Die Rückkehr der Kraniche (eBook)

Spiegel-Bestseller

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(Autor)

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2022
336 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01445-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Rückkehr der Kraniche -  Romy Fölck
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Dieses Buch zu lesen ist, wie in eine warme Scheibe Sauerteigbrot zu beißen, durch taunasses Gras zu laufen und dem Gesang der Vögel zu lauschen.
Ein altes Haus inmitten der Elbmarsch, die Kraft der Natur und drei Frauengenerationen, die nach Jahren dort wieder zusammenkommen. Zwei Schwestern mit unterschiedlichen Lebensentwürfen treffen aufeinander, als die Mutter im Sterben liegt. Im alten Reetdachhaus in der Elbmarsch müssen sich die Hansen-Frauen ihrer Vergangenheit stellen, mit all ihren Geheimnissen und Fragen, und lernen, dass ein Ende immer auch ein Anfang sein kann. Nach langer Zeit begegnen sich die Schwestern Grete und Freya in ihrem Elternhaus wieder. Ihre Mutter Wilhelmine hat einen Schwächeanfall erlitten, Freya kommt sofort aus Berlin angereist. Sie will helfen, aber mehr noch ihrem eigenen Leben entfliehen. Ihr Freund hat sie verlassen, und damit die letzte Hoffnung auf die Gründung einer eigenen Familie. Grete ist ebenfalls Single, sie ist ihr Leben lang im kleinen Dorf an der Elbe geblieben, eine frühe Schwangerschaft machte ihre Träume von der weiten Welt zunichte. Sie kümmerte sich erst um ihre Tochter Anne, dann brauchte Wilhelmine mehr und mehr Unterstützung mit Haus und Hof. Gretes Zufluchtsort ist die Natur, der Garten, vor allem aber das Naturschutzgebiet an der Elbe, wo sie als Vogelwartin arbeitet. Als sich jetzt, kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag, eine unerwartete Chance zum Ausbrechen bietet, auf die sie schon lange gehofft hat, braucht sie einmal die Unterstützung ihrer Familie mehr denn je. Auch Anne kommt, um der Großmutter nahe zu sein. Das Verhältnis zu ihrer Mutter Grete ist angespannt - sicherlich auch, weil diese nie verraten hat, wer Annes Vater ist. Und auch Wilhelmine liegt ein Geheimnis auf den Lippen.

Romy Fölck wurde 1974 in Meißen geboren. Sie studierte Jura und arbeitete viele Jahre in der Wirtschaft. Mit Mitte 30 entschied sie, ihrem Traum, Schriftstellerin zu sein, eine Chance zu geben. Sie kündigte Job und Wohnung in Leipzig und zog in den Norden. Hier lebt sie gemeinsam mit ihrem Mann in einem Haus zwischen Deichen und Apfelbäumen an der Elbe. Ihr erster Roman im Wunderlich Verlag, «Die Rückkehr der Kraniche», stieg sofort in die SPIEGEL-Bestsellerliste ein.

1


Grete

Trübes Morgenlicht löste die Dämmerung ab und hob die Wiesen am Fluss aus dem Halbdunkel. Der Wind im Schilfrohr wehte synchron den letzten Dunst des Morgennebels auseinander. Ein Teichhuhn stieß irgendwo am Ufer, wo es sich im Meer der Halme verbarg, ein scharfes ki-reck aus.

Grete bremste das Hollandrad ab und schloss den Reißverschluss ihrer Outdoorjacke bis unter das Kinn, zog die Mütze über die Ohren, bevor sie wieder in die Pedale trat. Die Temperaturen in der Nacht waren ins Einstellige gerutscht, und noch war die Sonne nicht stark genug, um die Kälte zu vertreiben. Die Handschuhe hatte sie in der Schublade gelassen, weil es viel zu früh im Jahr dafür war. Sie fluchte stumm, zog beim Weiterfahren den Saum der Jackenärmel über die Hände.

Grete mochte jede Jahreszeit. Aber wenn der Altweibersommer leise den Herbst ankündigte, wenn die Tage so kurz wurden, dass die Wäsche im Garten bereits am späten Nachmittag Feuchtigkeit zog, spürte sie eine unergründliche Melancholie, die sie erst vertreiben konnte, wenn die Kastanien in den Hof fielen.

Übergänge waren nicht ihre Stärke. Sie mochte klare Grenzen, strikte Brüche und direkte Worte. Wenn ein Gesprächspartner um das Wesentliche herumpalaverte, nicht auf den Punkt kam, wurde sie ungehalten. Fasler waren ihr zuwider. Wie auch dieser Beinaheherbst, der mit einer Art Drohgebärde kalte Nächte vorausschickte, um dann mit milden Tagestemperaturen dem Sommer erneut das Feld zu überlassen.

Nichts Halbes und nichts Ganzes. «Weder Fisch noch Fleisch», wie ihre Mutter immer zu sagen pflegte.

Ihr Hinterrad klackte einen rhythmischen Takt in die Stille am Fluss. Vielleicht war wieder eine Speiche gebrochen und stieß irgendwo an. Langsam wurden das zu viele Reparaturen am Rad. Sie sollte das schwere Monstrum endlich dem Schrott überlassen und sich eines dieser leichtläufigen Modelle besorgen. Die Angewohnheit, Dinge weit über das Verfallsdatum hinaus zu behalten, weil sie «ja noch gut waren», hatte sie von ihrer Mutter übernommen, die als Alleinerziehende jeden Pfennig mehr als einmal hatte herumdrehen müssen, um ihre beiden Töchter nicht spüren zu lassen, dass ihr Gehalt und die Witwenrente kaum bis zum Monatsende reichten. Wenigstens hatte sie das Haus geerbt, das von der Familie ihres verstorbenen Mannes stammte und an das sich ein großer Garten anschloss, der sie mit allem versorgte, was der fruchtbare Marschboden hergab. Grete hatte nie das Gefühl von Mangel gekannt, auch wenn ihre Schulkameraden bessere Klamotten hatten, teures Spielzeug und sogar Taschengeld. Vielleicht war sie deshalb schon früh zur Außenseiterin degradiert worden, die später ihre vier Jahre jüngere Schwester vor den Anfeindungen auf dem Schulhof verteidigt hatte. Dem größten Jungen in ihrer Klasse hatte sie einmal mit einem Schulbuch einen Schneidezahn ausgeschlagen, weil er Freya «Lumpenkind» gerufen hatte. Er hatte sie nie mehr beleidigt, und das war es ihr wert gewesen, dass sie einen Schultadel kassierte und in den Köpfen der Lehrer fortan als gewalttätiges Kind galt. Sie hatte früh gelernt, dass man Ellenbogen benutzen musste, wenn man weder durch seinen Stand noch wenigstens durch ausreichend Geld in der Familie die Türen geöffnet bekam. Auch Freya hatte es schnell begriffen und wie sie selbst stoisch eine Bugwelle von Abneigung und Gehässigkeit vor sich hergeschoben. Sie beide waren für viele ältere Dorfbewohner «dat Lumpenpack van de Hansen», für die meisten Kinder einfach nur die «Lumpenschwestern» gewesen. Je mehr Ablehnung sie erfuhren, desto mehr schweißte sie diese zusammen. Nichts und niemand konnte sie trennen.

Grete ließ das Rad weiterrollen. Ein trompetenartiger Ruf ließ sie aufhorchen. Erst ein tiefer, darauf folgend ein hoher Laut. Ihr Herz begann zu flattern, denn dieser Ruf war unverwechselbar, auch wenn Kraniche hier selten rasteten. Sie entdeckte die zwei Tiere nach ein paar kräftigen Tritten in die Pedale. Ein Männchen und ein Weibchen standen seitlich vom Weg auf der dunstigen Wiese. Ersterer stimmte wieder in den Warnruf ein, seine Partnerin folgte. Graukraniche, die hier im Norden heimisch geworden waren. Erhaben, mit lang gestreckten Hälsen staksten sie über die Wiese. Die ausladende Schleppe, wie ihre Schwanzfedern genannt wurden, erinnerte Grete an die vorn gelüpften Röcke von Cancan-Tänzerinnen. Sie bremste ab und stieg vom Rad, blieb am Wegrand im Schutz eines Hagebuttenstrauchs stehen, dessen Früchte schon Farbe hatten. Andächtig betrachtete sie den schwarz-weiß gemusterten Kopf und Hals der Vögel, den keilförmigen Schnabel, sah die leuchtend rote federlose Platte, als das etwas kräftigere Männchen den Kopf drehte. Der restliche Körper war von grauem Federwuchs in verschiedenen Abstufungen bedeckt, der in Richtung des Schwanzes ins Anthrazitfarbene verlief. Wie graziös und anmutig sich die gut ein Meter zwanzig großen Schreitvögel auf ihren langen Beinen bewegten!

Ihre Brutstätten lagen östlich von hier, im Hansdorfer oder Duvenstedter Brook. Mitte November würden sie weiterziehen in ihre Winterquartiere in Frankreich, Spanien oder Nordafrika. Frühestens im Februar würden sie zurückkehren.

Das Paar streckte Kopf und Hals einige Sekunden bogenförmig in Richtung Elbe, trompetete nochmals im Wechsel. Dann staksten beide ein paar schnelle Schritte, bevor sie sich vom Boden abstießen und mit langem Hals davonflogen.

Es war die Magie dieses Augenblicks, der Gretes Kehle eng werden ließ. Eine alte Wunde riss in ihr auf.

Fliegt, ihr Kraniche! Fliegt!

Wie gern wäre sie mit ihnen gezogen. Fort von hier in wärmere Gefilde, wo das Ohr fremde Sprachen aufnahm, die Nase exotische Gerüche, der Geist nie erahnte Eindrücke. Dorthin, wo sich das Leben nicht in den engen Bahnen des Alltags abnutzte.

In der nächsten Woche stand ihr fünfzigster Geburtstag an, und sie war noch nie groß fortgekommen aus ihrem Dorf an der Binnenelbe, obwohl sie als Achtzehnjährige davon geträumt hatte, Meeresbiologie zu studieren und jedes Land der Welt zu bereisen. Aber auch Träume verschlissen mit der Zeit, wenn sie nur ein idealisiertes Hirngespinst blieben.

Grete sog die kühle Luft ein und stieg aufs Rad. Als die Kraniche am Horizont verschwunden waren, fühlte sie sich plötzlich kraftlos und leer. Es war ihr Kreuz, sich nach fernen Ländern zu sehnen und doch wieder in das in die Jahre gekommene Elternhaus zurückzukehren. So wie jeden Tag in den letzten fünfzig Jahren.

Grete stellte das Objektiv scharf, um das Seeadlerpaar beobachten zu können, welches in einer Baumkrone nur zweihundert Meter von ihr entfernt saß und nach Beute spähte. Noch in den Achtzigerjahren hatte es niemand für möglich gehalten, dass es hier in der Elbmarsch einen Seeadlerbestand geben würde. Weit mehr als achtzig Reviere waren mittlerweile im Bereich der Binnenelbe besetzt, seit einigen Jahren mit eigenem Nachwuchs. Eine kleine Sensation.

Grete beobachtete das Männchen mit seinem typisch bulligen Körper und dem kräftigen Fang. Sein überwiegend braunes Gefieder war am oberen Rücken aufgehellt und endete in weißen Schwanzfedern. Der Horst war nicht zu sehen. Er befand sich im hinteren Teil des Baumes. Dort hatte das Paar in diesem Jahr zwei Jungtiere ausgebrütet und durchgebracht.

Ein elektronisches Flirren in ihrer Tasche ließ Grete zusammenfahren. Verdammt! Sie hatte vergessen, ihr Handy auszuschalten. Das Seeadlermännchen stieß ein heiseres akakak aus und schwang sich vom Ast in die Luft, um kurz darauf im Segelflug über der Binnenelbe zu schweben. Das Weibchen folgte ihm nach.

«Ja?» Sie konnte ihre Verärgerung kaum unterdrücken.

«Bringst du vom Laden noch Gelierzucker mit?», fragte ihre Mutter mit dem typisch gerollten «r» der norddeutschen Nachkriegsgeneration.

«Das steht doch schon auf deinem Zettel!» Grete versuchte, ruhig zu bleiben.

«Was für ein Zettel?»

«Du hast mir doch einen Einkaufszettel gegeben. Gestern Abend!»

Schweigen am anderen Ende. Die Erinnerungslücken ihrer Mutter machten den Alltag mit ihr zur Geduldsprobe.

«Na dann! Weißt du ja Bescheid!» Ihre Mutter legte ohne ein Wort des Abschieds auf. So abweisend benahm sie sich schon ihr Leben lang. Nie ein Wort zu viel reden. Wenn alles gesagt war, war das Schnack genug. Es gab Tage, an denen sie nicht ein Wort miteinander wechselten.

Grete stellte das Mobiltelefon auf stumm und ließ es in ihre Jackentasche gleiten. Das Seeadlerpaar war nur noch stecknadelkopfgroß in der Ferne auszumachen. Ihre Chance war vertan. Sie stand auf, klappte das Kamerastativ zusammen und blieb stehen. Der Tag war warm geworden, aber der Wind frischte immer wieder kühl auf. Er spielte in den wehenden Schilfrohrhalmen an der Wasserkante ein uraltes Lied, eine sehnsuchtsvolle Melodie, die vom Zauber der unangetasteten Natur erzählte. Sie hörte es jeden Tag hier am Ufer, ohne dessen überdrüssig zu werden. Das weiche Rauschen der Halme erinnerte sie an ihre Kindheit, weite Streifzüge an der Binnenelbe, blutige Knie und Wilderdbeeren, deren herbe Süße auf der Zunge explodierte. Und an Freya, die ihr nachgelaufen war wie ein Entenjunges der Mutter. Bis sie flügge wurde.

Grete erreichte den kleinen Hafen, der nur aus einem Holzhaus, das dem Sportbootverein gehörte, und ein paar Bootsstegen bestand, und lehnte ihr Hollandrad an eine Laterne. Sie schloss es nicht an, das olle Ding würde eh niemand klauen wollen.

Der Motor des Schlauchbootes sprang sofort an. Grete setzte sich auf die Sitzbank im Heck und zog das Gas hoch, nahm Kurs auf die Insel. Der Fahrtwind zerzauste ihre Haare....

Erscheint lt. Verlag 16.8.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alte Liebe • Älterwerden • Altes Land • bücher literatur • Bücher Neuerscheinungen 2024 • buch für frauen • Der Gesang der Flusskrebse • Deutsche Literatur • Deutsche Romane • Elbe • Elbmarsch • Familie • Familiengeschichte • Familienroman • Familienromane • Familiensaga • Frauenroman • Frauenromane • Frauenunterhaltung • Garten • Gegenwartsliteratur • Geheimnisse • Geschenke für Frauen • Herbst • kleine geschenke für frauen • Kraniche • Liebesromane deutsch • Marschland • Natur • Naturschutz • naturverbunden • Neuanfang • Norddeutschland • Romane für Frauen • romane neuerscheinungen 2024 • Roman Frauen • Saga • Schwestern • Umwelt • Unerfüllter Kinderwunsch • Zeitgenössische Literatur
ISBN-10 3-644-01445-0 / 3644014450
ISBN-13 978-3-644-01445-9 / 9783644014459
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