Poison Artist (eBook)
300 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77266-9 (ISBN)
Und die braucht gerade dringend seine Expertise, da in den letzten Wochen immer wieder wohlsituierte Männer tot aus der Bay gezogen werden, die unter unbeschreiblichen Schmerzen gestorben sein müssen. Maddox hilft gerne, auch wenn er zurzeit Krach mit seiner Freundin hat und daher lieber durch alle Bars der Stadt zieht.
Dabei lernt er die geheimnisvolle Emmeline kennen, der er rasch verfällt. Emmeline scheint direkt aus einem Film Noir der 1940er zu stammen, eine Femme fatale, stylish, mysteriös, extravagant. Die Nebel wallen über der Bay Area, der Asphalt glänzt regennass, und Emmeline führt Maddox an die unwahrscheinlichsten Orte.
Aber nichts, gar nichts ist so, wie es scheint ...
Jonathan Moore ist Anwalt und Romancier. Bevor er sein Jurastudium in New Orleans abschloss, war er Englischlehrer, Wildwasser-Rafting-Führer auf dem Rio Grande, Besitzer von Taiwans erstem mexikanischen Restaurant, Betreuer in einem texanischen Wildniscamp für jugendliche Straftäter und Ermittler für einen Strafverteidiger in Washington, D.C. Er lebt mit seiner Familie auf Hawaii. Seine Bücher wurden in zwölf Sprachen übersetzt.
Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Herausgeber der »global crime«-Reihe metro in Kooperation mit dem Unionsverlag (1999 – 2007), der Reihe »Penser Pulp« bei Diaphanes (2013-2014). Gründete 2013 zusammen mit Zoë Beck und Jan Karsten den (E-Book-)Verlag CulturBooks und gibt ein eigenes Krimi-Programm für Suhrkamp heraus. Co-Herausgeber des Online-Feuilletons CULTurMAG.
Stefan Lux übersetzt aus dem Englischen und hat u. a. Jonathan Moore, Marie Rutkoski, Loraine Peck, Nick Kolakowski und Michael Koryta ins Deutsche übertragen. Er lebt in Bonn.
EINS
Nachdem er eingecheckt hatte und auf sein Zimmer gegangen war, stellte Caleb sich vor den Ankleidespiegel, der außen an der Badezimmertür angebracht war, und betrachtete seine Stirn. Auf dem Rücksitz des Taxis hatte er die Blutung gestillt, indem er die Manschette seines Hemds auf die Wunde gedrückt hatte. Aber in der Haut steckten immer noch winzige Splitter des Whiskeyglases, das sie nach ihm geworfen hatte. Er zog sie mit den Fingernägeln heraus und ließ sie auf den Teppich fallen.
Sofort begann das Blut wieder zu fließen: ein dünnes Rinnsal zwischen seinen Augen, das sich auf dem Nasenrücken teilte und sich zu beiden Seiten den Mundwinkeln näherte. Einen Moment lang betrachtete er das Blut im Gesicht und die beginnende Schwellung auf der Stirn, dann trat er ans Becken und hielt einen Waschlappen ins laufende Wasser. Er wrang ihn aus, wischte das Blut ab, ging zurück ins Zimmer und setzte sich auf den Fußboden, mit dem Rücken gegen die Schranktür. Die kleinen Glasscherben glitzerten im Gewebe des roten Teppichs.
Es war ein hochwertiges Glas. Möglicherweise Murano-Kristall. Vor einem Jahr hatten sie zu Weihnachten einen Satz dieser Gläser gekauft, bei Macy’s am Union Square, kurz nach ihrem Einzug. Auf der Eisbahn unter dem beleuchteten Weihnachtsbaum hatten Schlittschuhläufer ihre Runden gezogen, denen sie eine Weile zugesehen hatten, Seite an Seite. Damals hatte sie viel Wärme verströmt, als wären glühende Kohlen in ihre Kleidung eingewebt gewesen.
Sie hatte gestrahlt.
Dieses Wort kam ihm in den Sinn, wenn er an sie dachte, sogar jetzt. Es war gefährlich, in diese Richtung zu denken, aber galt das nicht für alles Mögliche?
Er zog eine der Scherben aus dem Teppich und legte sie auf seine Fingerspitze.
Bei ihrem dritten Date waren sie am Strand jenseits der Straße am westlichen Rand des Golden Gate Parks entlanggegangen. Sie hatte ihre Sandalen ausgezogen, sie ein paarmal gegeneinandergeschlagen, um den Sand zu entfernen, und sie dann in die Handtasche gesteckt. Der vom Ozean hereinwehende Nebel war kurz aufgerissen und hatte den Blick auf die Dutch Windmill und mehrere große Zypressen freigegeben. Bridget hielt seine Hand und schaute auf den düsteren, blaugrauen Pazifik. Plötzlich schrie sie auf, knickte mit dem rechten Knie ein und taumelte gegen ihn.
»Autsch. Scheiße.«
»Was ist los?«, fragte er. »Was ist?«
Sie hüpfte auf einem Bein und legte einen Arm um seine Hüfte.
»Glas, glaube ich. Oder eine Muschel.«
Er half ihr zu einer Betontreppe in der Ufermauer, die hinauf zum Bürgersteig führte. Sie setzte sich auf die dritte Stufe, er kniete sich in den Sand und nahm ihren kleinen nackten Fuß in die Hände. Er war schlank und gebräunt, eine Y-förmige weiße Stelle ließ erkennen, wo der Riemen ihrer Sandale die Haut vor der Sonne geschützt hatte. Für einen kurzen Moment glitt sein Blick an ihrem Bein nach oben, die glatte, makellose Haut entlang bis zu ihrem pinkfarbenen Slip. Sie folgte seinem Blick, errötete und schob sich den Rock zwischen die Oberschenkel.
»Sorry«, sagte er.
Sie lächelte.
»Mein Fuß, du Dummkopf.«
»Genau. Dein Fuß.«
Die Scherbe war in die weiche, helle Haut ihrer Fußsohle gedrungen. Erst als er sie herauszog, begann das Blut zu fließen. Es lief zu ihrer Ferse hinunter und tropfte von dort auf die unterste Stufe. Bridget stöhnte auf. Als er zu ihr hochschaute, hatte sie die Augen geschlossen und biss sich auf die Lippen.
»Hast du Papiertaschentücher oder so was in der Handtasche?«
»Ja. Nimm du sie. Ich kann nicht hinsehen.«
Er nahm ihre Tasche und fand das Päckchen Papiertaschentücher. Er nahm mehrere heraus, faltete sie zusammen und drückte sie fest auf die Wunde. Wieder hörte er sie stöhnen.
Er kannte sie nicht gut. Damals. Inzwischen konnte er unterscheiden, ob sie vor Lust oder Schmerz stöhnte. Oder ängstlich wie eine Schwimmerin, die ein letztes Mal nach Sauerstoff schnappt, bevor eine Welle über ihr zusammenschlägt. An jenem Nachmittag am Strand, mit ihrem Fuß in den Händen, kannte er noch nichts von alldem. Damals war sie die junge Frau, die er zwei Wochen zuvor bei einer Vernissage kennengelernt hatte. Die wunderschöne, ein wenig schüchterne junge Frau in einem schwarzen Kleid mit dünnen Trägern, die, wie sich herausstellte, die Hälfte der ausgestellten Bilder gemalt hatte. Er wusste nicht viel über sie, nur, dass er alles wissen wollte.
»Tu ich dir weh?«
»Ich kann nur kein Blut sehen.«
»Stell dir vor, es wäre Farbe.«
Sie lachte, hielt die Augen aber geschlossen.
»Ich trage dich zum Auto, damit nichts in die Wunde kommt.«
Sein Wagen stand vierhundert Meter weiter nördlich, dort, wo der Strand aufhörte und die Klippen begannen.
»Schaffst du das?«
»Locker«, sagte er.
Und tatsächlich war es kein Problem. Sie legte einen Arm um seinen Hals, er hob sie hoch und trug sie in den Armen. Eine halbe Stunde später parkte er vor seinem Haus am Hang des Mount Sutro und trug sie hinein. Er säuberte ihren Fuß mit Wasserstoffperoxid und verband die Wunde. Der Verband löste sich nach kurzer Zeit in seinem Bett, ohne dass einer von ihnen es bemerkt hätte. Die Wunde zeichnete die Muster ihrer Lust mit Blut auf seine Laken, während er vor ihr kniete und die erste von vielen Lektionen über die Frau lernte, die er lieben und mit der er zusammenleben würde. Als sie später merkten, dass sie wieder blutete, brachte er sie den Hügel hinunter ins Krankenhaus, wo die Schnittwunde zum zweiten Mal gereinigt und dann genäht wurde.
Seitdem hatten sie keine einzige Nacht mehr getrennt verbracht, bis zum heutigen Tag.
Er saß auf dem Teppich, drückte sich den Waschlappen gegen die Stirn und dachte, dass ihr die simple künstlerische Wirkung des Musters sicher nicht entgangen wäre. Vielleicht hätte sie sogar Freude daran gefunden und auf diese stille Art gelächelt, wie sie es tat, wenn sie die letzten leeren Flächen auf der Leinwand mit Farbe füllte und die Muster zum Vorschein kamen, als hätte sich ein Nebel verzogen. Glasscherben am Anfang, Glasscherben am Ende. Er nahm den Waschlappen herunter und betrachtete ihn.
»Mit Blut besiegelt«, murmelte er.
Wie bei einem Ritus. Der Code einer Geheimgesellschaft, ihrer jetzt aufgelösten Zwei-Personen-Sekte. Er knüllte den Waschlappen zusammen und warf ihn ins Badezimmer.
Beim Verlassen des Hauses hatte er nur sein Portemonnaie mitgenommen. Kein Handy, keine Schlüssel. Er war den Hügel hinunter zum UCSF Medical Center gegangen und hatte von einer Telefonzelle aus ein Taxi gerufen. Während der Wartezeit am Straßenrand hatte er sich vorgestellt, dass Bridget ihm vielleicht mit dem Auto folgen würde. Dass sie verbotenerweise in der für Krankenwagen reservierten Zone parken und auf ihn zulaufen würde. Sich entschuldigen und ihn bitten würde, zurückzukommen.
Aber falls sie gekommen war, dann nachdem das Taxi ihn schon abgeholt hatte.
Die Bar im Palace Hotel nannte sich Pied Piper. Sie verdankte den Namen einem Gemälde von Maxfield Parrish, das hinter dem Tresen hing – neun Quadratmeter Licht, Schatten und Bedrohlichkeit. Die Kinder verlassen die Sicherheit der Stadtmauer Hamelns, um einem Monster zu folgen, dessen Gesicht so alt und schroff wirkt wie ein Fels.
Es war nicht das erste Mal, dass Caleb in einem Gemälde Zuflucht suchte, dass er sich der Leinwand überließ, bis sowohl der Raum als auch die Außenwelt völlig verschwanden. Vielleicht gab es Gemälde, die speziell für diesen Zweck geschaffen waren. Wenn er sie entdeckte und sich nahe genug setzte, um die einzelnen Pinselstriche unterscheiden zu können, kippte der Raum allmählich zum Rahmen hin, als hätte die Erde ihren Schwerpunkt verlagert. Dann fühlte er sich immer mehr hineingezogen in die Welt, die unter der Farbschicht verborgen lag.
Er blinzelte und sah auf die Uhr. Es war kurz vor zwei an...
Erscheint lt. Verlag | 19.6.2022 |
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Übersetzer | Stefan Lux |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Poison Artist |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Absinth-Exzesse • düstere Geheimnisse • Gerichtsmedizin • Gift • San Francisco • Schmerzforschung • simon beckett • Spannung • Thriller |
ISBN-10 | 3-518-77266-X / 351877266X |
ISBN-13 | 978-3-518-77266-9 / 9783518772669 |
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