Schatten der Vergangenheit (eBook)
240 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-11943-5 (ISBN)
Antonio Fusco, geboren 1964 in Neapel, ist Forensiker bei der italienischen Staatspolizei. Er kennt das reale Verbrechen so genau wie nur wenige. Seine Krimis um Commissario Casabona sind in Italien sowohl bei Kritikern als auch beim Publikum ein großer Erfolg. Antonio Fusco lebt in der Toskana.
Antonio Fusco, geboren 1964 in Neapel, ist Forensiker bei der italienischen Staatspolizei. Er kennt das reale Verbrechen so genau wie nur wenige. Seine Krimis um Commissario Casabona sind in Italien sowohl bei Kritikern als auch beim Publikum ein großer Erfolg. Antonio Fusco lebt in der Toskana. Ingrid Ickler wohnt und arbeitet in der Nähe von Frankfurt und in Urbino. Sie übersetzt aus dem Italienischen, Französischen und Englischen und ist außerdem Autorin und Moderatorin.
»Im Roman passt nahezu alles: Ein authentischer Ermittler, eine packende Story und mit Antonio Fusco ein Autor, der als Kommissar weiß, wovon er schreibt. Darüber hinaus überzeugt er mit einem prägnanten, schnörkellosen Schreibstil und einer nahezu greifbaren Atmosphäre.«
Thomas Gisbertz, Krimi-Couch, Juli 2022
2
Sie kamen um sechs Uhr morgens. Am Anfang dachte ich, ich träume, sie mussten mehrere Male klingeln und dann mit den Fäusten gegen die Tür hämmern, damit ich begriff, dass das die Realität war.
Ich hörte Snaus in seinem Zwinger im Garten bellen, öffnete die Augen und setzte mich im Bett auf. Mit den Füßen suchte ich nach den Pantoffeln, aber das Licht schaltete ich nicht an. Ich wartete. Noch immer hoffte ich, mich geirrt zu haben. Ich hatte seit zehn Tagen Urlaub, trotzdem glich mein Schlafrhythmus einer Achterbahnfahrt. Ich schlief in letzter Zeit sowieso schlecht. Genauer gesagt, seit ich allein war. Ich fand keine Ruhe. Die Erinnerungen, die enttäuschten Erwartungen, das Bedauern, all das summte in meinem Hirn umher, mein Kopf glich einem Bienenstock. Um meine Gedanken zu betäuben, trank ich. Manchmal war ich melancholisch und weinte, manchmal war ich wütend und fluchte. Meistens so gegen zwei oder drei Uhr nachts hatte der Schlaf dann Mitleid mit mir und nahm mich in seine Arme.
Es klingelte erneut, schrill und unerbittlich, das Blut gefror mir in den Adern. Wenn dich jemand um sechs Uhr morgens aus dem Bett klingelt, kann das nichts Gutes heißen. Ich konnte das unmöglich ignorieren.
Als Erstes dachte ich, dass jemand mir eine schlechte Nachricht überbringen wollte. Um diese Uhrzeit gab es keinen Zweifel: Niemand taucht zu nachtschlafender Stunde bei dir auf, um dir etwas Angenehmes mitzuteilen. Das Gute ist niemals dringend, es kann warten. In meinem Kopf arbeitete ich eine Art Checkliste ab, eine Rangfolge meiner Sympathien, eine verborgene Aufstellung meiner Ängste. Ich dachte an Chiara, die mit ihrem Verlobten in Mailand lebte, an Alessandro, der mit Don Angelo in Afrika auf Missionsreise war, und an Francesca, die zwar seit einigen Monaten aus meinem Leben, aber noch nicht aus meinem Kopf verschwunden war.
Gleich werde ich die Tür aufmachen, sagte ich mir, und jemand wird vor mir stehen und mich darüber informieren, dass ein geliebter Mensch einen Unfall gehabt habe, der Zustand kritisch sei und ich schnellstmöglich ins Krankenhaus fahren solle. Sie würden mich nicht gleich mit der ganzen Wahrheit konfrontieren, sondern mir die nötige Zeit geben, mich auf die dramatischen Umstände einzustellen.
Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich stand auf, ging durch den Flur und näherte mich der Wohnungstür. Ich versuchte, mich zu fassen, aber auf meinem Weg wurde mir klar, wie schwierig das war. Meine Haare waren zerzaust, und ich roch aus dem Mund wie eine Maus, die in einem Rumfass ertrunken war.
Wer auch immer da auf mich wartete, dachte ich, er wird nach wenigen Worten bereuen, mich geweckt zu haben.
Diese Vorstellung zauberte so etwas wie ein Lächeln in mein Gesicht. Es half mir, auch noch andere Hypothesen in Betracht zu ziehen, an die ich vorher nicht gedacht hatte. Sie haben sich vielleicht in der Tür geirrt. Möglicherweise ist Snaus abgehauen, und sie wollen ihn zurückbringen. Oder es sind Nachbarn, die Hilfe brauchen.
Ich warf einen kurzen Blick durch den Türspion und erkannte das ausgezehrte, bebrillte Gesicht von Commissario Mauro Crisanti, dem Leiter der Kripo Florenz. Direkt dahinter standen Ispettore Fabio Proietti, mein Stellvertreter, sowie meine Mitarbeiter, Sovrintendente Stefano Bini und Assistente Franco Giordano, genannt Ciondolo. Und vier oder fünf weitere Männer, die ich nicht kannte.
Ich öffnete die Tür, ohne auch nur im Entferntesten daran zu denken, wie oft ich an ihrer Stelle gewesen war. Wenn du das Opfer bist, denkst du wie das Opfer, das ist nun mal so. Das hat mit der Rollenverteilung zu tun, wie in einem Theaterstück. Dieses Mal stand ich auf der falschen Seite der Wand. In diesem Augenblick war ich nicht mehr der souveräne Commissario, der frisch geduscht und sorgfältig gekleidet das Haus verlassen, bereits mehrere Tassen Kaffee getrunken und den Einsatz mit seinem Team vorbereitet hatte. Ich war nur ein Mann um die fünfzig in Unterhose und Pantoffeln, der zu begreifen versuchte, welches Geschenk das Leben in dieser Nacht für ihn bereithielt.
Ich wandte mich an Fabio. »Was ist los?«, fragte ich. Er schwieg. Es war Crisanti, der auf meine Frage antwortete, nüchtern und professionell, offensichtlich auf Distanz bedacht. »Wir müssen deine Wohnung durchsuchen, Tommaso. Das ist keine Aktion von uns, die Anweisung kam von der Justizbehörde in Florenz. Du weißt ja, was man bei solchen Gelegenheiten sagt. Reine Routine.«
Ich ignorierte ihn und wiederholte meine Frage: »Was ist los, Fabio?«
»Ich habe keine Ahnung, Chef. Der Questore hat mich vor einer Stunde verständigt und nur gesagt, ich sollte die Kollegen aus Florenz bei einer Hausdurchsuchung bei Ihnen unterstützen, ganz diskret natürlich. Tut mir leid.«
Es half mir zwar nicht viel, aber immerhin hatte er mich »Chef« genannt. Das machte mir Mut, denn was auch immer passieren sollte, ich stand nicht ganz allein, meine Leute waren noch auf meiner Seite.
»Und wer sind die anderen? Gehören die zu dir?«, fragte ich Crisanti.
»Ja.«
Erst jetzt bemerkte ich, dass zwei von ihnen die Pistole im Anschlag hatten.
»Sag ihnen, sie können die Waffen wegstecken. Das ist nicht nötig.«
Crisanti drehte sich um und nickte den beiden wortlos zu. Dann bat er mich, das Hoftor zu öffnen, damit sie ihre drei Autos parken konnten, die noch auf der Straße standen. Ich kam seinem Wunsch nach.
Dann ließ ich die Männer herein. Während ich voranging, sagte ich laut und deutlich: »Achtung, die Wohnung ist videoüberwacht.«
Das stimmte zwar nicht, aber wer weiß, wozu es gut war. Im Zweifelsfall würden sie korrekt vorgehen, hoffte ich zumindest. Nicht aus Angst, dass sie etwas mitnehmen würden, ich besaß nichts Wertvolles. Aber ich fürchtete, sie könnten falsche Spuren legen. Irgendein schmutziges Spiel spielen.
Crisanti zeigte mir den Durchsuchungsbefehl und gab den anderen ein Zeichen, dass sie beginnen sollten.
Proietti, Bini und Ciondolo standen weiterhin an meiner Seite. Ein Ausdruck der Verbundenheit, eine Geste des Respekts, ich konnte spüren, wie unangenehm ihnen das Ganze war. Eine Hausdurchsuchung ermöglicht dir, in die Intimsphäre eines Menschen zu blicken, und lässt dich Dinge entdecken, die du, wenn es sich um einen Menschen handelt, den du schätzt, lieber nicht wissen wolltest.
Crisanti trug einen blauen Anzug und eine schreckliche gelbe Krawatte. So sah er immer aus, egal, ob im Büro oder beim Einsatz. Typisch Karrierist, dachte ich. Er legte zwei Kopien des Beschlusses auf den Wohnzimmertisch und reichte mir einen Stift. Die Papiere waren so positioniert, dass ich nur die letzte Seite lesen konnte, die mit dem Stempel des Eröffnungsbescheids. Allerdings gelang es mir, beim Umdrehen einen Blick auf die erste Seite zu werfen, auf die Rechtsgrundlage, auf der die Maßnahme fußte. Artikel 575. Mord.
Einen Moment lang glaubte ich, mir würde das Herz stehen bleiben. Ich fühlte mich wie ein Seiltänzer über dem Abgrund. Als die Versuchung, mich einfach fallen zu lassen, überwunden war, gewannen Klarheit und Konzentration plötzlich wieder die Oberhand. Die Sache war ernst. Jemand wollte mich reinreiten, aber ich hatte nicht vor, ihm dabei den Steigbügel zu halten. In Momenten wie diesen habe ich stets ein Bild vor Augen: ein Ritter, der das Visier seines Helms herunterklappt, kurz bevor er in die Schlacht zieht. Genau das tat ich jetzt. Möge der Krieg beginnen, dachte ich, ich bin bereit. Das Adrenalin flutete bereits durch meinen Körper, doch ich bemühte mich, die Gefühle, die mich zu überwältigen drohten, im Zaum zu halten.
Äußerlich gefasst, unterschrieb ich und ließ alles auf dem Tisch liegen, die Dokumente interessierten mich nicht mehr. Die Formalitäten waren erledigt.
Crisanti ahnte, dass etwas in mir vorging.
»Liest du dir den Beschluss nicht durch, Tommaso?«
»Ich vertraue euch«, sagte ich mit einer gespielten Mischung aus Selbstsicherheit und Resignation. Dann fügte ich hinzu: »Ich habe ein reines Gewissen, deshalb beunruhigt mich die Sache nicht. Und sobald auch ihr begriffen habt, dass das Ganze ein Irrtum ist, wird abgerechnet. Dann werde ich mir alles genau durchlesen, versprochen. Und nicht nur ich, sondern auch meine Anwälte. Wir werden viel Spaß haben. Hoffentlich bist du gut versichert, werter Kollege.«
Er wollte gerade antworten, aber ich ließ ihm keine Zeit: »Kann ich duschen und etwas anziehen, während ihr meine Wohnung durchsucht? Oder willst du mich weiter demütigen?«
Ohne seine Reaktion abzuwarten, ging ich in Richtung Schlafzimmer.
Crisanti...
Erscheint lt. Verlag | 23.7.2022 |
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Übersetzer | Ingrid Ickler |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Camorra • Destination Crime • Ermittler • Fesselnd • Italien • Italienisch • italienische Mafia • Kommissar unter Verdacht • Komplott • Krimi • Landschaft • Landschaftskrimi • Mafia • Meer • Mordverdacht • Neapel • Polizei • spannend • Toskana • Urlaubslektüre • Verschwörung |
ISBN-10 | 3-608-11943-4 / 3608119434 |
ISBN-13 | 978-3-608-11943-5 / 9783608119435 |
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