Schwarzbuch McKinsey (eBook)
496 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2804-1 (ISBN)
Walt Bogdanich ist stellvertretender Herausgeber des New York Times Investigations Desk, außerordentlicher Professor an der Columbia University School of Journalism und einer der angesehensten amerikanischen Investigativ-Reporter. Er hat u.a. drei Pulitzer-Preise erhalten und wurde 2010 für sein Lebenswerk mit dem Gerald Loeb Award, dem renommiertesten Preis des amerikanischen Wirtschaftsjournalismus, ausgezeichnet.
Walt Bogdanich ist stellvertretender Herausgeber des New York Times Investigations Desk, außerordentlicher Professor an der Columbia University School of Journalism und einer der angesehensten amerikanischen Investigativ-Reporter. Er hat u.a. drei Pulitzer-Preise erhalten und wurde 2010 für sein Lebenswerk mit dem Gerald Loeb Award, dem renommiertesten Preis des amerikanischen Wirtschaftsjournalismus, ausgezeichnet. Michael Forsythe arbeitet als investigativer Journalist für die New York Times, für die er von 2014 bis Anfang 2017 als Auslandskorrespondentin in Hongkong tätig war. Von 2000 bis 2013 arbeitete er bei Bloomberg News in Peking und Washington. 2013 war er leitender Reporter eines Teams, das den George Polk Award für die Berichterstattung über den Reichtum führender chinesischen Politiker erhielt.
Einführung
Wenn McKinsey kommt
In der Industriestadt Gary im US-Bundesstaat Indiana, kurz hinter den rostenden Brücken, abblätternden Farben und dem Rangierbahnhof, liegt ein gepflegtes grünes Grundstück, das seltsam deplatziert wirkt. Es ist ein mit Gras, Büschen und Bäumen bewachsener Hügel, der von den tristen, massigen Überresten einer Fabrik überschattet wird, die einst das größte und profitabelste Unternehmen der Welt war – die U. S. Steel Corporation.1
Zur Rechten, in Richtung Nordosten, ragen ein Hochofen und mehrere Fabrikschlote hoch in den Himmel. Dort wird nach dem Thomasverfahren Stahl hergestellt, unter so großer Hitze, dass das geschmolzene, weiß glühende Metall aus dem Hochofen fließt wie Lava aus einem Vulkan. Nichts in dieser Umgebung wirkt weich oder versöhnlich, es gibt nur Beton, Gluthitze und Metall. Zur Linken erstrecken sich reihenweise Hallen mit Giebeldächern bis zum westlichen Horizont. Hier wird der Rohstahl bearbeitet, um ihn weniger brüchig zu machen, bevor er zu massiven Rollen gewalzt wird, die dann in alle Welt verschifft werden.
Das Gelände des Stahlwerks zieht sich über 11 Kilometer am Südufer des Lake Michigan entlang und ist mit 320 Kilometern Bahngleisen, einem eigenen Krankenhaus sowie mit Werksfeuerwehr und -polizei ausgestattet.2 In früheren Jahren kam das Unternehmen seiner gesellschaftlichen Verpflichtung nach, indem es Arbeiter mit guter Stimme und mit Schutzhelm in Grundschulen in der ganzen Stadt schickte, um dort Weihnachtslieder zu singen.
Inmitten dieser grünen Oase befindet sich eine Gedenkstätte aus Granit mit einem Buch, in dem festgehalten ist, wie 513 Menschen durch Unfälle im Stahlwerk ums Leben kamen. Dieses Buch der Toten, mit einem dicken Schutzumschlag aus Kunststoff und voller Rußflecken, erzählt die Geschichten von Arbeitern, die von Güterwaggons, Lastwagen oder Stahlteilen zu Tode gequetscht wurden.3 Andere waren durch einen Sturz umgekommen, wurden durch eine Explosion in Stücke gerissen, waren erstickt oder verbrannt, wurden bei lebendigem Leib verschüttet oder ertranken sogar. Einundvierzig von ihnen waren durch einen Stromschlag zu Tode gekommen. Der gewerkschaftsnahe Reporter Joseph S. Pete hat berichtet, dass bei vielen Beerdigungen von Stahlarbeitern der Sarg geschlossen bleibt;4 das Buch der Toten erklärt, warum.5
Einst verkörperte die Stadt Gary die Verheißung des industriellen Amerika,6 eines Schmelztiegels diverser ethnischer Gruppen, die nach einem besseren Leben strebten, nach Geld für eine Hochschulbildung, bezahltem Urlaub und einer Betriebsrente. Das brachte eine solide Mittelschicht hervor, zwei Nobelpreisgewinner7 und die Jackson Five8 sowie Emissionen, die Luft und Wasserwege verschmutzten.
Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ging es mit dem Konzern rapide bergab, wegen billigen Stahls aus dem Ausland, veralteten Anlagen und fragwürdigem Management. Die Belegschaft schrumpfte auf unter 8.000 Beschäftigte.9 Ganze Abteilungen wurden geschlossen oder verkleinert.
Der Verfall griff auch auf Gary über, die Stadt, die vor über hundert Jahren von U. S. Steel als »Triumph wissenschaftlicher Planung« gegründet worden war.10 Gegen Ende des Jahrhunderts war Gary zu einer Kulisse aus verlassenen Bürogebäuden, Läden und Kirchen verkommen. Anstatt für deren Abriss Geld auszugeben, das die Stadt nicht hatte, vermietete Gary die Schauplätze an Filmproduktionen, die dort postapokalyptische Science-Fiction-Streifen und Horrorfilme drehten, darunter A Nightmare on Elm Street und Transformers.11 Sogar eine Szene aus der TV-Miniserie Chernobyl wurde dort gedreht.
Die Kriminalität nahm sprunghaft zu,12 und die Einwohnerzahl der Stadt ging von einem Maximum von 177.000 im Jahr 1960 auf 69.000 zurück.13 Plakatwände entlang der südlichen Grenze des Stahlwerks reflektieren die Stimmung einer Bevölkerung, die ihren Halt verloren hat. »Shackled by Lust? Jesus Sets You Free« (»Von Lust gefesselt? Jesus macht dich frei«) heißt es auf einem der Plakate,14 gefolgt von Werbeplakaten eines Stripklubs, eines auf Schadensersatz spezialisierten Rechtsanwalts und eines Spielcasinos.
Doch das Jahr 2014 brachte Garys Stahlarbeitern einen Hoffnungsschimmer. Der neue Chef des Unternehmens, Mario Longhi, hatte eine elitäre Unternehmensberatung namens McKinsey & Company engagiert,15 um in den alternden Stahlkonzern neue Ideen einzubringen. Seit Jahrzehnten hatte McKinsey mit dem Ruf einer Firma, die wissenschaftliche Lösungen für komplexe Probleme liefert, um Klienten geworben. Blue-Chip-Unternehmen und Regierungen in aller Welt engagierten McKinseys Consultants, ebenso wie die Central Intelligence Agency (CIA), das Federal Bureau of Investigation (FBI), das Pentagon (US-Verteidigungsministerium) und andere, weil sie glaubten, die Firma habe die Intelligenz und das Know-how, die dem eigenen Management fehlten.16
McKinsey kam mit dem Ziel zu U. S. Steel, den ikonischen Status des Stahlherstellers wiederherzustellen, den er einst als das herausragende Unternehmen genoss, das die Brücken und Gebäude der Nation baute – und die Waffen, mit denen Amerika seine Feinde besiegte. Mit McKinseys Hilfe, so versprach U. S. Steel, werde das Unternehmen diesen Geist wieder aufleben lassen, durch »einen unbeirrbaren Fokus auf ökonomischen Gewinn, unsere Kunden, unsere Kostenstruktur und Innovationskraft«17 – und all dies sollte erreicht werden, ohne die Arbeitssicherheit zu gefährden oder die Umwelt zu belasten. Die arbeitende Bevölkerung der Stadt Gary hatte kaum eine Vorstellung davon, was von diesen hoch bezahlten Unternehmensberatern zu erwarten sein würde, von denen einige an einer Eliteuniversität der Ivy League18 Wirtschaft studiert hatten.
Doch die Stahlarbeiter – wie schon andere vor ihnen – würden bald erleben, was passieren kann, wenn McKinsey kommt.
Die Bauarbeiten an U. S. Steels Stahlwerk in Gary hatten 1906 unter der Leitung des damaligen Chairman of the Board, dem Vorsitzenden des Verwaltungsrats der Firma, begonnen. Er hieß Elbert H. Gary,19 war ehemaliger Richter, wurde »Judge Gary« genannt und wollte, dass die Stadt seinen Namen trägt, obwohl er selbst nicht dort leben mochte. Judge Gary, der von einem Historiker einmal als »griesgrämiger Moralist« bezeichnet wurde, kümmerte sich weniger um das Wohlergehen der Einwohner der Stadt als vielmehr um die Effizienz und Profitabilität seines Stahlwerks.20
Judge Gary suchte die Gesellschaft europäischer Adliger und sammelte Renaissance-Kunstwerke,21 während die Arbeiter seiner Fabrik im »Patch« (sinngemäß: »Schandfleck«) lebten, einem rauen, von Krankheiten heimgesuchten Viertel, in dem es zweihundert Saloons mit Namen wie »Bucket of Blood« (»Eimer voll Blut«) gab. Sie arbeiteten zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Eine kirchliche Gruppe nannte diese 84-Stunden-Woche einmal eine »Schande für die Zivilisation«, ein Kongressausschuss bezeichnete sie als »brutales System industrieller Sklaverei«.22 Judge Gary war das ziemlich egal: Er lehnte Gewerkschaften ab, betrachtete Arbeiterführer als sozial minderwertig und glaubte, seine Belegschaft würde es vorziehen, möglichst viele Stunden zu arbeiten.23
Auch der Gründer von McKinsey & Company, James O. McKinsey, ein Buchhalter aus den Ozark Mountains, glaubte an Effizienz und Profit. Seine noch junge Firma begann während der Weltwirtschaftskrise, U. S. Steel zu beraten. Bald wurde der Stahlkonzern zum größten Klienten von »the firm« – der »Firma«, wie McKinsey & Company sich gerne nennt (und was in diesem Zusammenhang so viel wie »Kanzlei« bedeutet): Sie stellte über vierzig Consultants für U. S. Steel ab.24 Zu einem bestimmten Zeitpunkt entfiel mindestens die Hälfte der Einnahmen von McKinseys New Yorker Büro auf den Stahlkonzern. Als der Kongress mit dem 1935 verabschiedeten National Labor Relations Act (Nationales Mitbestimmungsgesetz, auch bekannt als »Wagner Act«) Arbeitgebern vorschrieb, mit Arbeitnehmern, die höhere Löhne und bessere Sicherheitsvorkehrungen am Arbeitsplatz forderten, in Verhandlungen zu treten, gründete McKinsey eine spezielle Abteilung, um Konzernmanager zu beraten, wie sie am besten mit solchen Forderungen fertigwerden konnten.25 Doch schließlich verlor McKinsey seinen wichtigsten Fürsprecher bei U. S. Steel, und in den 1950er-Jahren trennten sich die Wege der beiden Unternehmen.26 Als jedoch der Stahlhersteller sechzig Jahre später in Bedrängnis geriet, beschloss U. S. Steels neuer Vorstandschef (CEO) Mario Longhi, die frühere enge Beziehung wiederherzustellen.
Der in Brasilien geborene Longhi wurde 2013 zum CEO von U. S. Steel berufen.27 Er übernahm ein Unternehmen, das von alten, ineffizienten Produktionsverfahren behindert wurde. Kleinere Hersteller mit neueren Technologien hatten der schwerfälligen U. S. Steel Corporation – die schon seit Jahren keinen Gewinn mehr erzielt hatte – große Marktanteile abgenommen.28
Wie Judge Gary trug Longhi einen Schnauzbart und schätzte...
Erscheint lt. Verlag | 19.10.2022 |
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Übersetzer | Karlheinz Dürr, Karsten Petersen, Andreas Thomsen |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
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Schlagworte | Consulting • Führungskultur • Management • Unternehmensberatung • Unternehmenskultur • wirtschaftsbetrug |
ISBN-10 | 3-8437-2804-6 / 3843728046 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2804-1 / 9783843728041 |
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