Davenport 160 x 90 (eBook)
261 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77272-0 (ISBN)
Luna Moon, die mit extremer Kunst zwischen Porno, Avantgarde und Jetset Furore macht, wird in der Frankfurter Wohnung ihrer Halbschwester Sonja Slanski ermordet aufgefunden. Für Slanski steht fest, dass sie selbst das eigentliche Ziel war, denn mit ihrer Inkassofirma hat sie schon so manche halbseidene Karriere beendet ...
Außerdem geht Slanski dem Auftrag einer undurchsichtigen Society-Lady nach: Sie soll eine hochkriminelle Anwaltskanzlei ruinieren, egal, mit welchen Mitteln, da diese ihre Klientin um ein Patent betrogen haben soll. Slanski erledigt diesen Job ziemlich gründlich, wohl wissend, dass ihre Klientin die Ehefrau ihres Gelegenheitslovers ist ...
Sibylle Ruges unkonventionelles und glänzend geschriebenes Debüt ist messerscharfer Hard-Boiled-Thriller, intelligente Sozialkritik und vor allem beste Unterhaltung.
Sybille Ruge, geboren in der DDR, absolvierte die Schauspielschule »Hans Otto«, Leipzig, mit Diplom und die Meisterklasse für Schauspiel, Palast der Republik, Ost-Berlin, arbeitete dann als Kostümbildnerin für Bühne und TV und ab 1997 bis heute als Entwicklerin in der Textilindustrie. 2022 erschien ihr Debütroman <em>Davenport 160x90</em> bei Suhrkamp. Lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und Zürich.
Die Deutlichkeit meiner Syntax griff. Meine Stimme hatte jeglichen Zweifel eliminiert. Entscheidung ist Handeln. Das Programm führte mich über die Klippen und bewahrte mich vor dem Absturz. Es war möglicherweise ein Defekt. Ich wusste, ich würde dieses Programm nicht stoppen können.
Ich erklärte ihnen, dass ich jetzt in meine Wohnung gehen würde.
Ein letztes Mal. Der Ort war ohnehin verloren.
Aber ich hatte etwas vergessen. Es gibt keine Erklärung für die Dinge, die man in die nächste Zeit mitnimmt und die man zurücklässt. Ich ließ mir von Helena unterschreiben, dass sie das Loft für mich verkaufen würde, und überwies ihr eine sofortige Anzahlung der Provisionssumme per Mausklick. Die zurückgelassenen Landschaften verblassen, wenn man sich nicht mehr nach ihnen umdreht. Ich aß das überteuerte Gebäck von dem trendigen Bäcker, den ich immer Zeit für Tod genannt hatte, ich trank das Wasser aus den Glasflaschen, ich schmiss meine Klamotten in die Mülltonne, ich borgte mir Hose und Shirt, alles sah normal aus.
Ich ging mit Sonnenbrille, als ob mich das schützen würde oder als ob ich das nicht selbst wäre.
Die Spurensicherung in ihren Fukushima-Anzügen gab gerade meiner Wohnung den Rest, und irgendwelche Menschen in Uniform ließen mich gegen Vorlage meines Personalausweises hinein. Meine Geschichte hatte Hand und Fuß. Der leitende Beamte war äußerst rücksichtsvoll. Die Psycho-Coachings bei der Polizei werden offensichtlich immer besser. Exzellentes Betragen. Der Beamte ging mit mir zur Wand und nahm das Stückchen Himmel auf Leinwand ab, welches mir Luna geschenkt hatte. Ein blaues Rechteck mit angeschnittenen Wolken in Weiß. Ein überwältigendes Blau. Die halben Wolken hatten feine Schattierungen und einen sauberen Schnitt.
Den Himmel rollte ich in meine Jacke.
Der Beamte ließ mich keine Sekunde aus den Augen. Seine Kollegen sahen mich beim Verlassen des Lofts mitfühlend an, aber sie baten mich höflich, die Leinwand aufzurollen. Sie befingerten den Himmel von allen Seiten. Am Himmel war nichts zu finden. Als sie sahen, dass ich nichts als einen Fetzen Leinwand eingepackt hatte, ließen sie mich in Ruhe und konzentrierten sich weiter auf den Innenraum. Zwei Mitarbeiter der Mordkommission fragten mich über Luna aus. Ich wusste wenig, was ihre Biographie betraf. Sie wohnte ab und zu bei mir, eine Bekannte meiner Mutter. Exaltiert mit hoch und runter, mehr konnte ich zu ihrer Persönlichkeit nicht sagen. Ich unterschrieb ein Protokoll. Der leitende Beamte erklärte und entschuldigte sich. Ich nickte. Den Himmel unter der Achsel verließ ich die Szenerie. Reste aus einem abgehakten Leben. Die Baustelle war leer.
Ich ging quer durch den Schlamm ins Motel One und ließ mir die Zimmer zeigen.
Sie waren alle gleich. Ich entschied mich intuitiv meinem Plan folgend für die Aussicht auf die Baustelle mit guter Sicht auf mein ehemaliges Zuhause. Der Junge hinter der Rezeption nahm meine Adresse aus dem Personalausweis auf, stockte kurz und fragte, ob das meine aktuelle Anschrift sei. Unsere Adressen waren nur durch eine unterschiedliche Hausnummer getrennt. Er hatte die Freundlichkeit eines Komparsen in einem mittelmäßigen Film. Ich bejahte, und er hackte professionell, ohne großen Aufhebens, auf seiner Tastatur herum und erklärte mir die unterschiedlichen Business-Tarife. Dann betete er die Events der Stadt herunter, ohne von seinem Bildschirm hochzusehen. Ich sagte ihm, dass mich der Messekalender nicht interessiere, er solle einfach seinen Job machen und mich einchecken. Er erkundigte sich nach der Dauer meines Aufenthaltes.
Von jetzt ab, bis es fertig ist, sagte ich.
Er musterte kurz die Rolle unter meinem Arm und den Eastpak. Mein Erscheinungsbild gab Streit mit dem Partner her oder geplatzte Rohre, eventuell den Einsatz von einem Kammerjäger, schließlich zog ich lediglich auf die andere Straßenseite. Für einen Moment wechselte er sein geschäftiges Gesicht und sah mich verständnisvoll an, dann erklärte er mir entschuldigend, dass er ein Datum eintragen müsse. Ich legte die Kreditkarte in Gold, die mein Stiefvater mir geschenkt hatte, auf den Empfangstisch und bezahlte für die nächsten sechs Monate. Er wünschte mir einen angenehmen Aufenthalt.
Aufenthalt würde ich haben. Der Rest war unklar.
Ich entschied mich für die Treppen, gegen den Fahrstuhl. Als ich über den Kunstfaserteppich ging, kam ich mir vor wie auf einem Schiff, das den Hafen nie mehr erreicht. Die Luft im Flur war so unecht wie die Bilder an der Wand. So muss man sich in einer Taucherglocke fühlen. Meine Hose klebte an meinen Beinen. Als ich an der mir zugeteilten Nummer ankam, entlud sich die Spannung an der Türklinke. Heimat in Form einer dreistelligen Nummer.
Das Zimmer hatte ein eingerahmtes Bett im Zentrum und keinen Schrank. Gemacht für die Welt des Geschäfts. Von Emotionen befreit. Wiedererkennbar. Effiziente Aufteilung.
Ich hängte den Himmel an die Garderobe. South Seas II hatte sie ihn genannt. Früher gab es die Kirche, hatte sie gesagt. Heute stülpen nur noch Reisebüros einen blauen Himmel über den Dreck hier unten. Und während wir Ozeane und Wälder durchpflügen, um alles zu entdecken, sehen wir nichts als Grün (Pantone 14-0452) und helles Blau (Pantone 15-4427). Hirschheimer wollte das Bild haben. Aber bevor er es neben seine dreckigen Phantasien hängt, hau ich es lieber in die Tonne, hatte sie gesagt. Ich habe ihr 3000 Euro gegeben. Ein Freundschaftspreis. Sie war eine gute Verkäuferin. Der Himmel passte perfekt zu dem Aquarium auf dem Bildschirm an der Wand, der sich einschaltete, wenn man das Zimmer betrat. South Seas II. Auf dem Teppich und der Gardine waren großrapportige Linien, die beim genaueren Hinsehen eine Blume darstellten. Glücklicherweise gab es sonst keine Dekoration. Auf dem angedeuteten Schreibtisch lag lediglich ein Granny Smith. Diese Apfelsorte steht wohl für Design. Unnatürliches Grün auf Hartplastik. Ich mochte das Zimmer sofort. Es sah aus wie eine Urlaubsattrappe. In der Luft lag Reinigungsgeruch, also riss ich das Fenster auf.
Den Lappen am Fußende des Betts knüllte ich ins Regal. Meine Mutter hatte mich auf den wenigen gemeinsamen Reisen immer ermahnt, mich nicht mit meinen Klamotten auf die Bettwäsche zu setzen oder gar meinen Rucksack daraufzustellen. Dafür ist der Schal am Bettende da, hatte sie gesagt. Unser Mädchen musste die Fernbedienung abwischen und die Minibar verkleben. Ich erinnere mich, wie ich in der Lobby nicht abgeräumte Gläser leer trank. Ich legte mich aufs Bett. Auf dem Nachttisch lagen Werbeprospekte. Qualität kennt keine Sterne. Ich meditierte diesen Werbespruch vor mich hin. Er brachte mich in einen beruhigenden tranceartigen Zustand. Dieses Hotel kannte jedenfalls keine manisch-depressiven Innenarchitekten.
Ich war fest entschlossen zu meiner eigenen Version der operativen Fallanalyse.
Sie hieß Handeln.
Also verließ ich erst mal das Hotel mit unbestimmtem Ziel. Auf der Straße entdeckte ich einen Friseur, der kostenlose Modelle für seine Lehrlinge suchte. Das war es. Zu irgendwas nützlich sein. Die Hälfte meiner braunen langen Haare fiel auf den Boden. Ich dachte an das Märchen von den Seejungfrauen, die ihre Haare der Hexe opfern, um ihre Schwester zurückzugewinnen. Die Hexe gibt ihnen einen Dolch. Einen Dolch, das war es, was ich gerade brauchte. Die vier Phasen der Trauer. Leugnung. Wut. Innere Auseinandersetzung mit dem Verlust. Es war so beruhigend, dass Experten immer alles schon geklärt haben. Ich wollte nichts akzeptieren, und es wird keine innere Auseinandersetzung geben. Meine Auseinandersetzung würde mit dem Dolch in der Hand stattfinden. Stufe vier: Neuer Weltbezug. Den kann sich ihr Mörder suchen. Bei Brettspielen im Knast. Ich versuchte, mich auf die dummen Magazine zu konzentrieren, um Stufe zwei in den Griff zu kriegen, Aggressionstraining. Ich blätterte in den Seiten. Meghan und Harry berichten vom täglichen Rassismus – die Queen ist entsetzt – Flüchtlinge auf dem offenen Meer – ich bin pansexuell und wusste es nicht – mit Elektroautos schaffen wir alles – die Neuseeländer gewinnen den America’s Cup – M2 verlängert Wimpern. Ich legte die bunten Heftchen weg. Der Junge war von seiner Arbeit so hingerissen, dass er nicht aufhören konnte. Ich ließ ihn an meinem Kopf rummachen, bis ich mich nicht mehr wiedererkannte. Ich ähnelte den...
Erscheint lt. Verlag | 16.5.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
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ISBN-10 | 3-518-77272-4 / 3518772724 |
ISBN-13 | 978-3-518-77272-0 / 9783518772720 |
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