Caro Pier Paolo -  Dacia Maraini

Caro Pier Paolo (eBook)

Briefe an Pasolini
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
200 Seiten
Rotpunktverlag
978-3-85869-969-5 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
19,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Dacia Maraini träumt von Pasolini, noch immer, fast fünfzig Jahre nach seinem Tod. Ihre Träume rufen Erinnerungen wach, Erinnerungen, die Maraini mit ihrem unsterblichen Freund teilen möchte. Darum schreibt sie ihrem »caro Pier Paolo« Briefe, sehr persönliche Briefe, in denen sie ihn fragt: »Erinnerst du dich?« Einfühlsam, aber nie sentimental erzählt Maraini von der Unruhe, die Pasolini beherrscht hat, von seiner Zerbrechlichkeit als Privatperson und seinem Furor als Künstler. Aus zeitlicher Distanz liest sie noch einmal seine Gedichte, begibt sich auf eine Gedankenreise, die manchmal ins Ungewisse führt. Daneben stehen sehr konkrete, sinnliche Erzählungen von gemeinsamen, zum Teil abenteuerlichen Erlebnissen. Es sind vor allem Erinnerungen an Filmrecherchen in Afrika, beschwerliche Reisen, auf denen sie Maria Callas einmal begleitet hat. Unauslöschlich sind für Maraini auch die Erinnerungen an den gewaltsamen Tod ihres Freundes und an den Gefängnisbesuch bei Pino Pelosi, dem angeblichen Mörder Pasolinis. Caro Pier Paolo ist das stille, faszinierende Porträt zweier großer Persönlichkeiten und ein Hohelied auf die Freundschaft.

Dacia Maraini, 1936 in Fiesole geboren, lebte als Kind in Japan, als Jugendliche auf Sizilien und ab den fünfziger Jahren in Rom. Hier entwickelte sie sich zu einer wichtigen Protagonistin der italienischen Literatur und seit den siebziger Jahren zu einer führenden Figur der Frauenbewegung. Marainis Romane, Erzählungen, Gedichte, Drehbücher und Essays wurden in 25 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

Dacia Maraini, 1936 in Fiesole geboren, lebte als Kind in Japan, als Jugendliche auf Sizilien und ab den fünfziger Jahren in Rom. Hier entwickelte sie sich zu einer wichtigen Protagonistin der italienischen Literatur und seit den siebziger Jahren zu einer führenden Figur der Frauenbewegung. Marainis Romane, Erzählungen, Gedichte, Drehbücher und Essays wurden in 25 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

Caro Pier Paolo,

es ist merkwürdig, dass deine Anwesenheit in meinen Träumen einen Strom von Erinnerungen und Gedanken freisetzt, die sich nicht aneinanderreihen und zu einem geordneten, klaren Bild zusammenfügen wollen, sondern sich überallhin verstreuen. Ich weiß nicht, ob es dein Erscheinen in meinen Träumen ist, das meinen Gedanken diese vage, wolkige Prägung verleiht, oder ob die Idee, meine Erinnerungen aufzuschreiben, mich dazu bringt, die Gedanken flüssig und unstet zu machen.

Als Roberto Cotroneo mich um ein Buch mit Erinnerungen an dich bat, habe ich sofort abgelehnt. Über deine Bücher, über deine Person ist schon so viel geschrieben worden, Pier Paolo, und außerdem wollte ich das kostbare, geheime Gefäß mit unseren gemeinsamen Erinnerungen nicht öffnen aus Angst, sie verwehen zu sehen, aber auch aus Scheu, sie dem Publikum auszusetzen. Als du mich aber zum soundsovielten Mal unerwartet im Traum besucht hattest, ohne dass ich das Wort an dich richten konnte, weil du plötzlich verschwunden warst, habe ich mir gesagt: Vielleicht kann ich dann endlich ohne die Angst vor Flucht mit ihm sprechen. Kann den geheimnisvollen Pfad durch die Wälder der Erinnerung beschreiten, den ich viele Male eingeschlagen, mich dann aber stets wieder zurückgezogen habe, aus Angst vor der Kraft jener geheimen und unzugänglichen Orte, die C. G. Jung »unsere Innenwelt« nennt.

Alles begann ungefähr ein Jahr nach deinem Tod.

Eines Nachts hörte ich auf dem Dach meiner römischen Wohnung das Klacken der Absätze deiner Gaucho-Stiefel. Es war das gleiche Getrappel, das ich in dem Haus in Sabaudia vernahm, wenn du in deinem Studio auf und ab gingst, das über der Ecke des Wohnzimmers lag, wo ich schrieb, mit Blick aufs Meer. Ich habe immer ein offenes Fenster gebraucht, durch das ich in den Schreibpausen in die Weite schauen konnte, auch wenn es zum Schreiben ideal ist, dass das Licht von hinten kommt und nicht von vorn, weil es dich sonst blendet. Doch für mich ist es wichtig, einen freien Raum vor meinen Gedanken zu spüren. Eine Mauer würde mich lähmen.

Deine Schritte sagten mir, dass du von einer Nacht voller Abenteuer heimgekehrt warst, und beruhigten mich. Alberto und ich standen früh auf. Du bliebst, wenn die Filmarbeit dich nicht zwang, nachts häufig bis spät auf und schliefst am Morgen.

In der Nacht, in der ich deine Absätze über meiner römischen Wohnung gehört habe, bin ich aufgestanden, habe die Fenstertür zum Balkon geöffnet, bin die steile Eisenleiter hinaufgeklettert, die zum Dach des Hauses führt, und habe dich dort unter einem noch nicht vollen, aber hellen Mond auf und ab spazieren sehen.

Ich war so überrascht, dass es mir die Sprache verschlug. Ich habe dich angestarrt wie eine Erscheinung – in religiösen Zusammenhängen würde man sagen, ein Wunder – und war glücklich, als du mit einer menschlichen Stimme zu mir gesagt hast: »Weißt du, Dacia, ich will wieder zu arbeiten anfangen. Ich habe eine wunderbare Idee für einen Film. Aber die hier wollen nichts davon wissen.«

»Wer, die?«, habe ich gefragt, und du hast auf eine Gruppe von Schatten im Hintergrund gezeigt. Die Schatten haben sich genähert und die Gestalt von Leuten angenommen, die ich kannte: Alessandro, Marcello und Luciano, deine üblichen Techniker, die dir überallhin folgten.

»Versuch du doch auch, sie zu überreden«, hast du gedrängt, und von deinen lebendigen Worten angespornt, wollte ich schon loslegen, als mir einer von ihnen zuvorkam: »Aber er kann nicht arbeiten, Dacia«, erklärte er mit einem gewissen Nachdruck, »sag ihm, dass er tot ist und nicht arbeiten kann.«

Ich wollte dich aber nicht verletzen, indem ich dir eine Tatsache enthüllte, von der du offenbar nichts wusstest, und blickte dich ratlos an, während ich versuchte, Zeit zu gewinnen. Was sollte ich tun?

Doch als würdest du meine Gedanken erraten, hast du mir sofort erklärt: »Ich weiß, dass ich tot bin, dieser Tod hat mich Jahre meiner Arbeit gekostet, aber jetzt kehre ich ins Leben zurück und will wieder Filme machen.«

Ich sah, dass die Techniker untereinander beratschlagten und aufsässig tuschelten, gar nicht geneigt, dir ihr Vertrauen zu schenken. Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Bedauern, dich daran erinnern zu müssen, dass du tot warst, und der Freude, dich wieder lebendig zu sehen. Du warst dir so sicher, Pier Paolo, dass mich deine Argumente überzeugten.

Doch gerade, als ich Alessandros, Marcellos und Lucianos Zögern energisch entgegentreten wollte, schob sich eine graue Wolke vor den Mond, und du bist verschwunden, ebenso wie auch die Techniker, und ich bin keuchend und schwer atmend aufgewacht.

Dann, wie ein Ball, der an eine Mauer stößt und fröhlich hüpfend zu mir zurückkommt, ist mir deutlich die Erinnerung an einen Sonnenaufgang in Khartum in den Sinn gekommen. Welcher Monat war das? Vielleicht Januar. Ein trockener Monat, in dem sich die Flüsse in Afrika zurückziehen und die Erde staubig und rot wird. Ich erinnere mich, dass ich dich an einem heißen, dürren Januarmorgen um fünf Uhr wecken kam, weil der Land Rover auf uns wartete, um uns siebzig Kilometer weit weg zu fahren. Mit einem vom Schlafmangel entstellten Gesicht hast du die Türe geöffnet, und ich hatte Schuldgefühle, obwohl du doch selbst entschieden hattest, früh aufzubrechen, um nicht unter der Hitze zu leiden.

Hinter deinem gequälten Gesicht lag das dunkle Zimmer, in dem es nach deinem Körper roch. Ich kannte diesen Geruch gut, und er bestätigte mir, dass du ganz du selbst warst, mit deinem geheimen Nachtleben, wie du da in der Türe erschienst.

Es war ein Geruch nach bitterem Geschmack im Mund, aber auch nach Veilchenseife und nach einem Rasierwasser mit Tabakaroma. Du warst Nichtraucher, doch dieser leichte Tabakhauch gefiel dir, und ich roch ihn häufig an dir. Frisch geschnittener und an der Sonne getrockneter Tabak hat einen feinen, leicht stechenden Duft, bitter und süß zugleich, der an verdorrte Wiesen denken lässt, über die ein tropischer Wind streicht.

Ich hatte dich abrupt geweckt und aus der beruhigenden Dunkelheit gerissen. Ich habe mich damals gefragt, ob du dir wünschtest, in das tröstliche Dunkel des Bauchs deiner Mutter zurückzukehren, um dich dort zusammenzukrümmen wie manchmal, wenn dich die Schmerzen des Magengeschwürs überwältigten, und den Frieden des Körpers zu suchen.

Dennoch hast du nicht protestiert. Du hast nicht einmal den Mund verzogen, wie es jeder andere Mensch getan hätte, der aus seinem Erholungsschlaf gerissen wird. Du warst so sanft, Pier Paolo, und so nachgiebig, dass ich jedes Mal wieder staunte. Nie habe ich dich ein wütendes Wort sagen hören oder eine ärgerliche Geste machen sehen.

Aber die Leute hatten eine andere Vorstellung von dir. Die meisten sahen dich als einen nachtragenden, sturen Mann, wild in deiner Empörung und deinem ideologischen Zorn. Und zum Teil stimmte das. Aber nur beim Schreiben, oder wenn du an einem öffentlichen Diskurs teilnahmst. Du wolltest provozieren und warst ein Meister darin, Wut, Entrüstung und heftige Reaktionen hervorzurufen. Es freute dich, wenn es dir gelang, abgründige Furien und drängende Rachelust zu entfesseln. Ich glaube, dieser gesellschaftliche Zorn von dir war für den Hass verantwortlich, den du erregtest. Und doch warst du in deinem Verhältnis zu den Freunden, in deinem Privatleben, der geduldigste, sanftmütigste und gefügigste Mann, der mir je begegnet ist.

Auch damals in Khartum, als du mit deinem vom Schlaf zerknitterten Gesicht im Türspalt erschienst, während ich von dem Geruch nach Veilchen, Tabak und bitterem Geschmack im Mund eingehüllt wurde, hast du mich sanft angelächelt und mit deiner gewohnten weichen Stimme und dem friulanischen Akzent, den du nie verloren hast, zu mir gesagt: »Ja, Dacia, ich komme gleich.« Dann hast du unendlich geduldig gewartet, bis ich mich entfernt hatte, um die Tür nicht zu rasch und zu abrupt hinter mir zuzumachen. Diese rücksichtsvollen Gesten waren es, die mir nahegingen und meine Zuneigung zu dir wachsen ließen. Dein Taktgefühl und deine Liebenswürdigkeit rührten mich.

In jener Nacht, als du von meiner römischen Terrasse verschwunden bist, nachdem du deine Mitarbeiter gedrängt hattest, die Filmarbeit wieder aufzunehmen, fiel mir ein Gecko auf, der über den blassblauen Kachelboden lief. Es war derselbe Gecko, den ich entdeckt hatte, als ich dich das vorige Mal im Traum sah und du deine magentarote Weste auf dem Boden zurückgelassen hattest. Es sind die Geckos, die zwischen den Pflanzen wohnen und sich verstecken, sobald ich mich nähere, genau wie du in den Träumen.

Das Tierchen hat mich an eine entzückende Erzählung von Eugenio Montale aus seinem Band Schmetterlinge von Dinard erinnert, in der er über ein kleines Wesen schreibt, das in seinem Schlafzimmer die Wand entlangläuft und mit dem er...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2022
Reihe/Serie Edition Blau
Übersetzer Maja Pflug
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Schlagworte Alberto Moravia • Antifeminismus • Brief • Casarsa della Delizia • Erinnerung • Fellini • Feminismus • Homosexualität • Italien • italienische Filmgeschichte • Italienischer Film • italienischer Klassiker • Magengeschwür • Maria Callas • Mutter • Ninetto Davoli • Ostia • Pasolini • Pier Paolo Pasolini • Pino Pelosi • Schwul • schwulenhass • Träume • unaufgeklärter Mord
ISBN-10 3-85869-969-1 / 3858699691
ISBN-13 978-3-85869-969-5 / 9783858699695
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Ohne DRM)

Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopier­schutz. Eine Weiter­gabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persön­lichen Nutzung erwerben.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich

von R. Howard Bloch; Carla Hesse

eBook Download (2023)
University of California Press (Verlag)
43,99