Unschuld (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
304 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-27149-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unschuld -  Takis Würger
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»Es ist fesselnd, es ist packend, es ist berührend.« Christine Westermann
Wenn alle lügen. Und niemand unschuldig ist.

Molly Carver bleiben fünfunddreißig Tage, um die Unschuld ihres Vaters zu beweisen. Seit Jahren sitzt er für den Mord an dem sechzehnjährigen Casper Rosendale im Gefängnis - nun soll das Urteil vollstreckt werden. Auf der Suche nach Antworten kehrt Molly zurück in das Ostküstendorf ihrer Kindheit. Unter falschem Namen beginnt sie, als Hausmädchen für die Rosendales zu arbeiten, eine Familie, die einmal einflussreicher war als die Rockefellers ...

Emotional und eindringlich zeichnet Takis Würger das Portrait einer Gesellschaft voller Widersprüche und zeigt uns, was sich wirklich hinter den schillernden Fassaden dieser Welt abspielt.

Takis Würger, geboren 1985, berichtet als Journalist für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel u. a. aus Afghanistan, Libyen und dem Irak. Mit seinen Reportagen gewann er zahlreiche Preise, darunter den Deutschen Reporterpreis und den CNN Journalist Award. Mit 28 Jahren ging er nach England, um an der Universität von Cambridge Ideengeschichte zu studieren. 2017 erschien sein Debütroman Der Club, der für den aspekte-Literaturpreis nominiert war und mit dem Debütpreis der lit.Cologne ausgezeichnet wurde.

Als sie dreiundzwanzig Jahre alt war, lebte Molly Carver in Astoria, dem nördlichsten Teil des New Yorker Stadtbezirks Queens. Sie wohnte in einem Keller unter der Albatros-Bar, einer Schwulenbar mit Billardtisch und Karaokemaschine, die bekannt war für einen Cocktail mit dem Namen »Tequiling Me Softly«. Molly wohnte in diesem Keller mit ihrem Onkel und zwei dicken Katzen: Cheese und Mac.

Sie teilten sich zwei Zimmer mit niedriger Decke und einem Bad mit senfgelben Fliesen, das so klein war, dass man auf dem Klo sitzen und gleichzeitig duschen konnte, was auch seine Vorteile hatte.

Abends war es immer laut dort unten, weil die Decke dünn war und darüber die Menschen tranken und 80er-Jahre-Hits sangen.

Die Sonne schien nie in diese Wohnung.

Molly liebte es dort.

Sie hatte mit einem feinen, schwarzen Filzstift die Wände ihres Zimmers bemalt, mit abstrakten Mustern, die keiner Logik folgten, aber Molly schön und richtig erschienen. Mick hatte erst protestiert und gesagt, er überstreiche das alles, aber aufgegeben, als er es getan und Molly von Neuem begonnen hatte, die Muster zu malen. Mittlerweile waren die Wände und die komplette Decke mit schwarzen, zackigen Mustern überzogen. Nur sah man sie kaum noch, weil überall Zeitungsartikel über Mollys Vater klebten.

Neben Mollys Matratze stand in einer leeren Bierflasche eine rote Mohnblume aus Plastik, die sie von der Toilette einer Bar gestohlen hatte.

Als Molly an diesem Abend die verzogene Tür des Kellerappartements mit der Schulter aufstieß, lag ihr Onkel mit Cheese und Mac auf dem Sofa in seinem Zimmer, er schaute kurz auf und nickte. Sein Blick vorsichtig wie immer. Die Adern an seinen Unterarmen waren geschwollen, als habe er heute schon trainiert. Er strich über ein Loch im Sofabezug.

Seit Molly vor zehn Jahren vor Micks Tür gesessen hatte und geblieben war, schlief er auf diesem Sofa.

Molly bückte sich zu ihren Turnschuhen, um zu verhindern, dass ihr Onkel ihren Gesichtsausdruck lesen konnte. Er hätte sofort erkannt, dass sie geweint hatte. Ihre Hände hatten nicht aufgehört zu zittern, seit sie bei Juliette aus der Tür gegangen war. Sie nahm zwei Bier aus dem Kühlschrank.

Molly ging zu Mick, stellte ein Bier auf seine Brust und blieb hinter ihm stehen. Seine Glatze glänzte im Licht der Lampe.

Alle außer Molly nannten ihn Mick.

Sie nannte ihn Onkel, wegen des Stotterns und weil er ihr Onkel war.

Er nannte sie Kleine.

Er war kaputt. Vielleicht klappte es deshalb zwischen den beiden, dachte Molly manchmal.

Er war als Entwicklungshelfer während des Krieges in Bagdad gewesen. Er hatte den Irakern die Feinheiten der Forellenzucht beibringen wollen, Aquakultur als Entwicklungshilfe, und war mit einer schweren Posttraumatischen Belastungsstörung zurückgekommen.

Mick verließ die Wohnung nur zum Arbeiten, er sprach selten mit Fremden und ging nicht an Orte, die er nicht kannte. Er hatte New York seit Jahren nicht verlassen.

Jedes Jahr am Unabhängigkeitstag nahm er eine Handvoll Schlaftabletten, damit er das Knallen des Feuerwerks nicht hören musste.

Außerdem war er Buddhist, das sagte er zumindest, aber das konnte Molly irgendwie nicht ernst nehmen.

Molly liebte ihn. Er log nie.

Erst hatte sie es absurd gefunden, dass ein Mann wie Mick mit einem Mopp nachts durch Büros in Manhattan wischte, aber Mick war ordentlich und ertrug keine Menschen. Putzen war gut für ihn.

Er setzte sich auf und reichte ihr stumm einen kleinen weißen Umschlag. Molly erkannte den Absender sofort: das Testzentrum.

Sie drehte den Umschlag um, faltete ihn und verstaute ihn in der hinteren Jeanstasche.

Mick sah sie an und zog die Augenbrauen hoch.

»Später«, sagte sie.

Er stand auf und nahm sie in seine dicken Arme.

Molly schwieg. Darin war sie gut.

»Wird schon«, sagte er, »bei mir ist ja auch alles gut.«

Molly hielt ihn fest. Mick hatte den Test schon vor Jahren gemacht, er trug die Genmutation nicht.

Wird schon, dachte Molly. Bisher war das nie der Fall gewesen. Nichts war einfach so geworden, vor allem nicht gut. Sie versuchte, das Gesicht abzuwenden, damit er sie nicht weinen sah.

»Hat Papa geschrieben?«, fragte sie.

Er schrieb nie.

Molly merkte, wie sich Micks Armmuskeln bei dieser Frage anspannten.

»Juliette hat vielleicht eine Idee«, sagte Molly.

Mick atmete aus und ließ sie los.

»Erst mal eine Kerze«, sagte er. Es klang wie ein Witz, aber er meinte das ernst. Kerzen waren sein Ding. Mick ging in eine Ecke des Zimmers, in der ein kleiner Altar stand, Blumen davor, eine Mango lag dort, eine Schale mit Wasser. Mick zündete eine Kerze an, kniete sich auf ein Gebetskissen und schloss die Augen. Sein Rücken war gerade wie ein Brett. Molly setzte sich neben ihm in den Schneidersitz und lauschte der Musik aus der Bar oben.

»Juliette hat eine Idee«, wiederholte Molly leise.

»Die hat dauernd Ideen«, sagte Mick, ohne die Augen zu öffnen.

»N-n-nur fünfunddreißig Tage«, sagte Molly.

Er seufzte.

»Ich weiß.«

»In vernünftigen Familien sprechen die Leute über so was.«

»In vernünftigen Familien gibt es keine Mörder.«

»Er ist unschuldig.«

Mick schlug die Augen auf und sah sie an. Liebevoll, aber auch traurig.

Er schloss die Augen wieder.

Molly wurde schlecht von dem Geruch der Duftkerze. Sie brauchte Sauerstoff. Sie stand auf, ohne sich zu verabschieden, stieg die Kellertreppe hoch in den lauten, dichten Feierabendverkehr von Queens. Es roch nach Abgasen und warmem Müll, irgendjemand hupte. Vor der Bar saßen zwei Männer auf Plastikstühlen und tranken Bier aus Flaschen, die sie in braune Plastiktüten gesteckt hatten, obwohl keiner der Polizisten in diesem Viertel sich darum kümmerte, dass Alkohol in der Öffentlichkeit verboten war.

Molly lief zum Ufer des East River und kletterte über eine Mauer, an eine Stelle, wo das Unkraut hüfthoch wuchs. Dort ging sie ein kleines Stück Wasserkante auf und ab, schaute hinüber nach Manhattan, trank und wartete, dass es dunkel wurde. Das Wasser beruhigte sie sonst immer.

Fünfunddreißig Tage bis zur Hinrichtung.

Molly nahm eine Xanax aus der Dose in ihrer Hosentasche und zerkaute sie.

Sie nahm Xanax und Valoron, immer abwechselnd, damit sie sich einreden konnte, nicht komplett süchtig zu sein. Medikamente waren das Einzige, das ihr gegen das Stottern half. Molly bekam die Tabletten von einem Drogenhändler, der an der Columbia studierte und sonst MDMA verkaufte.

Sie trank einen Schluck Bier und spülte den bitteren Geschmack hinunter. Der Brief steckte in ihrer Jeanstasche. Es fühlte sich an, als würde er zehn Kilogramm wiegen.

Molly hörte im Ohr noch Juliette, wie sie sagte: Dein Vater braucht jetzt eine Heldin. Molly wusste, dass sie keine Heldin war und dass dieser Satz sie manipulieren sollte. Es machte sie rasend, dass es klappte. Sie schaute sich um, ob sie allein war, sah in den Nachthimmel und schrie. Nach ein paar Sekunden fühlte sich ihre Kehle an wie aufgeschürft. Sie schloss die Augen und spürte, wie die Pille zu wirken begann.

Nach Mitternacht, nachdem Molly in die Wohnung zurückgekehrt war, fuhren Mick und Molly mit seiner Triumph nach Manhattan. Mick hatte auf den Tank den Satz Und am achten Tag schuf Gott einen US Marine lackieren lassen.

Die Marines hatten ihm im Irak das Leben gerettet, außerdem hatte er eine sehr freie Auslegung der buddhistischen Gewaltlosigkeit.

Jeden Freitag putzten Mick und Molly bei ihrem einzigen gemeinsamen Kunden, im Church Street Boxing Gym. Es war ein guter Kunde, weil der Betreiber nicht wollte, dass sie wirklich sauber machten. Es musste alles noch nach altem Schweiß riechen, und die Blutflecken sollten auf dem Ringboden bleiben. Die Menschen, die hier trainierten, sollten das Gefühl bekommen, dass das ein echtes Boxgym war, und glücklich über so viel Authentizität die 200 Dollar Monatsgebühr zahlen. Nur die Spiegel mussten sehr sauber sein.

Mick und Molly putzten das Gym schweigend. Langsam, ohne Musik, ohne Handschuhe. Mick war der Meinung, diese Arbeit liefe nur Gefahr, würdelos zu werden, wenn man sie nebenbei erledigte oder nicht ernst nahm. Molly wollte keinen Ärger mit Mick, nicht noch mehr, deshalb tat sie auf der Arbeit, was er wollte. Handschuhe brauchten sie nicht. Für Ekel waren sie schon zu lang dabei.

Nachdem die Arbeit erledigt war, nahm Mick die Pratzen. Molly würde im Herbst wieder in den Ring steigen, sie musste trainieren, aber sie wollte nicht trainieren. Sie wollte über einen Plan nachdenken, mit dem sie ihren Vater retten könnte. Mick schlug ihr ein paarmal die Kante der Pratze gegen die Stirn, bis sie die Boxhandschuhe anzog. Er lächelte, und an einem anderen Tag hätte sie auch gelächelt.

Nass geschwitzt fuhren sie zu Papaya Dog auf der Sixth Avenue. Dort klebten die Schuhe am Fußboden, alles roch nach Pommesfett und man bekam den besten Hotdog der Stadt. Es war das einzige Restaurant, das Mick betrat, wenn man bei dieser Butze von Restaurant sprechen konnte.

Molly liebte die stillen, erschöpften Momente mit ihm dort.

Die Triumph röhrte im Leerlauf, als Mick sie parkte. Im Licht der roten Leuchtreklame stachen seine Tätowierungen am Hals hervor, und seine Lederjacke schimmerte.

Im Nachbargebäude, in einem mit Efeu bewachsenen Haus in der Cornelia Street, feierten reiche Menschen eine Party, standen mit...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Adoleszenz • Amerikanische Ostküste • atmosphärische Spannung • Bestseller Bücher Neuerscheinungen 2022 • Bestseller Romane 2022 • Cecilia Ahern • Coming of Age • Cormac McCarthy • Countdown • der Club • Die Anomalie • eBooks • Erste Liebe • Familie • Fritz und Emma • Hudson Valley • Huntington • Literarischer Spannungsroman • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2022 • Neuerscheinungen 2022 Bücher • New York • Noah • Republikaner • Rosendale • Spannungsroman • SPIEGEL-Bestsellerautor • Stella • Todesstrafe • Upper Class • USA • Vater-Tochter-Beziehung • Waffenlobby • Waffenrecht
ISBN-10 3-641-27149-5 / 3641271495
ISBN-13 978-3-641-27149-7 / 9783641271497
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