Das hohe Fenster (eBook)

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2022 | 3. Auflage
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61321-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das hohe Fenster -  Raymond Chandler
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Mrs. Murdock, eine reiche Witwe aus Pasadena, hat einen doppelten Auftrag für Philip Marlowe: Ihre Schwiegertochter, eine ehemalige Nachtklub-Sängerin, ist verschwunden - und gleichzeitig eine alte, wertvolle Goldmünze. Beide soll der Privatdetektiv dingfest machen. Was wie ein üblicher Auftrag begann, entwickelt sich schon bald zu einer atemberaubenden Achterbahnfahrt. Marlowes Sinn für Recht und Gerechtigkeit steht auf dem Prüfstand.

Raymond Chandler, geboren 1888 in Chicago, wuchs in England auf. Er übte verschiedenste Berufe aus, bevor er ab 1932 ernsthaft zu schreiben begann. Chandler wurde nicht nur mit seinen Romanen um den Privatdetektiv Philip Marlowe zum Klassiker der Kriminalliteratur. Er verfasste auch berühmte Drehbücher für Billy Wilder und Alfred Hitchcock. Raymond Chandler starb 1959 in La Jolla, Kalifornien.

Das kleine Zimmer ging auf den Garten hinaus. Es hatte einen hässlichen Teppich in Rot und Braun, sah aus wie ein kleines Büro und war auch so eingerichtet. Eine schmale, zerbrechlich wirkende Blondine mit Hornbrille saß an einem Sekretär mit einer Schreibmaschine auf der Ausziehplatte zu ihrer Linken. Ihre Hände schwebten über der Tastatur, sie hatte aber kein Papier eingespannt. Als ich ins Zimmer kam, musterte sie mich mit der steifen, etwas albernen Miene eines befangenen Menschen, der für einen Fotografen posiert. Mit klarer und leiser Stimme bot sie mir einen Stuhl an.

»Ich bin Miss Davis, Mrs. Murdocks Sekretärin. Ich soll Sie um ein paar Referenzen bitten.«

»Referenzen?«

»Ja. Referenzen. Überrascht Sie das?«

Ich legte meinen Hut auf ihren Schreibtisch und die ungerauchte Zigarette auf seine Krempe. »Soll das heißen, man hat einen Termin abgemacht, ohne sich vorher über mich zu informieren?«

Sie biss sich auf die zitternde Unterlippe. Ich wusste nicht, ob sie Angst hatte, sauer war oder ob es ihr nur schwerfiel, kühl und geschäftsmäßig aufzutreten. Glücklich wirkte sie jedenfalls nicht.

»Sie hat Ihren Namen vom Filialleiter der California-Security Bank. Der kennt Sie aber nicht persönlich«, sagte sie.

»Zücken Sie Ihren Bleistift«, sagte ich.

Sie hielt ihn hoch, zeigte mir, dass er frisch gespitzt war und loslegen konnte.

Ich sagte: »Erstens einer der Vizepräsidenten ebendieser Bank. George S. Leake. Er sitzt in der Zentrale. Dann Staatssenator Huston Oglethorpe. Der ist vielleicht in Sacramento oder aber in Los Angeles in seinem Büro im State Building. Dann Sidney Dreyfus jr., bei Dreyfus, Turner & Swayne, Anwaltskanzlei im Title Insurance Building. Kommen Sie mit?«

Sie schrieb schnell und mühelos. Ohne hochzusehen, nickte sie. Der Sonnenschein tanzte auf ihren blonden Haaren.

»Oliver Fry von der Fry-Krantz Corporation, Ölfördermaschinen. Die ist drüben an der East Ninth im Industriegebiet. Wenn Sie noch ein paar Cops haben wollen: Bernard Ohls im Stab des Staatsanwalts und Detective-Lieutenant Carl Randall von der Zentralen Mordkommission. Was meinen Sie, genügt das?«

»Machen Sie sich nicht über mich lustig«, sagte sie. »Ich hab nun mal meine Anweisungen.«

»Rufen Sie die beiden Letzten lieber nicht an, wenn Sie nicht verraten wollen, worum es geht«, sagte ich. »Ich mach mich nicht über Sie lustig. Heiß heute, ne?«

»Für Pasadena nicht«, sagte sie, stemmte ihr Telefonbuch auf den Sekretär und machte sich an die Arbeit.

Während sie die Nummern heraussuchte und in der Weltgeschichte herumtelefonierte, betrachtete ich sie eingehend. Sie schien eine natürliche Blässe mitzubringen und sah gesund aus. Ihre spröden kupferblonden Haare waren alles andere als hässlich, aber so straff hinter dem schmalen Kopf zusammengebunden, dass sie kaum noch nach Haaren aussahen. Ihre Augenbrauen waren schmal, ungewöhnlich gerade, dunkler als ihre Haare und spielten ins Kastanienrot. Ihre Nase bot das blässliche Bild eines anämischen Menschen. Ihr Kinn war zu klein, zu spitz und sah unsicher aus. Sie trug kein Make-up bis auf orangeroten Lippenstift und auch davon nicht viel. Ihre Augen hinter den Brillengläsern waren sehr groß, mit großer kobaltblauer Iris und einem unbestimmten Ausdruck. Die Schlupf‌lider gaben den Augen einen leicht asiatischen Ausdruck, oder ihre Gesichtshaut war von Natur aus so straff, dass sie an den Augen zog. Das ganze Gesicht hatte eine Art verqueren neurotischen Charme, dem nur etwas raffiniertes Make-up fehlte, um es umwerfend zu machen.

Sie trug ein einteiliges schlichtes Leinenkleid mit kurzen Ärmeln. Ihre bloßen Arme zeigten leichten Flaum und ein paar Sommersprossen.

Ich achtete nicht weiter auf das, was sie am Telefon sagte. Was sie erfuhr, stenografierte sie mit flinken, leichten Bleistiftstrichen. Als sie fertig war, legte sie den Hörer wieder auf die Gabel, stand auf, strich das Kleid an den Oberschenkeln glatt, sagte: »Wenn Sie sich dann einen Augenblick gedulden würden …«, und ging zur Tür.

Auf halbem Weg drehte sie noch mal um und schob an einer Seite des Sekretärs die obere Schublade zu. Sie ging hinaus. Die Tür schloss sich. Stille. Vor dem Fenster summten Bienen. Weit weg hörte ich einen Staubsauger quengeln. Ich nahm die ungerauchte Zigarette von der Hutkrempe, steckte sie in den Mund und stand auf. Ich ging um den Sekretär herum und zog die Schublade auf, die sie eigens noch geschlossen hatte.

Es ging mich nichts an. Ich war bloß neugierig. Es ging mich nichts an, dass sie einen kleinen automatischen Colt in der Schublade hatte. Ich schob sie zu und setzte mich wieder.

Sie blieb ungefähr vier Minuten weg. Als sie zurückkam, blieb sie in der Tür stehen und sagte: »Sie können Mrs. Murdock jetzt sprechen.«

Wir absolvierten weitere Dielenmeter, dann öffnete sie mir einen Flügel einer gläsernen Doppeltür und trat beiseite. Ich ging hinein, und die Tür wurde hinter mir geschlossen.

Es war so dunkel im Raum, dass ich zuerst nur das Sonnenlicht sehen konnte, das durch dichte Büsche und Abschirmungen hereinfiel. Dann sah ich, dass der Raum eine Art Wintergarten war, den man an der Außenseite vollständig hatte überwuchern lassen. Er war mit Kunstrasenteppichen und Rohrmöbeln ausgestattet. Am Fenster stand ein Rohrsofa. Es hatte eine geschwungene Rückenlehne und so viele Kissen, dass auch ein Elefant weich gesessen hätte, und darauf thronte eine Frau mit einem Weinglas in der Hand. Den durchdringenden Alkoholgeruch nahm ich wahr, bevor ich sie richtig erkennen konnte. Dann gewöhnten sich meine Augen an das Halbdunkel, und ich sah sie.

Sie hatte Unmengen an Gesicht und Kinn. Eine schonungslose zinngraue Dauerwelle, eine gemeingefährliche Hakennase und große feuchte Augen mit dem Mitgefühl nasser Steine. Sie trug einen Spitzenkragen, aber ein Football-Trikot hätte besser zu ihrem Hals gepasst. Sie trug ein graues Seidenkleid. Ihre fleischigen Arme waren bloß und gefleckt. In den Ohren hatte sie Gagatstecker. Auf dem niedrigen Glastischchen neben ihr stand eine Flasche Port. Sie trank einen Schluck aus ihrem Glas, musterte mich darüber hinweg und schwieg.

Ich stand da. Sie ließ mich stehen, trank ihr Glas aus, stellte es auf das Tischchen und schenkte sich nach. Dann tupf‌te sie sich die Lippen mit einem Taschentuch ab. Dann sprach sie. Sie hatte einen kompromisslosen Bariton und klang nicht nach Schnickschnack.

»Setzen Sie sich, Mr. Marlowe. Zünden Sie die Zigarette bitte nicht an. Ich habe Asthma.«

Ich setzte mich auf einen Rohrstuhl und verstaute die immer noch ungerauchte Zigarette neben dem Taschentuch in der Außentasche meines Jacketts.

»Ich hatte noch nie mit Privatdetektiven zu tun, Mr. Marlowe. Ich weiß nichts über sie. Ihre Referenzen sind zufriedenstellend. Wie viel berechnen Sie?«

»Wofür, Mrs. Murdock?«

»Es handelt sich naturgemäß um eine vertrauliche Angelegenheit. Nichts für die Polizei. Wenn es etwas für die Polizei wäre, hätte ich die Polizei gerufen.«

»Ich berechne fünfundzwanzig Dollar am Tag, Mrs. Murdock. Natürlich zuzüglich Spesen.«

»Das scheint mir hoch. Sie müssen viel Geld verdienen.« Sie trank wieder einen Schluck Port. An heißen Tagen mag ich keinen Port, finde es aber nett, sein Angebot ablehnen zu können.

»Nein«, sagte ich. »Das ist nicht viel. Natürlich bekommen Sie Ermittlungsarbeiten zu jedem beliebigen Preis – genau wie Anwalts- oder Zahnarztarbeiten. Ich bin keine Firma. Ich bin nur ein Mann, und ich arbeite immer nur an einem Fall auf einmal. Ich gehe Risiken ein, manchmal recht hohe Risiken, und ich habe Auf‌tragslöcher. Nein, meiner Meinung nach sind fünfundzwanzig Dollar am Tag nicht viel.«

»Verstehe. Und was meinen Sie mit Spesen?«

»Kleine Summen, die hier und da anfallen. Weiß man vorher nie.«

»Ich würde es gern wissen«, sagte sie scharf.

»Das werden Sie«, sagte ich. »Sie bekommen alles schwarz auf weiß. Was Ihnen nicht passt, können Sie beanstanden.«

»Und wie hoch ist Ihr Vorschuss?«

»Da würden mir hundert Dollar reichen«, sagte ich.

»Das will ich auch hoffen«, sagte sie, trank ihren Port aus und goss das Glas wieder voll, ohne sich auch nur den Mund abzuwischen.

»Von Menschen in Ihrer Position muss ich nicht unbedingt einen Vorschuss verlangen, Mrs. Murdock.«

»Mr. Marlowe«, sagte sie. »Ich weiß, was ich will. Aber lassen Sie sich von mir nicht einschüchtern. Wenn Sie sich von mir einschüchtern lassen, sind Sie mir keine große Hilfe.«

Ich nickte und ließ die Bemerkung mit dem Strom schwimmen.

Sie lachte unvermutet und stieß auf. Es war ein nettes Bäuerchen, nichts Protziges, aber ohne jede Zurückhaltung. »Mein Asthma«, sagte sie leichthin. »Ich trinke Portwein als Medizin. Deswegen biete ich Ihnen keinen an.«

Ich schlug ein Bein über das andere. Davon bekam sie hoffentlich keinen Asthmaanfall.

»Geld spielt keine große Rolle«, sagte sie. »Einer Frau in meiner Position wird immer zu viel berechnet; daran gewöhnt man sich. Ich hoffe, Sie sind Ihren Tagessatz wert. Die Sache ist folgende. Mir ist etwas gestohlen worden, das beträchtlichen Wert hat. Ich möchte es zurückhaben, aber ich möchte mehr als das. Ich möchte nicht, dass jemand verhaftet wird. Der Dieb gehört zufällig zur Familie – durch Heirat.«

Sie drehte das Weinglas in den Wurstfingern und lächelte dünn im Zwielicht des abgedunkelten Raums. »Meine...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2022
Übersetzer Ulrich Blumenbach
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel The High Window
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 1940er • 40er Jahre • Gesellschaftsroman • Großstadtdetektiv • Hardboiled • Hard Boiled • Kalifornien • Klassiker • Krimi • Kriminalroman • Kult • Kultdetektiv • Los Angeles • Neuübersetzung • Philip Marlowe • Privatdetektiv • Serie
ISBN-10 3-257-61321-0 / 3257613210
ISBN-13 978-3-257-61321-6 / 9783257613216
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