Der Erstgeborene (eBook)

Spiegel-Bestseller
Psychothriller
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
496 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-27157-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Erstgeborene -  Michael Robotham
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Der Psychologe Cyrus Haven berät die Polizei in Nottingham bei der Aufklärung von Straftaten. Dabei wurde er als Jugendlicher selbst Opfer eines Verbrechens: Sein geistig verwirrter Bruder Elias ermordete die gesamte Familie, nur Cyrus überlebte das Massaker. Nun, 20 Jahre später, soll der angeblich geheilte Elias in Cyrus' Obhut entlassen werden - und konfrontiert diesen auf brutale Art mit seiner Vergangenheit.
Zudem muss der Psychologe sich noch um sein Mündel Evie Cormac kümmern: eine aufsässige Teenagerin mit der Gabe, jede Lüge zu enttarnen. Als Cyrus in einem Mordfall ermittelt und Evie dem Täter allzu nahe kommt, geraten sie beide in tödliche Gefahr ...

Michael Robotham wurde 1960 in New South Wales, Australien, geboren. Er war lange als Journalist tätig, bevor er sich ganz der Schriftstellerei widmete. Mit seinen Romanen stürmt er regelmäßig die Bestsellerlisten und wurde bereits mit mehreren Preisen geehrt, unter anderem mit dem renommierten Gold Dagger. Michael Robotham lebt mit seiner Familie in Sydney.

1
Cyrus


Wenn ich nur eins über meinen Bruder erzählen könnte, wäre es dies: Zwei Tage nach seinem neunzehnten Geburtstag ermordete er unsere Eltern und unsere Zwillingsschwestern, weil er Stimmen in seinem Kopf hörte. Als einzelnes prägendes Ereignis ist das unübertroffen für Elias und für mich.

Ich habe oft versucht, mir vorzustellen, was ihm an jenem kühlen Herbstabend durch den Kopf gegangen ist, als unsere Nachbarn allmählich die Vorhänge vor der heranziehenden Nacht zuzogen und die Straßenlaternen einen dunstigen Schein bekamen. Was haben diese Stimmen gesagt? Welche denkbaren Worte könnten ihn bewegt haben, die Dinge zu tun, die er getan hat?

Ich habe mich mit dem Hätte und Wäre gemartert. Was, wenn ich auf dem Heimweg vom Fußballtraining nicht noch angehalten und Pommes frites gekauft hätte? Was, wenn ich mein Rad nicht kurz vor Alisa Pipers Haus abgestellt hätte, in der Hoffnung, sie im Garten oder beim Nachhausekommen von ihrem Korbball-Training zu erwischen? Was, wenn ich schneller gestrampelt hätte und früher zu Hause angekommen wäre? Hätte ich ihn aufhalten können, oder wäre ich jetzt auch tot?

Ich bin der Junge, der überlebt hat, im Gartenschuppen versteckt, zusammengekauert zwischen Gartengeräten, den Geruch von Kerosin, Farbe und frischem Grasschnitt in der Nase, während Sirenen durch die Straßen von Nottingham heulten.

In meinen Albträumen wache ich immer in dem Moment auf, in dem ich auf schlammverdreckten Fußballsocken in die Küche komme. Meine Mutter liegt zwischen gefrorenen Erbsen auf dem Boden, die sich auf den weißen Fliesen verteilt haben. Auf dem Herd kocht Hühnerbrühe über, und ihre berühmte Paella klebt an dem schweren Pfannenboden.

Meine Mum vermisse ich am meisten. Ich habe ein schlechtes Gewissen, jemanden am liebsten zu mögen, aber niemand ist da, der meine Wahl kritisieren könnte, außer Elias, und der hat dazu nichts zu sagen. Weder jetzt noch in Zukunft.

Dad starb im Wohnzimmer, vor dem DVD-Spieler hockend, weil eine der Zwillinge es geschafft hatte, eine DVD in dem Schlitz zu verklemmen. Er hob eine Hand, um sich zu schützen, und verlor zwei Finger und einen Daumen, bevor das Messer sein Rückgrat durchtrennte.

Esme und April waren oben in ihrem Zimmer mit den Hausaufgaben beschäftigt oder spielten. Normalerweise machte immer April alles als Erste, weil sie zwanzig Minuten älter war und deswegen den Ton angab, doch es war April, bekleidet in einem Einhorn-Jumpsuit, die auf das Messer zurannte, um ihre Schwester zu beschützen. Esme musste unter dem Bett hervorgezerrt werden und starb mit einem zusammengebauschten Teppich unter ihrem Körper und einer Ukulele in der Hand.

Viele dieser Details können mir den Hals zuschnüren oder mich schreiend aufwachen lassen, aber die Schnappschüsse verblassen. Meine Erinnerungen sind nicht mehr so lebhaft wie früher. Die Farben. Die Gerüche. Die Angst.

Ich kann mich zum Beispiel nicht mehr daran erinnern, welche Farbe das Kleid hatte, das meine Mutter trug, und welche der Zwillinge ihr Haar in der Woche geflochten hatte. (Esme und April wechselten sich mit ihren Frisuren ab, damit die Lehrerinnen sie leichter voneinander unterscheiden konnten, vielleicht aber auch, um sie noch mehr zu verwirren.)

Und ich kann mich nicht erinnern, ob Dad schon eine Flasche Home Brew aufgemacht hatte – ein Sechs-Uhr-abends-Ritual in unserem Haus, bei dem er ein Bier aus seiner letzten Lieferung mit einem Winston-Churchill–Flaschenöffner aus Messing öffnete. Feierlich goss er den »bernsteinfarbenen Nektar« in ein Pint-Glas und hielt es ins Licht, um Farbe und Trübheit zu begutachten. Wenn er trank, spülte er den ersten Schluck im Mund hin und her wie ein Weinkenner und sagte Sachen wie: »Ein wenig malzig … ein bisschen wolkig … einen Tick zu früh … einigermaßen trinkbar … buttrig … süffig … noch eine Woche, dann ist es perfekt.«

Es sind kleine Details, die mir entfallen sind. Ich weiß nicht mehr, ob ich den Schlamm von meinen Fußballschuhen abgetreten, mein Fahrrad abgeschlossen und das Seitentor geschlossen habe. Ich kann mich daran erinnern, dass ich stehen geblieben bin, um mir das Salz von den Händen zu waschen und Wasser zu trinken, weil Mum es nicht ausstehen konnte, wenn ich mir den Appetit verdarb, indem ich so kurz vor dem Abendessen Junkfood aß. Im selben Atemzug beschwerte sie sich darüber, dass ich »ein Loch im Bauch« hätte und »ihr die Haare vom Kopf fressen« würde.

Ich vermisse ihre Kochkünste. Ich vermisse ihre peinlichen Umarmungen in der Öffentlichkeit. Ich vermisse es, dass sie auf Servietten spuckt und mir Essensreste aus dem Gesicht wischt. Ich vermisse es, wie sie versucht, meinen Haarwirbel zu glätten. Ich vermisse ihr Gemecker, weil ich den Zwillingen Geistergeschichten erzählt, den Klodeckel hochgeklappt gelassen oder die Zahnpasta nicht wieder zugeschraubt habe.

Nach den Morden hat niemand mehr mit mir gemeckert. Meine Großeltern brachten es nicht übers Herz. Sie trauerten auch. Ich wurde der Junge, mit dem man Mitleid hatte, auf den man mit dem Finger zeigte, über den man tuschelte. Den man unterstützte. Mobbte. Verwöhnte. Therapierte. Der Junge, der Drogen nahm, sich ritzte und betrunken zur Schule kam. Ein schwer zu liebendes Kind. Eigentlich überhaupt kein Kind mehr, nicht nach allem, was ich gesehen hatte.

Es ist Montagmorgen Viertel vor zehn, und ich sitze im Empfangsbereich des Rampton Secure Hospital, eine Autostunde nördlich von Nottingham. In fünfzehn Minuten wird eine Kommission von drei Personen – ein Richter, ein beratender Psychologe und ein Laie – über den Antrag meines Bruders beraten, entlassen zu werden. Es ist zwanzig Jahre her, seit meine Eltern und meine Schwestern gestorben sind. Ich bin jetzt dreiunddreißig, Elias ist neununddreißig. Der Junge ist ein Mann. Der Bruder möchte nach Hause kommen.

Jahrelang habe ich den Leuten erklärt, dass ich das Beste für Elias will, ohne genau zu wissen, was das bedeutete und ob das auch seine Freilassung mit einschloss. Als forensischer Psychologe verstehe ich psychische Krankheiten. Ich sollte in der Lage sein, die Person von der Tat zu trennen – die Sünde zu hassen, aber dem Sünder vergeben.

Ich habe Geschichten von Vergebung gelesen. Von Menschen, die Mörder im Gefängnis besucht und ihnen Mitgefühl und Absolution angeboten haben. Sie sagen Sachen wie: »Du hast mir einen Teil meines Herzens genommen, der niemals ersetzt werden kann, aber ich verzeihe dir.«

Eine Frau, eine Mutter Mitte sechzig, hatte ihren einzigen Sohn verloren, der vor einer Partylocation erstochen worden war. Nachdem die Geschworenen den Mörder, einen sechzehnjährigen Jungen, verurteilt hatten, vergab sie dem Teenager. Noch gekrümmt vor Entsetzen, wiederholte sie immer wieder: »Ich habe gerade den Mann umarmt, der meinen Sohn getötet hat.« Im nächsten Atemzug fügte sie hinzu: »Ich habe gespürt, wie etwas meinen Körper verlassen hat. Und ich wusste sofort, dass all der Hass, die Bitterkeit und die Feindseligkeit weg waren.«

Ein besseres Ich, eine gütigere Seele, ein Empath oder gläubiger Mensch würde Gnade zeigen und Elias die Vergebung anbieten, die er ersehnt. Bedingungslos. Ohne Frage oder Zögern. So ein Mensch bin ich nicht.

Dr. Baillie zieht seine Sicherheitskarte durch den Schlitz und kommt, um mich im Warteraum abzuholen. Er ist der für Elias zuständige Psychiater, Anfang fünfzig, gedrungen und ernst, mit einem gestutzten Bart und einem ergrauten Pferdeschwanz, der seinen Haaransatz höher in die Stirn zu ziehen scheint.

»Wie läuft es?«, frage ich.

»Es sieht vielversprechend aus.«

Für wen, will ich fragen, aber ich weiß, auf wessen Seite Dr. Baillie steht. Er geht davon aus, dass ich in seinem Team bin. Vielleicht bin ich das auch.

Er winkt einem Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes hinter einer Plexiglasscheibe zu. Eine Tür wird geöffnet, und wir werden durch breite Flure geführt, die nach Phenol und Bodenreiniger mit Kiefernaroma riechen.

Rampton ist eine von drei hoch gesicherten forensischen psychiatrischen Kliniken in England. Laut der Daily Mail beherbergt sie die »Schlimmsten der Schlimmsten«, aber Journalisten neigen dazu, sich auf die prominenten Patienten zu konzentrieren, die »Ripper«, »Schlächter« und »Schlitzer«, die mehr Klicks generieren als der Großteil der Insassen, die wegen Persönlichkeitsstörungen oder Stimmungsschwankungen behandelt werden, Erkrankungen, bei denen keine Leichen gezählt werden.

Wir sind in einem großen Raum angekommen, wo zwei Dutzend Stühle vor einem langen polierten Tisch aufgestellt sind. Eine Schwingtür geht auf. Elias kommt herein. Er wird ein letztes Mal abgetastet, bevor man ihn auffordert, Platz zu nehmen. Er winkt mir zu. In seinem Blick liegt Erleichterung.

Wir sehen nicht aus wie Brüder. Er hat im Laufe der Jahre zugenommen – wegen der Medikamente und der Inaktivität –, und sein Haar ist um die Ohren mittlerweile grau meliert. Er hat ein rundes, fleckiges Gesicht, schmale Lippen und braune intelligente Augen, die trotzdem sonderbar leer wirken.

Heute trägt er seine beste Kleidung, beigefarbene Chinos zu einem ordentlich gebügelten weißen Hemd, und ich erkenne Kammspuren in seinem leicht pomadisierten Haar. Gerade Linien von vorne nach hinten.

Ich schlurfe an der Reihe der Stühle entlang, bis ich nah genug bin, um seine feuchte Hand zu schütteln.

»Du bist gekommen.«

»Selbstverständlich. Wie geht es dir?«

»Ich bin nervös.«

»Dr. Baillie sagt, du hast dich bisher gut...

Erscheint lt. Verlag 28.12.2022
Reihe/Serie Cyrus Haven
Übersetzer Kristian Lutze
Sprache deutsch
Original-Titel Lying beside you
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 2022 • Bestseller • Bestsellerliste • Buch des Jahres 2022 • Bücher • eBooks • Krimi • krimi couch • Krimi-Couch • Kriminalromane • Krimis • Krimi Thriller 2021 • Neuerscheinung • Neuerscheinungen 2023 • Psychothriller • Reihe • Reihenfolge • spannende Bücher für Erwachsene • spiegel bestseller • Spiegelbestseller • SPIEGEL-Bestseller • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Thriller
ISBN-10 3-641-27157-6 / 3641271576
ISBN-13 978-3-641-27157-2 / 9783641271572
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