Bloodlands (eBook)
541 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-79395-0 (ISBN)
Diese Region besteht aus einem historischen Raum, zu dem Westrussland, Belarus, Polen, die baltischen Staaten und die Ukraine gehören. Auch heute wieder wird in genau dieser Region ein äußerst brutaler Krieg geführt, wie ihn Europa seit 1945 nicht mehr gesehen hat. Russland führt im Namen von Putins Ideologie Krieg gegen die Ukraine, dabei von Belarus unterstützt. Wer versuchen will zu verstehen, warum diese vielfach blutgetränkte Erde, die «Bloodlands», bis in die Gegenwart Schauplatz von Gewaltverbrechen größten Ausmaßes sind und warum jedes Land die Geschichte dieser Verbrechen bis heute anders erzählt, der muss dieses brillante Buch lesen, dessen Autor seit vielen Jahren den Kurs Putins vorausgesagt hat.
Timothy Snyder ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Yale University und wurde u.a. mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm gemeinsam mit Nora Krug eine illustrierte Ausgabe seines internationalen Bestsellers "Über Tyrannei". In seinem Buch "Der Weg in die Unfreiheit" (2018) hat er die aggressiven Ziele und Methoden der Putin-Regierung analysiert.
Vorwort
EUROPA
«Jetzt werden wir leben!» Das sagte der hungrige Junge, als er den einsamen Straßenrand entlang wanderte und durch die abgeernteten Felder. Doch die Nahrung, die er sah, gab es nur in seiner Phantasie. Aller Weizen war weggebracht worden, als Teil eines kaltherzigen Requirierungsprogramms, mit dem das Zeitalter des europäischen Massenmords begann. Man schrieb das Jahr 1933, und Josef Stalin hungerte bewusst die ukrainische Sowjetrepublik aus. Der Junge starb und mit ihm über drei Millionen andere Menschen. «Ich werde sie unter der Erde wiederfinden», sagte ein junger Mann von seiner Frau. Er hatte Recht; er wurde nach ihr erschossen, und beide wurden mit den 700 000 übrigen Opfern des stalinistischen Terrors von 1937–38 begraben. «Sie wollten meinen Ehering, den ich …» Das Tagebuch des polnischen Offiziers bricht kurz vor seiner Hinrichtung durch die sowjetische Geheimpolizei 1940 ab. Er war einer von rund 200 000 polnischen Bürgern, die von Sowjets und Deutschen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erschossen wurden, während das Deutsche Reich und die Sowjetunion gemeinsam ihr Land besetzt hielten. Ende 1941 schloss ein elfjähriges Mädchen in Leningrad sein bescheidenes Tagebuch mit den Worten: «Nur Tanja ist übrig.» Hitler hatte Stalin überrumpelt, ihre Heimatstadt wurde von den Deutschen belagert und ausgehungert, und ihre Familie gehörte zu den vier Millionen Sowjetbürgern, die verhungerten. Im Sommer darauf schrieb ein zwölfjähriges Mädchen in Weißrussland in einem letzten Brief an seinen Vater: «Ich möchte dir Lebewohl sagen, bevor ich sterbe. Ich habe solche Angst vor diesem Tod, denn die kleinen Kinder werden lebend in die Grube geworfen.» Sie gehörte zu den über fünf Millionen Juden, die von den Deutschen vergast oder erschossen wurden.
Mitten in Europa ermordeten das NS- und das Sowjet-Regime in der Mitte des 20. Jahrhunderts vierzehn Millionen Menschen. Der Ort, wo alle Opfer starben, die Bloodlands, erstreckt sich von Zentralpolen bis Westrussland, einschließlich der Ukraine, Weißrusslands und der baltischen Staaten. Während der Konsolidierung von Nationalsozialismus und Stalinismus (1933–1938), der deutsch-sowjetischen Besatzung Polens (1939–1941) und des deutsch-sowjetischen Kriegs (1941–1945) erlebte diese Region Massengewalt in einem historisch beispiellosen Ausmaß. Die Opfer waren vor allem Juden, Weißrussen, Ukrainer, Polen, Russen und Balten, die Bewohner dieser Länder. Die vierzehn Millionen Opfer wurden in nur zwölf Jahren ermordet, zwischen 1933 und 1945, als Hitler und Stalin gleichzeitig an der Macht waren. Obwohl ihre Heimatländer in der Mitte dieser Epoche zu Schlachtfeldern wurden, waren sie alle Opfer einer mörderischen Politik, keine Kriegsopfer. Der Zweite Weltkrieg war der mörderischste Krieg der Geschichte, und etwa die Hälfte aller gefallenen Soldaten dieses Weltkrieges starben in derselben Region, den Bloodlands. Unter den vierzehn Millionen Opfern war aber kein einziger aktiver Soldat. Die meisten waren Frauen, Kinder und Alte, allesamt unbewaffnet. Viele hatten alle Habe verloren, auch ihre Kleider.
Auschwitz ist der bekannteste Ort des Massenmords auf dem Boden der Bloodlands. Heute steht Auschwitz für den Holocaust und der Holocaust für das Böse eines Jahrhunderts. Doch die als Arbeiter in Auschwitz registrierten Menschen hatten eine Chance des Überlebens: dank der Memoiren und Romane der Überlebenden ist sein Name bekannt. Weit mehr Juden, die meisten aus Polen, wurden in anderen deutschen Todesfabriken vergast, wo fast alle starben und deren Namen weniger bekannt sind: Treblinka, Chełmno, Sobibór, Bełżec. Noch mehr Juden aus Polen, der UdSSR oder dem Baltikum wurden neben Gräben und Gruben erschossen. Die meisten von ihnen starben in der Nähe ihrer Wohnorte im besetzten Polen, Litauen, Lettland, der Ukraine und Weißrussland. Die Deutschen brachten auch Juden aus anderen Ländern hierher, um sie zu ermorden. Juden wurden mit Zügen aus Ungarn, der Tschechoslowakei, Frankreich, Holland, Griechenland, Belgien, Jugoslawien, Italien und Norwegen nach Auschwitz gebracht. Deutsche Juden wurden in die Großstädte der Bloodlands deportiert, nach Łódź, Kaunas (Kowno), Minsk oder Warschau, bevor man sie erschoss oder vergaste. Die Menschen, die in dem Häuserblock wohnten, wo ich gerade schreibe, im 9. Bezirk von Wien, wurden nach Auschwitz, Sobibór, Treblinka und Riga verfrachtet, alles Orte auf der Blutigen Erde.
Der deutsche Massenmord an den Juden fand im besetzten Polen, Litauen, Lettland und der Sowjetunion statt, nicht in Deutschland. Hitler war ein antisemitischer Politiker in einem Land, wo nur eine kleine jüdische Gemeinschaft lebte. Als er 1933 Reichskanzler wurde, machten die Juden weniger als ein Prozent der deutschen Bevölkerung aus, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war es noch etwa ein Viertelprozent. In den ersten sechs Jahren der NS-Herrschaft durften deutsche Juden emigrieren (wenn auch gedemütigt und beraubt). Die meisten deutschen Juden, die Hitlers Wahlsieg 1933 erlebt hatten, starben eines natürlichen Todes. Die Ermordung von 165 000 deutschen Juden war ein schreckliches Verbrechen, aber nur ein kleiner Teil der Tragödie der europäischen Juden, sie machten weniger als drei Prozent der Opfer des Holocaust aus. Erst als Deutschland 1939 Polen und 1941 die Sowjetunion angriff, traf Hitlers Vision einer Vernichtung der europäischen Juden auf die beiden größten jüdischen Gemeinschaften in Europa. Sein Vernichtungswille ließ sich nur in den Teilen Europas verwirklichen, wo Juden lebten.
Der Holocaust überschattet deutsche Pläne, die zu noch größerem Blutvergießen geführt hätten. Hitler wollte nicht nur die Juden auslöschen; er wollte auch Polen und die Sowjetunion als Staaten vernichten, ihre Führungsschichten liquidieren und viele Millionen Slawen (Russen, Ukrainer, Weißrussen, Polen) umbringen. Wäre der Krieg gegen die UdSSR wie geplant verlaufen, so wären 30 Millionen Zivilisten im ersten Winter verhungert und danach viele weitere Millionen vertrieben, ermordet, assimiliert oder versklavt worden. Obwohl diese Pläne nie verwirklicht wurden, waren sie der gedankliche Rahmen für die deutsche Besatzungspolitik im Osten. Während des Krieges ermordeten die Deutschen ebenso viele Nichtjuden wie Juden, vor allem durch das Verhungernlassen sowjetischer Kriegsgefangener (über drei Millionen) und der Einwohner belagerter Städte (über eine Million) oder durch die Erschießung von Zivilisten bei «Vergeltungsmaßnahmen» (fast eine Million, vor allem Weißrussen und Polen).
Die Sowjetunion besiegte das Deutsche Reich an der Ostfront, was Stalin die Dankbarkeit von Millionen von Menschen und eine zentrale Rolle in der Etablierung einer europäischen Nachkriegsordnung einbrachte. Doch Stalins eigenes Massenmordregister war fast ebenso lang wie das Hitlers. In Friedenszeiten war es sogar länger. Im Namen der Verteidigung und Modernisierung der Sowjetunion war Stalin für den Hungertod von Millionen und die Erschießung einer Dreiviertelmillion Menschen in den dreißiger Jahren verantwortlich. Stalin tötete seine eigenen Bürger nicht weniger effizient als Hitler die Bürger anderer Staaten. Von den vierzehn Millionen Menschen, die zwischen 1933 und 1945 in den Bloodlands mit Bedacht ermordet wurden, geht ein Drittel auf die Rechnung der Sowjetunion.
Dies ist eine Geschichte politischer Massenmorde. Die vierzehn Millionen waren alle Opfer einer sowjetischen oder nationalsozialistischen Mordpolitik, oft in Zusammenarbeit beider Länder, aber keine Kriegsopfer. Ein Viertel von ihnen wurde noch vor Kriegsbeginn ermordet. Weitere 200 000 starben zwischen 1939 und 1941, während Deutschland und die Sowjetunion Europa als Verbündete neu formten. Der Tod der vierzehn Millionen wurde teilweise in Wirtschaftsplänen projiziert oder durch wirtschaftliche Überlegungen beschleunigt, aber nicht durch eine wie auch immer geartete ökonomische Notwendigkeit verursacht. Stalin wusste, was geschehen würde, als er den hungernden Bauern der Ukraine 1933 die Nahrung wegnahm, genau wie Hitler wusste, was geschehen würde, als er acht Jahre später den sowjetischen Kriegsgefangenen die Versorgung mit Lebensmitteln vorenthielt. In beiden Fällen starben über drei Millionen Menschen. Die Hunderttausenden erschossenen sowjetischen Bauern und Arbeiter während des Großen Terrors 1937/38 waren Opfer von ausdrücklichen Befehlen Stalins, genau wie die zwischen 1941 und 1945 vergasten und erschossenen Millionen Juden einer expliziten Politik Hitlers zum Opfer fielen.
Der Krieg veränderte das Gleichgewicht des Mordens. In den dreißiger Jahren war die Sowjetunion das einzige Land in Europa gewesen, das politische Massenmorde durchführte. In den sechseinhalb Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg ermordete das NS-Regime nicht mehr als etwa 10 000 Menschen. Stalins Regime hatte 1939 bereits Millionen verhungern lassen und fast eine Million Menschen erschossen. Zwischen 1939 und 1941, nachdem der Pakt mit Stalin Hitler den Angriff auf Polen erlaubt hatte, näherten sich die deutschen Massenmorde den sowjetischen an. Im September 1939 griffen die Wehrmacht und die Rote Armee Polen an. Deutsche und sowjetische Diplomaten unterzeichneten einen Freundschafts- und Grenzvertrag, und ihre Truppen hielten das Land fast zwei Jahre lang besetzt. Nachdem die Deutschen 1940 durch die Invasion Norwegens, Dänemarks, der Niederlande und Frankreichs ihr Imperium nach Westen ausgedehnt hatten, besetzten und annektierten die Sowjets Litauen, Lettland, Estland und...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2022 |
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Übersetzer | Martin Richter |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft ► Geld / Bank / Börse | |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 | |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Staat / Verwaltung | |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Antisemitismus • Eiserner Vorhang • Endlösung • Ethnische Säuberung • Europa • Geschichte • Hitler • Holocaust • Juden • Judenvernichtung • Krieg • Osteuropa • Politische Verfolgung • Russland • Stalin • Stalinismus • Terror • Volk • Völker |
ISBN-10 | 3-406-79395-9 / 3406793959 |
ISBN-13 | 978-3-406-79395-0 / 9783406793950 |
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