README.txt – Meine Geschichte (eBook)

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2022 | 1. Auflage
336 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-5089-8 (ISBN)

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README.txt – Meine Geschichte - Chelsea Manning
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Die persönlichen, aufschlussreichen Erinnerungen einer der wichtigsten Aktivistinnen unserer Zeit

Im Jahr 2010 veröffentlichte Chelsea Manning geheime Militärdokumente, die sie als Geheimdienstanalystin für die US-Armee im Irak auf der Speicherkarte ihrer Digitalkamera herausgeschmuggelt hatte. Die Armee klagte sie in zweiundzwanzig Punkten im Zusammenhang mit dem unerlaubten Besitz und der Verbreitung von geheimen Dokumenten an und verurteilte sie zu fünfunddreißig Jahren Militärgefängnis. Am Tag nach ihrer Verurteilung erklärte Manning ihre Geschlechtsidentität als Frau und begann die Transition. Im Jahr 2017 verkürzte Präsident Barack Obama ihre Haftstrafe, und Chelsea Manning wurde aus dem Gefängnis entlassen.

In ihren Erinnerungen erzählt Manning von ihrem Einsatz für mehr institutionelle Transparenz und Rechenschaftspflichten der Regierung und von dem Kampf um ihre Rechte als Transfrau. Sie schildert ihre schwierige Kindheit, ihre Kämpfe als Heranwachsende, was sie dazu brachte, dem Militär beizutreten, und beschreibt den unbändigen Stolz, den sie auf ihre Arbeit hatte. Wir erfahren bisher unbekannte Details, wie und warum sie die Entscheidung traf, geheime Militärdokumente an WikiLeaks zu schicken, und welche Folgen dieses Handeln für sie hatte.

Chelsea Mannings Memoiren zählen zu den eindrücklichsten Zeugnissen des digitalen Zeitalters.



Chelsea Manning ist eine amerikanische Transparenzaktivistin, Politikerin und ehemalige Geheimdienstanalystin der US-Armee. Sie lebt in Brooklyn und arbeitet als Sicherheitsberaterin und Expertin für Data Science und Machine Learning.

2.


MITTLERES OKLAHOMA
1987

Die Bilder, die ich vom mittleren Oklahoma im Gedächtnis behalten habe, muten wie schöne, vergilbte Schnappschüsse an: Ein endlos goldener Glanz liegt über der Landschaft, über dem braunen, von der Sonne versengten Gras, über dem Boden aus rostroter Tonerde und sogar über dem bescheidenen Haus, in dem ich aufgewachsen bin – mit seiner schwarz-weißen Fassade und der kleinen Hobbyfarm dahinter: Schweine, Pferde, eine Kuh, Hühner und Grünzeug.

Wir lebten auf gut zwei Hektar Land in einer schmalen Senke direkt am Oklahoma State Highway 74. Die Gegend bestand hauptsächlich aus Gesträuch und Löss, aber mit einem kleinen Teich und Bäumen am Rand von Crescent, einer einst aufstrebenden Stadt, die inzwischen schrumpft. Um in der Stadt Geld zu verdienen, aber auf dem Land zu leben, fuhr mein Vater in seinem rotbraunen Nissan-Pick-up täglich 45 Minuten nach Oklahoma City und wieder zurück. Crescent war während der ersten Siedlungswelle in Oklahoma gegründet worden, auf geraubtem Land der Ureinwohner, die entlang des Cimarron River lebten. Jahrzehnte vor meiner Geburt hatte die Eisenbahngesellschaft in der Nähe unseres Hauses einen langen Damm für Schienen gebaut. Er durchbrach als Einziges die Ebene. Wenn man sich auf ihn stellte, sah man die Mais- und die Weizenfelder, die verstreuten Ölbohrtürme und die blanken Gleise, die direkt in die Stadt führten. In Crescent lebten rund tausend Einwohner. Jeder wusste alles über jeden – Segen oder Fluch, je nachdem, wer man war.

Meine Familie stammte ursprünglich nicht aus der Prärie. Sie war in den Achtzigern, einige Jahre vor meiner Geburt hergezogen, weil mein Vater Brian Edward Manning eine Anstellung in der elektronischen Datenverarbeitung bei der Hertz Corporation gefunden hatte. Er war in einer aus Irland eingewanderten Arbeiterfamilie in den westlichen Vororten Chicagos aufgewachsen und in seiner späten Jugendzeit unstet herumgezogen. Mit siebzehn Jahren verließ er das Elternhaus, probierte im sogenannten »Pfannenstiel Floridas« kurzzeitig ein College aus und brach das Studium ab. Lernen war nichts für ihn, Party machen dagegen schon. Zurück in Chicago, wartete er nicht darauf, nach Ende des Vietnamkrieges zum Militär eingezogen zu werden. Stattdessen beschlossen er und mein Onkel Michael, in die Navy einzutreten – nach einem besonders feierfreudigen Wochenende, wie er erzählt. Der Navy schrieb er immer das Verdienst zu, ihm im Leben eine Struktur, einen Weg gegeben zu haben.

Bei ihm klang das Wort »Militär« glamourös. Die U.S. Navy stationierte ihn als Analytiker im Vereinigten Königreich, in einer Militärbasis der Royal Air Force in Wales, die einige Minuten Fahrt östlich von St. Davies in Pembrokeshire lag. Er stieg zum Petty Officer auf und arbeitete mit abgehörtem Geheimmaterial bei der Überwachung eines Netzwerks aus Unterwassermikrofonen, die zwischen Island und Großbritannien sowjetische (und manchmal zur NATO gehörige) Atom-U-Boote ausspähten. Er erzählte mir, er habe mit Geheimdokumenten gearbeitet und eine Uniform der Royal Navy getragen, zur Anpassung und um Spione zu verwirren – für mich, der ich in Oklahomas ziemlich ruhiger und öder Prärie aufwuchs, klang das wie aus einem Agentenfilm oder einem Roman von Tom Clancy.

In Wales lernte er auch meine Mutter Susan Mary Fox kennen. Sie stammte aus einer Arbeiterfamilie aus Haverfordwest, einer Stadt, errichtet um eine Normannenburg, inmitten einer Region, die mit ihren steilen und grünen Hügeln das genaue Gegenteil der flachen ausgebleichten Ebenen des amerikanischen Mittleren Westens war. Die Familie hatte neun Kinder, davon acht Mädchen. Sie lebten in einer kleinen Sozialwohnung mit drei Schlafzimmern, in denen ein Einzelbett gerade so Platz fand. Als sie in einem kleinen Pub am Castle Square meinen Vater, den Amerikaner, kennenlernte, musste ihr die Bekanntschaft wie ein märchenhafter Ausweg erschienen sein. Sie heirateten am Tag nach seinem 21. Geburtstag, und später im selben Jahr wurde meine Schwester Casey geboren. Am gleichen Tag, dem 17. Dezember, aber elf Jahre später, 1987, kam ich zur Welt. Ich erhielt den Namen Bradley, der inzwischen mein Deadname ist.

Danach lebten meine Eltern keineswegs lange glücklich und zufrieden. Sie erwarben zwar die Statussymbole eines komfortablen Lebens der Mittelschicht – mein Vater machte an einem Community College einen Abschluss in Computerwissenschaft, der ihm am Ende die Stelle bei Hertz verschaffte –, aber die Ehe stand auf tönernen Füßen. Von den Auseinandersetzungen meiner Eltern bekam ich als Kind nichts mit. Für mich war die Familie schlicht sinnvoll – so wie der Lauf der Welt, in der die Sonne im Osten auf- und im Westen unterging. Allerdings waren meine Eltern beide Trinker, von der Art, für die Alkohol Flucht aus dem Alltagsleben bedeutet.

Dad begnügte sich mit Bier. In unserem Mülleimer stapelten sich die leeren Blechdosen. Zu Hause angekommen, legte er seine Sachen ab, steckte sofort eine eisgekühlte Bierdose in einen Styroporbehälter und öffnete sie. An Wochenenden oder Feiertagen trank er so viel, dass er sich schon am frühen Nachmittag kaum noch auf den Beinen halten konnte. Mom war Wodka und Rum gewöhnt. Ein Schuss Absolut oder Bacardi fehlte in keinem Getränk. Ihr Tag begann damit, Spirituosen in einen Becher mit heißem englischem Tee zu gießen. Sie trank auch, als sie mit mir schwanger war. Wie ich später von ihr erfuhr, hatte sie in den Jahren zwischen Caseys und meiner Geburt zwei Fehlgeburten erlitten. Heute frage mich, ob und wie sehr sie das belastet hat.

Während meiner Kindheit war meine Mutter entwaffnend einfühlsam und hatte ein schlichtes und herzliches Lächeln. Sie nahm Menschen immer beim Wort. Dabei war sie auch verschlossen und zuweilen nicht in der Lage, das Leben einer Erwachsenen zu führen. Sie machte keinen Führerschein und konnte nicht mit Geld umgehen. Und der Alkohol verschärfte ihre Schwierigkeiten, sich in der Welt zu behaupten. Im Gesicht ähnelte ich ihr, aber anhand ihrer rosigen Wangen war ihr der Alkoholismus anzusehen. Zudem rauchte sie Kette, Mentholzigaretten Salem 100, die ihre Zähne – tatsächlich Zahnersatz nach einer Schlägerei in einer Bar in jungen Jahren – dunkelgelb einfärbten.

Meine Eltern konnten beide charmant sein, aber mein Vater hatte einen egoistischen Zug. Mit seinen 1,58 Metern – etwas kleiner als meine Mutter – war er witzig und pfiffig und wirkte wahrscheinlich auf die meisten Menschen sanftmütig. Aber zu Hause prügelte er, explodierte plötzlich und ließ seine Frustration an meiner Schwester und mir aus. Fitness und ein gutes Aussehen waren ihm sehr wichtig: Er ging jeden Tag joggen und machte Rumpfbeugen, Liegestütze und Klimmzüge, als sei es eine Religion. Und er war Meister in der Kunst, völlig überzeugend kompletten Quatsch von sich zu geben.

Casey musste schnell erwachsen werden. Der Alkoholismus meiner Eltern begleitete ihre Jugendzeit. Sie wurde zu meiner Bezugsperson und meinem Babysitter und kümmerte sich auch um meine Eltern, wenn sie einen über den Durst getrunken hatten. An einem grauen Herbsttag saß meine Mutter auf unserer Veranda, rauchte eine Mentholzigarette nach der anderen und beobachtete in dem Pekannussbaum über uns ein Eichhörnchen, das an Nüssen nagte und Schalen fallen ließ. Eine traf meine Mutter am Kopf. Casey verschwand im Haus und tauchte, Dads Luftgewehr schwingend, wieder im Eingang auf. Sie stellte sich unter die braunen und orangefarbenen Blätter und zielte angespannt mit ausgestreckten Armen auf das Hörnchen. Der Schuss hallte in der Ferne in den Bergen wider. Sie hatte es verfehlt. Sie korrigierte ihre Atmung und legte erneut an. Peng! und plopp!, das Eichhörnchen fiel aus dem Baum. Casey kümmerte sich einfach um die Dinge.

Blond und blauäugig wie ich, war sie schon als Teenager mit einem himmelblauen Ford Tempo unterwegs, als ich noch in den Kindergarten ging. Heute bedeutet sie mir alles, und damals habe ich sie vergöttert. Sie hatte einen eigenen Telefonanschluss, trug ein typisches Neunzigerjahre-Polka-Dot-Kleid und mochte Bettlaken mit Zickzack-Muster. Ihre Wände waren mit Postern, Zeitungsausschnitten und Collagen zugepflastert. Sie brachte ganze Tage damit zu, tausendteilige Puzzles zu legen, klebte sie anschließend auf Karton und hängte sie an die Wand. Und ihr Zimmer war auch ein Zoo, mit Dutzenden von Tieren: Vögel in Käfigen und Terrarien voller Eidechsen, Frösche und Kröten. Reptilien liebte sie über alles.

Ich wollte nicht nur ihr Zimmer; ich wollte wie sie sein: Mit fünf oder sechs Jahren schlich ich mich heimlich in ihr Refugium und probierte ihre Sachen an. Im frühen Teenageralter experimentierte sie mit einem Cowgirl-Look. Ich erinnere mich noch an die Stiefel, die Gürtelschnallen, die T-Shirts mit dem Pferdeaufdruck und die Rüschenfransen, die ich an mir ausprobierte. Ich liebte ihren Schminktisch mit dem Spiegel und den Glühbirnen, die die Farbe wechselten, auf dem Rahmen. Lange Momente schaute ich mich daraufhin prüfend an, wie sich mein Aussehen mit diesem Lippenstift, jener Grundierung oder dieser Aufhellung veränderte. Nachdem ich mehrmals Chaos angerichtet hatte, reichte es Casey. Sie hängte ein Schloss an ihre Zimmertür. Ich versuchte es zu knacken, kam aber nicht weit.

Heute empfinde ich meine Kindheit so, als sei penibel auf eine strenge Cisgender-Entwicklung geachtet worden. Selbst meine Versuche, mir die Welt zu erschließen, verliefen auf einem binären Pfad. Als ich vier Jahre alt war, fragte...

Erscheint lt. Verlag 22.11.2022
Übersetzer Katrin Harlaß, Enrico Heinemann, Anne Emmert
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Afghanistan • Afghanistan-Krieg • barack obama • Beugehaft • Chelsea Manning • Citizenfour • Computerhacker • Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus • Die Globale Überwachung • Digitale Medien • Digitale Überwachung • Edward Snowden • Enthüllung Militärgeheimnisse • Gefangenenlager Guantanamo • Geheimagent • Geheimdienst • geheime Militärdokumente • Gleen Greenwald • Glenn Greenwald • Irak • Irakkrieg • Julian Assange • Julian Assange Auslierferung • Kryptografie • Luftangriff bei Garani • Nachrichtendienst • Nachrichtendienstanalytikerin • NSA • Pentagon • permanent record • shoshana zuboff • Snowmargeddon • Spionage • Spionagesoftware • Transsexualität • US-Armee • US-Regierung • US-Verteidigungsministerium • Verschlüsselungstechnologie • Weihnachtsgeschenk • Whistleblower • Whistleblowerin • WikiLeaks
ISBN-10 3-7499-5089-X / 374995089X
ISBN-13 978-3-7499-5089-8 / 9783749950898
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