-54581-0 / 9783442545810
Zustand Neuware
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Mehr entdecken
aus dem Bereich