Dmitry Glukhovsky ist ein russischer Schriftsteller und Dramatiker. 1979 in Moskau geboren, machte er seinen Abschluss an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er schreibt für die internationale Presse, darunter THE GUARDIAN, LA LIBERATION, DIE ZEIT und NOVAYA GAZETA. Glukhovsky ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter der Welterfolg »METRO 2033«. Seine Bücher wurden in 40 Sprachen übersetzt. Als entschiedener Kritiker des Putin-Regimes wurde Dmitry Glukhovsky zum »ausländischen Agenten« erklärt und 2023 von einem Moskauer Gericht in Abwesenheit zu 8 Jahren Haft verurteilt. Er lebt im Exil.Instagram: @glukhovsky, Twitter: @glukhovsky, Facebook: @glukhovskybooks
Vorwort
Was ist mit Russland passiert?
Seit dieser Krieg im Februar 2022 begonnen hat, haben mir viele Leserinnen und Leser aus der Ukraine geschrieben. Sie schickten mir Fotografien von U-Bahnhöfen aus Kiew und Charkiw, die sich bei russischen Artillerie- und Bombenangriffen in unterirdische Bunker und Städte verwandelten und in denen Menschen zum Teil wochen- und monatelang hausten. Sie schrieben mir: »Sehen Sie, Dmitry, Sie haben das alles vorausgesagt. Wir leben jetzt in Ihrem Buch Metro 2033.«
Natürlich habe ich – wie wir alle – diesen Krieg nicht voraussehen können. Sicher, ich habe mir schon immer gern apokalyptische Szenarien ausgemalt, aber dabei nie wirklich daran geglaubt, dass eine so ungeheuerliche Barbarei, eine so sinnlose Grausamkeit im 21. Jahrhundert möglich sein könnte und dass sich ein Volk so einfach von unsäglichen Propagandalügen in die Irre führen lässt. Doch dieser Krieg ist tatsächlich ausgebrochen und dauert nun schon viele Monate an. Und begonnen hat ihn Russland, mein Heimatland.
Wie und wann hat sich diese unheilvolle Wandlung vollzogen? Wie konnte aus dieser Weltmacht, die einst mit dem Totalitarismus brach, freiwillig ihre Panzerarmeen aus Europa abzog und sich mit großer Begeisterung den Vereinigten Staaten und dem Westen öffnete, wieder ein Schurkenstaat werden, der für die übrige Welt nichts als Zorn empfindet?
Wie konnte es dazu kommen, dass dieses Volk, das der ägyptischen Gefangenschaft entkommen war und bereits der Freiheit entgegenging, mitten in der Wüste auf einmal die Peitsche zu vermissen begann und von allein zu seinen Aufsehern zurückgekehrt ist?
Wann haben eigentlich diese seltsamen, hässlichen Dämonen von Russland Besitz ergriffen, die es nun zwingen, unkontrolliert um sich zu schlagen, wüste Verwünschungen und absurde Anschuldigungen auszustoßen und wutschnaubend seinen Nachbarn an die Gurgel zu gehen? Und was sind das für Dämonen?
Jeder russische Schriftsteller, der etwas auf sich hält, macht sich irgendwann einmal Gedanken über das »Schicksal des Vaterlands«. Denkt darüber nach, warum in Russland immer alles anders ist »als bei normalen Leuten«. Und sucht darin nach den Spuren jenes besonderen (und besonders steinigen) Weges unserer leidgeprüften Heimat, der uns aus der Finsternis zum Licht führt, auf dem aber sowohl unserem Volk als auch allen uns umgebenden Völkern Leid widerfährt. Auch ich habe darüber immer wieder nachgedacht.
Meine ersten Geschichten aus der Heimat sind in Russland 2010, also vor zwölf Jahren, als Buch erschienen, einige weitere wurden dann in den folgenden Jahren in Zeitungen und Zeitschriften sowie online veröffentlicht. Seitdem hat meine Heimat so manches durchgemacht, aber die Diagnose, die ich meinem Land damals stellte, hat sich im Wesentlichen als richtig erwiesen – auch wenn ich natürlich keine Vorstellung davon hatte, wie gefährlich die Krankheit war, die es ausbrütete, und auf welch unverantwortliche Weise sie im Laufe der Zeit verschleppt wurde. Diese Krankheit hat einen Namen: Mythomanie. Mythomanie einerseits im Sinne einer obsessiven Faszination für Mythen, mit denen die harte, hässliche, unerträgliche, oft genug auf tragische Weise erbärmliche Wirklichkeit verschleiert werden soll – und andererseits in psychologisch-medizinischem Sinne, Mythomanie als das unbeherrschbare Verlangen zu lügen und sich zu verstellen, selbst wenn die Lüge offensichtlich und für alle zu erkennen ist, ja selbst dann noch zu lügen, wenn einem daraus nur Nachteile entstehen.
Man mag sich heute fragen, wie Russland bloß von einem demokratischen Staat zu einer totalitären, neosowjetischen Diktatur werden konnte. Die Antwort auf diese Frage lautet: Russland ist nie eine Demokratie gewesen und ist heute auch keine totalitäre Diktatur. In Wahrheit ist mein Land in den dreißig Jahren seit dem Zerfall der Sowjetunion stets eine durch und durch korrupte Bananenrepublik – vergleichbar mit gewissen lateinamerikanischen und afrikanischen Staaten – gewesen und bis heute geblieben, nur dass es statt Bananen Öl und Gas verkauft und damit den Rest der Welt erpresst. Die Leute, die durch Zufall ans Ruder der Macht gekommen sind, allesamt Versager und absolutes Mittelmaß, haben sich am wunden Euter dieser einst so bedeutenden Weltmacht festgekrallt und sie bis auf den letzten Tropfen gemolken. Und genau diese Günstlinge des Schicksals, diese selbst ernannten Zaren versuchen, sich nun mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verewigen und das Volk von der sakralen Natur ihrer Macht zu überzeugen. Gerade weil sie sich bewusst sind, dass ihre Macht reiner Zufall ist, sind sie jetzt so peinlich bemüht, ihren eigentlich völlig nackten Hintern mit heldenhaften Mythen zu verhüllen. Anfangs versuchten sie sich noch wie ein progressiver, moderner, demokratischer Staat zu gerieren. Jetzt mühen sie sich ab, unsere Bananenrepublik als schaurigen Wiedergänger einer Sowjetunion stalinscher Prägung zu inszenieren. In Wirklichkeit aber ist beides nur stümperhaftes Herumkleistern an einer Staatsfassade, die aus windigem Gipskarton besteht, und dient nur dazu, die tatsächlich in Russland ablaufenden Prozesse zu übertünchen: Prozesse der Fäulnis, des Zerfalls, der fieberhaften Plünderung, bei der sich jeder möglichst viele Bruchstücke des Volkseigentums in die eigenen Taschen steckt.
Fassaden waren schon immer der wichtigste Teil des russischen Staatsaufbaus, und schon immer hat sich das, was auf diesen Fassaden dargestellt war, vom Kern des Gebäudes deutlich unterschieden. Seit den Zeiten jener »Potemkischen Dörfer«, die einst – einer Legende zufolge – ein diensteifriger Fürst entlang der Reiseroute Katharinas der Großen irgendwo in der Pampa errichten ließ, bis zum heutigen Tag, da russische Panzer in der Ukraine mit sowjetischer Symbolik dekoriert werden, weil sie dort angeblich immer noch in einem fortdauernden Großen Vaterländischen Krieg kämpfen – stets versucht Russland etwas vorzugeben, anstatt etwas zu sein.
Es ist eine unendliche Geschichte von Betrug und Selbstbetrug, in der die Macht das arme, rechtlose, letztlich ja nur nach menschenwürdigem Leben trachtende Volk schamlos belügt. Sie zeigt, warum ein Volk unmöglich so leben kann, warum dieser Zustand sein Überleben gefährdet. Denn da ist ja angeblich diese historische Mission, der das Volk alles andere opfern muss, so wie es ihre Eltern und Großeltern taten. Schließlich sind wir umringt von Feinden, »drohende Wolken verdunkeln das Licht«, wie es schon vor einem Jahrhundert in einem Revolutionslied hieß, das auch heute noch immer wieder in der russischen TV-Propaganda erklingt. Die Großartigkeit und Bedeutung Russlands wird zur Rechtfertigung für die Wertlosigkeit des Lebens der russischen Bürgerinnen und Bürger.
Und so erzählt die Macht den Menschen immer wieder dasselbe Märchen, verachtet sie dabei für ihre Unterwürfigkeit und Leichtgläubigkeit, obwohl sie immer wieder auch selbst – gleichsam selbstvergessen – daran glaubt; und die Menschen wiederum, die doch angeblich alles für bare Münze nehmen, verspotten die Macht für ihre Janusköpfigkeit. Wie man bei uns sagt: »Eigentlich weiß doch jeder Bescheid.«
Politische Witze, die einen unter Stalin den Kopf kosten konnten, hatten in den Nullerjahren als Gattung ausgedient, feiern heute aber ein Comeback. Ebenso das allegorische, metaphorisch maskierte Sprechen über die wahre Lage der Dinge: darüber, dass der viel beschworene »besondere Weg« Russlands in Wahrheit auf einen Abgrund zuführt.
Auch ich habe für mein Sprechen über das Schicksal meines Vaterlands das Genre der literarischen Metapher, des literarischen politischen Witzes gewählt und ihn wie ein Mosaik aufgebaut: In jeder der hier veröffentlichten Geschichten wird, wie in Splittern eines zerbrochenen Spiegels, ein winziges Stück meines Landes ersichtlich. So erzählt »From Hell« vom Ressourcenfluch, der zugleich Russlands größte Stärke und Schwäche ist. »Eine gute Sache« sowie einige andere Geschichten thematisieren den unausrottbaren Schimmel der Korruption, die den gesamten russischen Staatskörper befallen und dessen lebenswichtige Organe durch ihr eigenes Pilzgeflecht ersetzt hat. In »Die wichtigste Nachricht« geht es um die Beziehungen russischer Journalisten zur Macht und zur Wahrheit, während die mit »Utopia« betitelte Story aufzeigt, wie Russland auf Europa blickt. »Ex Machina« erzählt vom kaputten System der Wahlen, »Die Offenbarung« vom kaputten System der sozialen Lifte. In »Eine für alle« werden rings um diese maroden staatlichen Institute hochherrschaftliche Fassaden errichtet, und in »Tango« erfahren wir, wer diese Fassaden konstruiert. »Am Boden« und einige weitere Geschichten handeln von den heutigen Herrschern in Russland, »Ein Jahr wie drei« und »Schwefel« von jenen, die von ihnen beherrscht werden. All diese Erzählungen ergänzen einander, berühren sich an ihren Rändern, und ihre Handlungslinien überschneiden sich. Das heißt, Sie werden wohl alle Geschichten lesen müssen – am besten in der Reihenfolge, in der sie hier abgedruckt sind. Womöglich ist es sogar richtiger, dieses Buch nicht als Sammlung von Erzählungen, sondern als Metaroman zu begreifen, dessen Protagonist das russische Leben ist.
Und ja, dies ist ein Zerrspiegel, gut möglich also, dass Sie manchmal den Eindruck haben werden, etwas Komisches zu sehen. Oder etwas Grausiges, das Ihnen aus dem Reich hinter den Spiegeln entgegenstarrt. Doch auch das ist Russland: meine unglückliche, unfassbare Heimat, in die ich möglicherweise nie mehr zurückkehren kann. Mein Land, dem ich in...
Erscheint lt. Verlag | 19.10.2022 |
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Übersetzer | M. David Drevs, Christiane Pöhlmann, Franziska Zwerg |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | РАССКАЗЫ О РОДИНЕ |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | 2022 • Dissident • eBooks • Kurzgeschichten • Markus Lanz • Metro 2033 • Neuerscheinung • Oligarchen • russische Erzähler • russische Fantastik • Russische Gesellschaft • Russische Kurzgeschichten • russische Oligarchen • russische Opposition • russische politik • russische Science-Fiction • Russland • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Ukraine Krieg |
ISBN-10 | 3-641-30282-X / 364130282X |
ISBN-13 | 978-3-641-30282-5 / 9783641302825 |
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