Das Bildnis des Dorian Gray (eBook)

Reclam Taschenbuch

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
316 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961964-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Bildnis des Dorian Gray -  Oscar Wilde
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Schon bald nach seinem Erscheinen 1890 wurde 'Das Bildnis des Dorian Gray' als unmoralisch und skandalös empfunden. Oscar Wilde antwortete darauf nur: »So etwas wie ein moralisches oder ein unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind entweder gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles.« Was Wilde erschuf, ist ein Fest der Dekadenz und des Dandyismus, ein perfekt ausgeklügeltes Spiel der Realität und Fiktion. Seine Geschichte eines jungen Schöngeists spielt im England des späten 19. Jahrhunderts: Der wohlhabende Dorian Gray besitzt ein Porträt, das statt seiner altert, während er sich hemmungslos seinen Vergnügungen und Ausschweifungen hingeben kann. Dieses Geheimnis versucht er zu wahren - mit allen Mitteln. - Mit einer kompakten Biographie des Autors.

Das Bildnis des Dorian Gray

Anhang
Anmerkungen
Nachwort
Zeittafel

Kapitel 1


Das Atelier war von intensivem Rosenduft erfüllt, und wenn der sanfte Sommerwind durch die Bäume des Gartens strich, strömte das schwere Aroma des Flieders oder der zartere Hauch des blühenden Rotdorns zur offenen Tür herein.

Von der Ecke des Diwans aus persischen Satteltaschen, auf dem er es sich bequem gemacht hatte und, seiner Gewohnheit frönend, unzählige Zigaretten rauchte, konnte Lord Henry Wotton gerade noch den Schimmer der honigsüßen und honigfarbenen Blüten eines Goldregens sehen, dessen zitternde Zweige kaum imstande schienen, die Last ihrer flammengleichen Schönheit zu tragen; dann und wann huschten die phantastischen Schatten vorbeifliegender Vögel über die langen Vorhänge aus Tussahseide, die vor das riesige Fenster gezogen waren, ließen dabei für einen Augenblick eine Art japanischen Effekt entstehen und erinnerten ihn an die blassen, jadegesichtigen Maler Tokios, die mit den Mitteln einer zwangsläufig bewegungslosen Kunst den Eindruck von Schnelligkeit und Bewegung zu erwecken trachten. Das träge Summen der Bienen, die sich ihren Weg durch das hohe, ungemähte Gras suchten oder mit monotoner Beharrlichkeit um die mit Blütenstaub gefüllten goldgelben Kelche des wuchernden Geißblatts kreisten, ließ die Stille noch bedrückender erscheinen. Das dumpfe Dröhnen Londons glich dem ständig mitklingenden Basston einer fernen Orgel.

In der Mitte des Raumes stand, an einer hohen Staffelei befestigt, das lebensgroße Porträt eines jungen Mannes von außergewöhnlicher Schönheit, und davor saß, in geringer Entfernung, der Künstler selbst, Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren seinerzeit so großes Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt und Anlass zu so vielen seltsamen Vermutungen gegeben hatte.

Als der Maler die schöne, anmutige Gestalt betrachtete, die er so meisterlich in seiner Kunst wiedergegeben hatte, glitt ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht und schien dort verweilen zu wollen. Doch plötzlich zuckte er zusammen, schloss die Augen und presste die Finger auf die Lider, als wolle er einen wundersamen Traum in seinem Hirn einsperren, aus dem zu erwachen er Angst hatte.

»Es ist deine beste Arbeit, Basil, das Beste, was du je gemalt hast«, sagte Lord Henry in schleppendem Tonfall. »Du musst sie nächstes Jahr unbedingt an die Grosvenor-Galerie schicken. Die Akademie ist zu groß und zu vulgär. Jedes Mal, wenn ich hinging, waren entweder so viele Menschen dort, dass es mir unmöglich war, die Bilder zu sehen, was grässlich war, oder so viele Bilder, dass ich die Menschen nicht sehen konnte, und das war noch schlimmer. Die Grosvenor ist wirklich der einzige Ort, der in Frage kommt.«

»Ich glaube nicht, dass ich es überhaupt irgendwohin schicken werde«, antwortete er. Dabei warf er den Kopf auf jene komische Art zurück, die schon seine Freunde in Oxford zum Lachen gebracht hatte. »Nein, ich werde es nirgendwo hinschicken.«

Lord Henry zog die Augenbrauen hoch und sah ihn durch die dünnen blauen Rauchwölkchen hindurch erstaunt an, die in bizarr geformten Kringeln von seiner starken, opiumhaltigen Zigarette aufstiegen. »Es nirgendwo hinschicken? Aber warum denn nicht, mein Lieber? Hast du dafür irgendeinen Grund? Was für sonderbare Käuze ihr Maler doch seid! Ihr tut alles nur Erdenkliche, um berühmt zu werden. Und sobald ihr euch einen Namen gemacht habt, scheint ihr ihn wieder loswerden zu wollen. Das ist dumm von euch, denn es gibt nur eines auf der Welt, das schlimmer ist, als in aller Munde zu sein, und das ist, nicht in aller Munde zu sein. Ein Porträt wie dieses stellte dich weit über alle jungen Männer in England und machte die alten eifersüchtig, sofern alte Männer überhaupt noch irgendeines Gefühls fähig sind.«

»Ich weiß, du wirst mich auslachen«, erwiderte er, »aber ich kann es wirklich nicht ausstellen. Ich habe zu viel von mir selbst hineingelegt.«

Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte.

»Ich wusste ja, du würdest lachen; aber es ist dennoch wahr.«

»Zu viel von dir selbst hineingelegt! Auf mein Wort, Basil, ich wusste gar nicht, dass du so eitel bist; ich vermag beim besten Willen keinerlei Ähnlichkeit zwischen dir mit deinem mürrischen, markanten Gesicht und deinem kohlschwarzen Haar und diesem Adonis zu entdecken, der aussieht, als sei er aus Elfenbein und Rosenblättern geschaffen. Er, mein lieber Basil, ist ein Narziss, und du – nun ja, natürlich wirkst du intellektuell und all das. Aber Schönheit, wahre Schönheit, endet dort, wo ein intellektueller Gesichtsausdruck beginnt. Der Intellekt an sich ist eine Form der Übersteigerung und zerstört die Ebenmäßigkeit jedes Gesichts. In dem Augenblick, da man sich hinsetzt, um zu denken, wird man ganz Nase oder Stirn oder sonst etwas Scheußliches. Sieh dir die erfolgreichen Männer in irgendeinem der akademischen Berufe an. Wie unglaublich hässlich sind sie doch allesamt! Ausgenommen natürlich die Männer der Kirche. Aber die denken ja auch nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig noch genau dasselbe, was man ihm als Achtzehnjährigem eingetrichtert hat, und die natürliche Folge davon ist, dass er immer ganz entzückend aussieht. Dein geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen du mir noch nicht verraten hast, dessen Bildnis mich aber wirklich fasziniert, denkt nie. Dessen bin ich mir ganz sicher. Er ist ein gedankenloses, schönes Geschöpf, das im Winter, wenn wir keine Blumen zum Ansehen haben, wie auch im Sommer, wenn wir etwas brauchen, um unseren Geist ein wenig abzukühlen, stets um uns sein sollte. Gib dich keiner Selbsttäuschung hin, Basil: Du bist nicht im Geringsten wie er.«

»Du verstehst mich nicht, Harry«, entgegnete der Künstler. »Natürlich bin ich nicht wie er. Das weiß ich sehr wohl. Ja, ich möchte gar nicht so aussehen wie er. Du zuckst mit den Schultern? Ich sage die Wahrheit. Über allen körperlichen und geistigen Vorzügen liegt ein Verhängnis – jene Art von Verhängnis, das den schwankenden Schritten von Königen durch die Geschichte anzuhaften scheint. Es ist besser, man unterscheidet sich nicht von seinen Mitmenschen. Die Hässlichen und die Dummen haben es am besten auf dieser Welt. Sie können behaglich dasitzen und mit offenem Mund das Schauspiel begaffen. Wissen sie auch nicht, wie es ist, zu siegen, so bleibt ihnen doch wenigstens die Erfahrung der Niederlage erspart. Sie leben, wie wir alle leben sollten, unbehelligt, gleichmütig und ohne Ängste und Sorgen. Sie bringen weder Verderben über andere, noch wird es ihnen von fremder Hand zuteil. Dein gesellschaftlicher Rang und dein Reichtum, Harry; meine geistigen Fähigkeiten, wie sie nun einmal sind – meine Kunst, was immer sie wert sein mag; Dorian Grays gutes Aussehen – wir alle werden für das, was die Götter uns mitgegeben haben, bezahlen müssen, teuer bezahlen.«

»Dorian Gray? Ist das sein Name?«, fragte Lord Henry, während er durch das Atelier auf Basil Hallward zuging.

»Ja, das ist sein Name. Ich hatte ihn dir eigentlich nicht sagen wollen.«

»Aber weshalb denn nicht?«

»Ach, das kann ich nicht erklären. Wenn ich jemanden wirklich gernhabe, verrate ich seinen Namen nie. Es ist, als gäbe ich damit einen Teil von ihm preis. Ich habe Heimlichkeiten schätzen gelernt. Sie scheinen das Einzige zu sein, was dem Leben heutzutage noch etwas Geheimnisvolles oder Wunderbares zu verleihen vermag. Das Alltäglichste wird reizvoll, wenn man es nur vor den anderen geheim hält. Wenn ich heute die Stadt verlasse, sage ich meinen Leuten nie, wohin ich gehe. Täte ich es, wäre mir jegliches Vergnügen genommen. Ich gebe zu, es ist eine törichte Angewohnheit, doch irgendwie scheint sie eine ganze Menge Romantik ins Leben zu bringen. Du findest mein Verhalten wohl schrecklich albern?«

»Keineswegs«, antwortete Lord Henry, »keineswegs, mein lieber Basil. Du scheinst zu vergessen, dass ich verheiratet bin, und der einzige Reiz der Ehe besteht darin, dass sie beide Parteien unweigerlich zu einem Leben der Verstellung und Heimlichkeiten zwingt. Ich weiß nie, wo meine Frau ist, und meine Frau weiß nie, was ich gerade tue. Begegnen wir uns – und wir begegnen uns gelegentlich, wenn wir beide irgendwo gemeinsam zum Essen eingeladen sind oder auf den Landsitz des Herzogs hinausfahren –, dann erzählen wir uns mit todernster Miene die haarsträubendsten Geschichten. Meine Frau versteht sich ausgezeichnet darauf – im Grunde genommen viel besser als ich. Sie bringt ihre Verabredungen und Termine nie durcheinander, während mir das ständig passiert. Ertappt sie mich dabei, macht sie mir allerdings nie eine Szene. Manchmal wünschte ich, sie täte es; aber sie lacht mich bloß aus.«

»Es gefällt mir nicht, wie du über dein Eheleben sprichst, Harry«, sagte Basil Hallward. Er schlenderte langsam zur Tür, die in den Garten hinausführte. »Ich bin überzeugt, du bist in Wirklichkeit ein sehr guter Ehemann, schämst dich aber deiner Tugenden zutiefst. Du bist ein sonderbarer Mensch. Du sagst nie etwas Moralisches und tust nie etwas Unrechtes. Dein Zynismus ist einfach Pose.«

»Natürlich zu sein, ist einfach Pose, und zwar die aufreizendste, die ich kenne«, rief Lord Henry lachend. Damit gingen die beiden jungen Männer zusammen in den Garten hinaus und setzten sich auf eine Bambusbank im Schatten eines hohen Lorbeerstrauchs. Das Sonnenlicht glitt über die glänzenden Blätter. Auf dem Rasen zitterten weiße Gänseblümchen.

Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr hervor. »Ich fürchte, ich muss gehen, Basil«, sagte er leise, »und...

Erscheint lt. Verlag 13.5.2022
Reihe/Serie Reclam Taschenbuch
Reclam Taschenbuch
Nachwort Ulrich Horstmann
Übersetzer Ingrid Rein
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Literatur Dark Romance • Literatur Fin de siecle • Literatur Schwarze Romantik • Literatur Viktorianisches England • Oscar Wilde Erzählung • Oscar Wilde Gray • Oscar Wilde Roman • Roman Dandyismus • Roman Dekadenz • Roman Fin de siecle • roman london • The Picture of Dorian Gray Deutsch • The Picture of Dorian Gray Übersetzung • Viktorianische Literatur
ISBN-10 3-15-961964-8 / 3159619648
ISBN-13 978-3-15-961964-4 / 9783159619644
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