Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904 (eBook)

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2017 | 1. Auflage
613 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490511-2 (ISBN)

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Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904 -  Sigmund Freud,  Wilhelm Fließ
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Sigmund Freuds Briefe an seinen nahen Freund Wilhelm Fließ, den Berliner Hals-Nasen-Ohrenarzt und Biologen, transkribiert von Gerhard Fichtner und hier ohne Kürzung veröffentlicht, sind das bewegende tagebuchartige Protokoll der tiefen wissenschaftlichen und persönlichen Krise, aus der Freud, von der akademischen Welt isoliert, in den neunziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts das Paradigma der Psychoanalyse entwickelte. Der Leser kann gleichsam die Geburt eines Ideensystems miterleben, welches wie kaum ein zweites das Denken unserer modernen Zeit geprägt, das Wissen des Menschen über sich selbst von Grund aus revolutioniert hat.

Sigmund Freud, geb. 1856 in Freiberg (Mähren); Studium an der Wiener medizinischen Fakultät; 1885/86 Studienaufenthalt in Paris, unter dem Einfluss von J.-M. Charcot Hinwendung zur Psychopathologie; danach in der Wiener Privatpraxis Beschäftigung mit Hysterie und anderen Neurosenformen; Begründung und Fortentwicklung der Psychoanalyse als eigener Behandlungs- und Forschungsmethode sowie als allgemeiner, auch die Phänomene des normalen Seelenlebens umfassender Psychologie. 1938 emigrierte Freud nach London, wo er 1939 starb.

Sigmund Freud, geb. 1856 in Freiberg (Mähren); Studium an der Wiener medizinischen Fakultät; 1885/86 Studienaufenthalt in Paris, unter dem Einfluss von J.-M. Charcot Hinwendung zur Psychopathologie; danach in der Wiener Privatpraxis Beschäftigung mit Hysterie und anderen Neurosenformen; Begründung und Fortentwicklung der Psychoanalyse als eigener Behandlungs- und Forschungsmethode sowie als allgemeiner, auch die Phänomene des normalen Seelenlebens umfassender Psychologie. 1938 emigrierte Freud nach London, wo er 1939 starb.

[Manuskript B][92]


Die Ätiologie der Neurosen[93]

8.2.93[94]

Ich schreibe die ganze Geschichte für Dich, lieber Freund, und unsere gemeinsame Arbeit zum zweiten Mal. Vor Deiner jungen Frau wirst Du das Manuskript ja doch verwahren.

I. [Die Neurasthenie]


Daß ⌈die⌉ Neurasthenie eine häufige Folge abnormen Sexuallebens ist, darf als bekannt gelten.[95] Die Behauptung aber, die ich aufstellen und an den Beobachtungen prüfen möchte, ist die, daß die Neurasthenie überhaupt nur eine sexuelle Neurose ist.

Mit Breuer habe ich für die Hysterie einen ähnlichen Standpunkt vertreten. Die traumatische Hysterie war bekannt; wir sagten dann: jede Hysterie, die nicht eine hereditäre ist, ist eine traumatische.[96] So nun für die Neurasthenie; jede Neurasthenie soll eine sexuelle sein.

Wir lassen zunächst dahingestellt, ob hereditäre Disposition und in zweiter Linie toxische Einflüsse echte Neurasthenie erzeugen können oder ob auch die scheinbar hereditäre Neurasthenie auf frühzeitige sexuelle Abnützung zurückgeht. Wenn es hereditäre Neurasthenie gibt, erheben sich die Fragen, ob der Status nervosus der ⌈Heredität⌉ nicht von Neurasthenie noch zu unterscheiden ist, was es überhaupt mit den entsprechenden Symptomen des Kindesalters für Bewandtnis hat u.dgl.

Die Behauptung sei also zunächst auf die erworbene Neurasthenie eingeschränkt. Dann will obige Behauptung etwas sagen, was man auch so fassen kann: In der Ätiologie einer nervösen Affektion sind zu unterscheiden 1. die notwendige Bedingung, ohne die der Zustand überhaupt nicht zustandekommt, und 2. die veranlassenden Momente.[97] Das Verhältnis der beiden kann man sich so vorstellen: Hat von der notwendigen Bedingung genug eingewirkt, so stellt sich die Affektion als notwendige Folge ein; hat von derselben nicht genug eingewirkt, so resultiert aus dieser Einwirkung zunächst eine Disposition zu jener Affektion, die aufhört latent zu sein, sobald ein genügendes Maß eines der Momente zweiter Ordnung hinzutritt. Also, was an der ersten Ätiologie zur vollen Wirkung fehlt, kann durch Ätiologie zweiter Ordnung ersetzt werden, die Ätiologie zweiter Ordnung ist aber entbehrlich, die erster ⌈Ordo⌉ unentbehrlich.

Dieses ätiologische Schema auf unseren Fall angewendet besagt: Sexuelle Abnützung kann für sich allein Neurasthenie provozieren; wo sie allein dazu nicht hinreicht, hat sie das Nervensystem so weit disponiert, daß jetzt körperliche Erkrankung, depressiver Affekt und Überarbeitung (toxische Einflüsse) nicht ohne Neurasthenie vertragen werden. Ohne sexuelle Abnützung sind aber alle diese Momente nicht imstande, Neurasthenie zu erzeugen, sie machen normal müde, normal traurig, normal körperschwach, aber sie liefern immer nur den Beweis, was »an diesen schädlichen Einflüssen ein gesunder Mensch vertragen kann«[98].

Behandeln wir gesondert die Neurasthenie der Männer und Frauen.

Die Neurasthenie der Männer wird erworben im Pubertätsalter und tritt in den zwanziger Jahren in Erscheinung. Ihre Quelle ist die Masturbation, deren Häufigkeit ⌈durchwegs der Häufigkeit#x2309; der Neurasthenie der Männer parallel läuft. Man kann in seinem Bekanntenkreise die Erfahrung machen, daß jene Personen der Neurasthenie entgangen sind, denen frühzeitig weibliche Verführung genaht ist, wenigstens in [der] Stadtbevölkerung. Wo nun diese Schädlichkeit lange und intensiv eingewirkt, da macht sie den Betreffenden zum sexuellen Neurastheniker, der auch an seiner Potenz Schaden gelitten hat; der Intensität der Ursache entspricht der lebenslange Verbleib des Zustandes. Ein fernerer Beweis für den Kausalzusammenhang liegt auch darin, daß der sexuelle Neurastheniker immer gleichzeitig ein allgemeiner Neurastheniker ist.

Wo die Schädlichkeit nicht intensiv genug war, hat sie nach vorstehendem Schema disponierend gewirkt, um später unter Zutritt der provozierenden Momente Neurasthenie zu produzieren, welche diese Momente allein nicht produziert hätten. Kopfarbeit – Cerebr[al]asthenie, normale Sexualarbeit – Spinalneurasthenie u.dgl.

In Mittelfällen entsteht die typisch mit Dyspepsie etc. beginnende und ablaufende Neurasthenie der Jugendjahre, die dann mit der Heirat abschließt.

Die zweite Schädlichkeit, welche ein anderes Alter der Männer[99] trifft, stößt entweder auf ein intaktes oder auf ein durch Masturbation zur Neurasthenie disponiertes Nervensystem. Es ist die Frage, ob sie auch im ersten Falle schädliche Wirkungen entfalten kann; wahrscheinlich ja. Manifest ist ihr Einfluß im zweiten Falle, wo sie die Neurasthenie der Jugend wieder aufleben läßt und neue Symptome schafft. Diese zweite Schädlichkeit ist der Onanismus coniugalis, der unvollständige Beischlaf zur Verhütung der Konzeption. Für den Mann scheinen hier alle Arten desselben nebeneinander zu rangieren, je nach früherer Disposition verschieden intensiv wirksam, aber nicht eigentlich qualitativ verschieden. Von stark Disponierten oder fortdauernd Neurasthenischen wird bereits der normale Koitus nicht vertragen, dann rächt sich die Intoleranz gegen Kondom, äußerlichen Koitus und Coitus interruptus.

Der Gesunde verträgt alles das recht lange, aber auch nicht auf die Dauer, nach längerer Zeit verhält er sich wie der Disponierte, er genießt vor dem Onanisten nur das Vorrecht der größeren Latenz oder bedarf jedesmal der provozierenden Ursachen. Coitus interruptus erweist sich hier als die Hauptschädlichkeit, die auch beim nicht Disponierten ihre charakteristische Wirkung erzeugt.

Die Neurasthenie der Frauen.

Das Mädchen ist normalerweise frisch, nicht neurasthenisch. – Auch die junge Frau ist es trotz aller sexuellen Traumen dieser Zeit. In selteneren Fällen zeigt sich Neurasthenie bei Frauen und alten Mädchen rein und ist dann als spontan entstandene, auf die gleiche Art entstandene Neurasthenie anzusehen. Weit häufiger ist die Neurasthenie der Frauen von der der Männer abgeleitet oder mit ihr zugleich erzeugt. Sie ist dann fast immer mit Hysterie gemengt, die gewöhnliche gemischte Neurose der Frauen.

Die gemischte Neurose der Frauen entsteht aus der Neurasthenie der Männer in all den nicht seltenen Fällen, wo der Mann als sexueller Neurastheniker Einbuße an seiner Potenz erlitten hat. Die Beimengung der Hysterie resultiert direkt aus der zurückgehaltenen Erregung des Aktes. Je schlechter die Potenz des Mannes, desto mehr wiegt die Hysterie der Frau vor, so daß der sexuelle Neurastheniker seine Frau eigentlich nicht so sehr neurasthenisch als hysterisch macht.

Sie entsteht mit der Neurasthenie der Männer bei dem zweiten Schub sexueller Schädlichkeit, welche[r] für die als frisch angenommene Frau die bei weitem größere Bedeutung hat. So daß man im ersten Dezennium der Pubertät weit mehr Männer, im zweiten weit mehr Frauen nervös sieht. Sie resultiert hier aus den Schädlichkeiten zur Verhütung der Konzeption. Die Reihe derselben aufzustellen, ist nicht leicht, im allgemeinen dürfte nichts als ganz harmlos für die Frau gelten, so daß diese als der anspruchsvollere Teil der leichten Neurasthenie auch im günstigsten Falle (Kondom) kaum entgehen dürfte. Viel wird hier selbstverständlich auf die beiden Dispositionen ankommen, 1. ob sie selbst vor der Ehe neurasthenisch war, 2. ob sie in der Zeit des freien[100] Verkehrs hysterisch-neurasthenisch gemacht wurde.

II. Die Angstneurose


Eine gewisse Herabsetzung des Selbstbewußtseins, pessimistische Erwartung, Neigung zu peinlichen Kontrastvorstellungen gehört wohl jeder Neurasthenie an. Es ist aber die Frage, ob man nicht das Hervortreten dieses Moments ohne besondere Entwicklung der übrigen Symptome als eigene »Angstneurose« abtrennen sollte, besonders da sich diese bei Hysterie nicht minder häufig findet als bei Neurasthenie.

Die Angstneurose tritt in zwei Formen auf, Dauerzustand und Angstanfall. Beide kombinieren sich leicht, der Angstanfall nie ohne Dauersymptome. Der Angstanfall gehört mehr zu den mit Hysterie verbundenen Formen, also häufiger bei Frauen. Die Dauersymptome mehr bei neurasthenischen Männern.

Dauersymptome sind 1. auf Körper bezügliche Angst: Hypochondrie, 2. auf körperliche Leistung: Agoraphobie, Klaustrophobie, Höhenschwindel, 3. auf Entschlüsse und Gedächtnis (also eigene Vorstellungen[101], ⌈psychische⌉ Leistung) bezüglich: folie de doute, Grübelzwang u.dgl. Ich habe bis jetzt keinen Anlaß, diese Symptome anders als gleichzustellen. Es ist wieder die Frage, inwieweit dieser Zustand 1. bei ⌈Heredität⌉ vorkommt ohne sexuelle Schädlichkeit, 2. ob er bei ⌈Heredität⌉ auf beliebige sexuelle Schädlichkeit ausgelöst wird, 3. ob er zur gewöhnlichen Neurasthenie als Intensitätssteigerung hinzutritt. Keine Frage ist, daß er akquiriert wird, und zwar von Männern und Frauen in der Ehe, in der zweiten Periode der sexuellen Schädlichkeiten durch den Coitus interruptus. Ich glaube nicht, daß es hierzu der Disponierung durch frühere Neurasthenie bedarf, doch ist im Falle mangelnder Disposition die Latenz größer. Dasselbe Kausalschema wie bei Neurasthenie.

Die selteneren Fälle von Angstneurose außerhalb der Ehe trifft man besonders bei Männern, sie lösen sich auf als Congressus interruptus bei...

Erscheint lt. Verlag 6.4.2017
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Schlagworte Hysterie • Marie Bonaparte • Nervenkrankheit • Neurose • Ödipuskomplex • Psychoanalyse • Psychologie • Selbstanalyse • Sexualität • Traum • Unbewusste • Unbewußte
ISBN-10 3-10-490511-8 / 3104905118
ISBN-13 978-3-10-490511-2 / 9783104905112
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