Tadellöser & Wolff - Walter Kempowski

Tadellöser & Wolff

Roman
Buch | Softcover
480 Seiten
1996
btb (Verlag)
978-3-442-72033-0 (ISBN)
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"Tadellöser & Wolff" nannte Walter Kempowskis Vater, Reeder in Rostock und guter Kunde der Tabakwarenhandlung Loeser & Wolff, so ziemlich alles, was nicht gerade "Miesnitzdörfer & Jansen" war. Und als "Miesnitzdörfer" ließ sich in der Zeit von 1938 bis 1945, im sogenannten Tausendjährigen Reich, von der dieser Roman erzählt, wahrhaftig vieles bezeichnen. Immerhin, trotz Verdunklungspflicht, SA-Eintritt und Schießdienst ging es des Kempowskis "ganz gold", wenigstens eine Zeitlang ...

Walter Kempowski, geb. 1929 in Rostock geboren, wurde 1948 aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde er entlassen. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten "Deutschen Chronik", die er 1971 mit dem Roman "Tadellöser &Wolf" eröffnete und 1984 mit "Herzlich Willkommen" beschloss. Die "Deutsche Chronik" ist ein in der Literatur beispielloses Werk, dem der Autor das korrespondierende zehnbändige "Echolot", für das er höchste Anerkennung erntete, folgen ließ. Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. 2002 wurde er mit dem Nicolas-Born-Preis des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet. 2005 erhielt er den Thomas-Mann-Preis.

Alles frei erfunden! 1Morgens hatten wir noch in der alten Wohnung auf grauen Packerkisten gehockt und Kaffee getrunken (gehört das uns, was da drin ist?). Helle Felder auf den nachgedunkelten Tapeten. Und der große Ofen, wie der damals explodierte.Zu Mittag sollte schon in der neuen Wohnung gegessen werden.Die Zimmerpalme wurde dem Gärtner geschenkt, die würde man nicht mehr stellen können. Wunderbar, wie die sich in all den Jahren entwickelt hatte. Den gelben Onkel nahm man mit, mit dem gab es ab und zu »hau-hau«! Schön würde es werden in der neuen Wohnung, herrlich. Wir sollten sehn: zauberhaft. Vom Balkon eine Aussicht — wonnig. Und keine Öfen zu heizen, das war auch was wert.Als ich aus der Schule kam, sah ich schon von weitem den ausgepolsterten Möbelwagen, die Pferde mit rostroten Planen über dem Rücken und Messingschildern am Zaum.Wir waren selbstverständlich bei Bohrmann. Der Flügel stand noch drinnen, ich hatte also nichts verpaßt. Die Träger mit Gurten um den Leib, Haken unten dran. Sie schraubten die Beine ab; in einem Schlitten hievten sie ihn die Treppen hinauf. Sieben Zentner schwer. Die Adern quollen ihnen raus.»Kinder«, sagte meine Mutter, »wie isses nun bloß möglich. ..«Ob in der Nachbarschaft nicht'n paar kräftige Männer aufzutreiben wären, wurde gefragt.Ein dicker Herr schob sich an den Trägern vorbei, er sah versonnen das Treppenhaus hinauf. Da oben kam Licht aus einem Rubbelglasfenster. Dieser Mann hieß Quade, der hatte das Haus gebaut. Es war eine geräumige Wohnung, allerdings: 2. Stock, wie Tante Silbi von Anfang an bemerkte. Die Garderobe ganz in Rot. Über der Eichentruhe schon die Schießscheiben und der Säbel meines Vaters. (»Der wird dann angeschliffen, Junge.«) Rechts der offne Schrank mit den Wolffschen Telegraphenberichten und — »Giftfische und Fischgifte« — zahllosen Kosmosbändchen. Mein Bruder reckte sich vor dem Spiegel.Die Wohnung sei Gutmannsdörfer. Ob ich das nicht auch fände?»Ja.«»Na, denn sei froh.« Für sämtliche Zimmer waren neue Lampen gekauft worden.Im Wohnzimmer hielten Adlerkrallen die Leuchtschalen. In den Schlafzimmern floß das Licht durch Alabaster. Im Eßzimmer hing eine Klingel vom ausufernden Papierschirm herab, damit sollte das Mädchen dann gerufen werden.Für die Küche wurde keine Lampe gekauft, da war schon eine drin. Kröhl, ein pensionierter Finanzbeamter, brachte die Lampen an. Er spielte im Quartett die Bratsche (Geiger gab's wie Sand am Meer), der machte sich gern nützlich. »Würdest du bitte mal knipsen? Den unteren Schalter?»Danke.« Als er noch im Amt war, hatte er mal zu meinem Vater gesagt: »Das ist natürlich wieder alles falsch.« »Wieso >natürlichwiederalles Daß die Küche nicht gefliest war, komme ihr grade recht, sagte meine Mutter. Fliesen seien so kalt von unten. In den Waschbecken sprang das Wasser wie ein Quell aus einem Loch. Der Schließer war durch Druckknopf zu betätigen. »Fabelhaft.« Die Fenster der Wohnung gingen leider alle nach innen auf.»Das werden wir schon kriegen«, sagte meine Mutter. Aber die Blumentöpfe, die mußte sie doch jedesmal rücken.Genau gegenüber der Schlachter mit einem aus Talg geformten Adler im Fenster und Rosen aus Speck. Daneben der Drogist. Alles in der Nähe, fein. Um die Ecke »Wiener Moden«. Auf der Kreuzung brachten sie grade ein neues Verkehrszeichen an, »STOP« stand da drauf. Ein geräumiger Balkon mit Glasdach und Mauervorsprüngen zum Aufstellen von Judenbart und Schlangenkaktus.Noch waren die Bäume unbelaubt, aber es würde ein schöner Blick sein, über die blühenden Gärten hin zum grünen Turm von St. Jakobi.»Kinder, wie isses schön«, sagte meine Mutter, »nein, wie isses schön«, und drückte die Geranien fest. Linker Hand, neben einem gelb gestrichenen Etagenhaus, an dessen zerklüfteter Rückseite eine Anzahl Eisenbalkons mit Margarinekisten voll Schnittlauch hingen, konnte man sogar den kleinen Turm der katholischen Kirche ausmachen, mit dem so kräftigen Geläut. Am Abend kam mein Vater aus dem Geschäft. Er trug Knickerbocker in Pfeffer und Salz. Seinen Teichhut hängte er singend auf einen der roten Garderobenhaken.Wie so sanft ruhn, alle die Toten...Das war das Logenlied, wie meine Mutter es nannte. »Ich werd's Ihnen lohnen im späteren Leben«, sagte er zu Kröhl und gab ihm die Hand, »einstweilen besten Dank.« Er betrachtete die Lampen: »Das ist natürlich wieder alles falsch...«Dann setzte er sich an den Flügel, lehnte sich zurück und spielte:Singt dem großen Bassa Lieder... Pink-pink! — ja, es ging. Über dem Instrument hing das Hafenbild mit dem dicken Goldrahmen, ein Hochzeitsgeschenk von Konsul Discher. Es sei nicht billig gewesen, hieß es. Meine Schwester Ulla (»Was hast du nur für schöne Zöpfe, mein Kind«), sieben Jahre älter als ich, bekam die Dachkammer.»Wahrschau!« rief sie und brachte Vasen nach oben. Sie trug ein rostfarbenes Wollkleid mit quer eingestickten Blumengirlanden. Ich teilte mit meinem Bruder Robert das Zimmer. Sechs Jahre älter als ich. Das blonde Haar stark gewellt, wie die Wogen des Sees Genezareth, in der Bilderbibel, auf denen Jesus wandelt. Er behauptete, von mir gehe ein »pestilenzialischer Gestank« aus.Er schnurkste ständig, so als zöge er von Zeit zu Zeit sein Uhrwerk auf. Meine Mutter sagte dann: »Prost! Wisstu'n Stück Brot?« Gern trug er Querbinder. Die band er mit Geduld. Hinterher reckte er sich noch ein Weilchen, als wollte er sagen: »Ich bin doch eigentlich recht staatsch.« »Na, du Schleef?« sagte er, wenn wir uns auf dem Korridor begegneten. Meine Mutter stammte, wie sie behauptete, aus einem alten Hugenottengeschlecht, de Bonsac. Im 16. Jahrhundert geadelt. Der Vorfahr habe als Mundschenk guten von schlechtem Wein rasch unterscheiden können. Es war noch ein Wappen auf die Familie überkommen, das hing jetzt in Wandsbek, in das war eingeschnitzt Bonum bono, dem Guten das GuteUnd auf dem Wappen Kelch und Traube. Beim Gutenachtsagen legte sie mir die Hand auf die Stirn. (»Sieht sie nicht aus wie eine Gräfin?«) Dann sprach sie lange Gebete, bei denen sich ihre Augen allmählich mit Tränen füllten.»Oh, lieber Gott, sieh an, wie wir ohnmächtig sind vor Dir, sei barmherzig, hilf uns in allen Nöten des Leibes und Lebens, daß das Gute in uns aufkomme, und mach uns zu Deinen Kindern. Hilf allen Menschen durch Deine allmächtige, alles ver-, ver-, ver- veranlassende, verordnende Güte...« und so weiter.Das dauerte oft recht lange, und ich suchte durch Strecken und Dehnen anzudeuten, daß es nun genug sei. Dann sang sie Müde bin ich, geh' zur Ruh'...Alle vier Strophen. Sie hatte eine schöne Stimme. Zum Schluß beugte sie sich auf mich herab, und ich durfte sie küssen. »Aber nicht auf den Mund.«Wenn mein Vater die Abendpost durchgesehen hatte -»Tadellöser & Wolff!« — spielte er meist noch lange Klavier. Das konnte ich bei offner Tür gut hören. Das »Frühlingsrauschen« von Sinding oder die Davidsbündler Tänze. »Mit Humor und etwas hanbüchen.« In die Tür unseres Zimmers waren geriefelte Glasscheiben eingesetzt. Wenn man von vorn in den Korridor einbog, sah man sofort, ob ich verbotenerweise noch las. (»Kai aus der Kiste.«) Den Finger hatte ich, in angespanntester Aufmerksamkeit, ständig auf dem Knipser. Die Mutter konnte mich nie erwischen. »Auf Ehre?«Mein Bruder Robert aber, der sich zeitweilig am Anschleichen beteiligte, war gewiefter, der faßte die Glühbirne an. »Sag mal, schämst du dich nicht?«Er selbst las bis zum frühen Morgen. Lok Myler: »Der Mann, der vom Himmel fiel.« Morgens kam er schwer hoch. (»Uppstahneque!«)Und er hatte doch Fensterwache! Für meinen abergläubischen Vater mußte er nach jungen Mädchen Ausschau halten.»Los, Vater, komm schnell!«Der kam dann gebückt gelaufen, so als könne er sich nicht aufrichten, halb rasiert, mit hängender Hose und schlappenden Pantoffeln.»Gut dem Dinge«, nun konnte ihm keine alte Frau mehr den Tag verderben. Das Frühstück war immer sehr harmonisch. »Was macht meine Haut?« fragte mein Vater und hielt uns den Hals hin. Bei Ypern hatte er Gas abgekriegt. »Wunderbar«, mußten wir dann sagen, »keinerlei Druck- oder Schelberstellen«, sonst wäre der ganze Tag im Eimer gewesen.Dem zuletzt Kommenden wurde: »Ah! Die Sonne geht auf!« zugerufen. Der mußte dann lange nach seinen Brötchen suchen, die — »heiß! kalt!« — irgendwo versteckt waren (meistens auf dem Schoß meiner Mutter).»Wer nicht kommt zur rechten Zeit,dem geht seine Mahlzeit queit.« Neben dem Teller meines Vaters lag das Kalenderblatt. »Meyers historisch geographischer Kalender«, mit den Nationalen Gedenktagen. 1916 — Erstürmung von Fort Douaumont. Für mich, der ich am Ende der Tafel saß, hatte er harmlose Scherze bereit.Was »Kohlöppvehnah« heiße, »ansage mir frisch!« »Die Kuh läuft dem Vieh nach«, mußte ich dann antworten. Daraufhin wurde »gut dem Dinge« gesagt. Mein Vater kaufte sich ein neues Rad. Das alte, mit Dorn zum Hintenaufsteigen, war verrostet. Dazu einen Kleppermantel, dessen Schöße hochknöpfbar waren. »Denn seh' ich ja aus wie ein Franzmann«, sagte er. Meine Mutter ließ alle Sessel neu beziehen, die alten Samtbezüge könne sie nicht mehr sehn.Für den Balkon — »nein, diese Aussicht!« — kaufte sie Stühle aus Peddigrohr.Bei Tillich, den »Wiener Moden«, ließ sie sich ein Kleid machen, ein hellblaues. Das Oberteil war wie eine Pelerine geschnitten, mit drei Knöpfen auf der Brust. Von denen gingen Quetschfalten aus in alle Richtungen. Ich kriegte einen sogenannten Hamburger Anzug, dessen Oberteil an die Hose geknöpft wurde. Meine beiden Geschwister durften in den Jachtklub eintreten, aber weißes Zeug wurde nicht genehmigt. In den Ruderklub hatten sie nicht gehen wollen. Sie seien doch keine Galeerensklaven. Wenn Ulla ein Schifferklavier gehabt hätte, dann hätte sie uns sicher, wie Robert meinte, mit Schlagern geelendet. Auf der Mundharmonika spielte sie An der Saale hellem Strande stehen Burgen stolz und kühn... Sie stiftete meinen Bruder zu Untaten an. Wenn es rauskam, gab's Stubenarrest.Er sei kein richtiger Junge, meinte sie. Richtige Jungen kämen mit zerschundenen Knien und Löchern in der Hose nach Hause. Die stiegen über jeden Zaun.»Würdest du mir mal bitte verraten, über welchen Zaun ich eigentlich steigen soll?« fragte Robert. Seitdem sie segelten, war mein Vater des öfteren genötigt, mit der Uhr in der Hand auf der Treppe zu stehen.»Wo kommt ihr jetzt her?«Ab sofort würden andere Saiten aufgezogen. Ulla kriegte außerdem eine Reitkarte. Im Tattersall durfte sie für 5 Mark die Stunde um die Manege traben. In Trainingshosen, zu ihrem Kummer. Kati Rupp habe aber ein Reitkostüm, klagte sie.»Denn mußt du dir 'n andern Vater aussuchen, ich kann mir das Geld auch nicht aus 'n Rippen schneiden.«Aus dem Schatten der Tribüne heraus beobachteten wir sie. Wenn das Pferd pupte, lachte mein Vater. Auf einer Veranstaltung kniete sie im Sattel. Das sei eine ziemliche Angstpartie gewesen, sagte sie hinterher, ihr sei ganz schwummerig geworden. Einmal kriegte sie einen Steigbügel vor die Stirn. »Kommt da dein Vogel raus?« fragte Robert, als sie mit dem Horn erschien. Mit ihrer Agfa-Box machte sie Pferdeaufnahmen.Die kamen ins Album.»Der gute Kamerad«, wurde druntergeschrieben. Die ganze Familie wurde fotografiert.Die Mutter im Pelerinenkleid, Robert beim Segeln und ich im Hamburger Anzug.Vater sogar als SA-Mann unter einer Birke. 2Unter uns, in der ersten Etage, wohnte Woldemann, ein wohlhabender, beleibter Holzhändler. Er trug sein schwarzes Haar — blank wie Lackschuhe — zu einem scharfen Mittelscheitel frisiert. Am kleinen Finger einen Ring mit blauern Stein.»Na, du Brite?« sagte er zu mir mit tiefer Stimme und langte sich eine der offnen Weinflaschen, die überall herumstanden. Ohne Glas trank er daraus, in langen Zügen. Im »Herrenzimmer« übergroße Sessel mit angenähten Kissen, komfortabler als bei uns, auch der Teppich größer, und die Bilder dazu passend.Neben dem Rauchtisch ein schwarzes, kommodenartiges Grammophon. Vorn eine Art Tor zum Herauslassen der Musik. Ist sie nicht süß, ist sie nicht lieb, ist sie nicht nett, das Fräulein Gerda ...Auf dem Grammophon eine Wachspuppe unter Zelluloid.Die trug ein Spitzenkleid.»Filigran«, sagte meine Mutter. An der Wand ein Hühnerhof in Öl: der schwarze Rahmen doppelt so breit wie das rosa Bildchen. Morgens saß Woldemann im Hausmantel am Kaffeetisch. Er ließ die Drehscheibe rotieren, auf der Marmelade und Honig standen.Das Ei aß er mit silbernem Löffel. (»Ei mit Silber? Das beschlägt doch!«)Vom Milchkännchen leckte er die Tropfen schmatzend ab. Jeder wär' froh, jeder wär' stolz, wenn er sie hätt', das Fräulein Gerda...Das Brötchen aß er mit Messer und Gabel. Die Frau war jung und unternehmungslustig. »Woldi«, sagte sie zu ihm.Während das Grammophon dudelte, ging sie in der Wohnung auf und ab, von einem Pralinenkasten zum andern, drehte sich die Haare und puschelte mit einem Flederwisch die Kopenhagener Figuren ab.Mein Vater brülle ja immer so doll, wer denn mit »Rotzlöffel« gemeint sei? Ihre Tochter Ute war 9 wie ich. Schwarzer Pagenkopf und dunkelblaue Augen. Abgesehen von wenigen Schmolltagen waren wir ständig zusammen. Meist lag ich auf dem Teppich, und sie saß mir auf dem Bauch. Schön warm war das und gemütlich. Ich zog sogar die Beine an, damit sie sich anlehnen konnte. Sie wiegte sich dann ein wenig und bohrte in der Nase.(Beim ersten Mal hatte ich mich noch gewehrt. Das Oberteil meines Hamburger Anzugs war dabei von der Hose gesprungen.)Alle Möbel lernte ich auf diese Weise von unten kennen: den Couchtisch mit den vom Tischler nur grob befestigten Beinen, die Sessel mit Gurten, denen der Möbelträger ähnlich, den Papierkorb, der immer faulig roch, weil man Apfelschalen hineingeworfen hatte. Einmal hatten wir Streit: was bedeutender war, das männliche oder das weibliche Geschlecht.Der Vater würde übertroffen durch die Regierung, sagte sie, mit dem Finger herzählend; und der Kontinent durch die Erde.Aber die Welt durch den Gott, antwortete ich, und der sei männlich. Alle Leute bleiben plötzlich stehn, um dem süßen Mädel nachzusehn ...Wenn die Mutter sich auf dem Flur hören ließ, spritzten wir auseinander. »... sonst kriegt ihr eine geschwalbt«, sagte die. Hinter dem Haus war eine Selterswasserfabrik, sie gehörte unserm Hauswirt. Ob im Wald, ob in der Klause, Dr. Krauses Sonnenbrause.Wir setzten uns in Flaschenkisten und fuhren auf dem Rollenband hinein. Durch düstere Schuppen ging es, an Buchten mit leeren Flaschen vorüber. Gespensterbahn! In einem gekachelten Werkraum sprangen wir ab. Hier wurde die Sonnenbrause abgefüllt.Arbeiter mit Gummischürzen standen am Band und sahen zu, wie die Flaschen ruckend der Reihe nach aufmarschierten und von der Maschine vollgefüllt, zugekorkt, umgeworfen, etikettiert und in Kisten gerollt wurden. Der Hebel, der die Flaschen umwarf, war gepolstert. Von unten kam ihm ein zweiter entgegen, der empfing sie sanft.Ab und zu zerbarst eine Flasche mit dumpfem Knall. Dann regnete es Splitter. Die vollen Kisten lagerten im Keller. Hier war es kühl. Ute wußte, wo die Waldmeisterbrause stand. Auf einen Zug tranken wir sie aus — »wer zuerst fertig ist« — und rülpsten. Im Büro roch es nach Tabak und Pfefferminz. Hier zeichnete Fräulein Reber, vom Skisport gebräunt, blitzschnell Belege ab. »Reber«, den Namen könne man auch von hinten lesen, sagte sie. Ihr Bruder, Flieger bei der Legion, der heiße sogar Otto! Sie schenkte mir ein Liederbuch: »Von Jungen Trutz und Art« hieß das. Ob ich auch mal ein kräftiger Pimpf werden wollte? Ute kriegte »Spinnerin Lobunddank, ein neu Mädchenliederbuch«. Der Morgen hat geschlagen, die dunkle Nacht zerbricht. Auf, Herz, zu neuen Tagen ruft dich das junge Licht. »Ich will einen Liter Korn«, sagte ein Besoffner, der geradehereinkam.An der Wand hing Clausewitz. Dr. Krause durften wir nicht begegnen. Der schritt in Reithosen über den Hof. Hier stand eine Tür offen, dort lag Papier. Möglicherweise würde man beim Zimmern der Flaschenkisten Nägel einsparen können. Um die Güte seines Brunnens zu demonstrieren, ließ er einen Zinkeimer vollaufen. »Klar wie Kristall.« Rostocker Leitungswasser stellte er daneben. Verblüffend! Eine lehmige braune Brühe. Im Leitungswasser schwimme direkt Kot, sagte er. Witschorek, der BOB-Fahrer, war immer darauf aus, uns zu vertreiben. Er stammte aus dem Sudetenland. »Egerländer halt' zusamma...« sang ich mal aus Quatsch. Da fing der Mann bald an zu weinen. Immer gern gesehn waren wir bei Kutscher Boldt. Vergnügt pfeifend mischte er Hafer und Häcksel, goß auch etwas Apfelbrause hinein. 36 Mark die Woche verdiente er. Mein Vater gab mir angestoßene Zigarren für ihn. Der Schimmel »Max« war ein »Kriegskamerad«. Dr. Krause hatte ihn aus Galizien mitgebracht. Unter dem Schild »Kriegskamerad« hing ein Eisernes Kreuz ausPappe. Auch Schiffe hätten im Weltkrieg das Eiserne Kreuz verliehen bekommen, und Meldehunde. Wir mieden Max, denn er war bissig. Harmlos war die dicke Stute Nora. Nore, am Brunnen vor dem Tore, sagte Kutscher Boldt. Sie zog etwas stärker als Max. Gegen Abend, wenn wir genug getrunken hatten, gingen wir rein. Da spielten wir Versteck im Dunkeln, und bald lagen wir auch schon wieder auf dem Teppich. Die Lichter der vorüberfahrenden Autos schoben sich über die Decke. Im Bauch gluckste es. Ist sie nicht süß, ist sie nicht lieb, ist sie nicht nett...Ute wiegte sich ein wenig hin und her. Horchen, ob die Eltern nicht kommen. »... sonst kriegt ihr eine geschwalbt.«Ob ihr Vater »höher« sei als mein Vater, erörterten wir, oder Dr. Krause, ob der vielleicht höher sei. »'tüllich«, sagte sie statt »natürlich«. Beim Abendessen fragte meine Mutter: »Junge, wie siehstdu bloß aus? Wie Buttermilch und Spucke.«Und Robert sagte kopfschüttelnd: »Wie haben sie dich,Baum, verschnitten...«Die Teewurst schmecke übrigens recht ordentlich.

Erscheint lt. Verlag 23.1.2001
Reihe/Serie btb
Die deutsche Chronik
Verlagsort München
Sprache deutsch
Maße 118 x 187 mm
Gewicht 385 g
Themenwelt Literatur
Schlagworte 2.Weltkrieg • Deutsche Chronik • DeutscheChronik • DeutschesReich • Drittes Reich / 3. Reich; Romane/Erzählungen • Drittes Reich; Romane/Erzählungen • Familie • Nationalsozialismus • Reihe • Rostock • TausendjährigesReich • ZweiterWeltkrieg
ISBN-10 3-442-72033-8 / 3442720338
ISBN-13 978-3-442-72033-0 / 9783442720330
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