Fliehe weit und schnell - (eBook)
448 Seiten
Blanvalet Taschenbuch Verlag
978-3-641-28946-1 (ISBN)
Die Pest ist zurück! Nachdem nachts auf Wohnungstüren eine gespiegelte Vier erschienen ist und am nächsten Tag ein Toter auf der Straße lag, hält das Gerücht, der schwarze Tod sei zurück, ganz Paris in Atem. Kommissar Adamsberg wird mit den Ermittlungen betraut und muss herausfinden, was es mit der rätselhaften lateinischen Formel auf sich hat, die auf den betroffenen Türen stand. Und wer ist dieser Bretone, der auf den Straßen von Paris lateinische Texte vorliest und dabei immer mehr Menschen um sich schart? Die vermeintlichen Pestopfer werden immer mehr, als Adamsberg einen Einfall hat, der absurd erscheint - aber der Schlüssel zu dem mysteriösen Fall sein könnte ...
»Fred Vargas' Krimis sind etwas Besonderes - eigenwillig, mit geradezu genialem Plot und viel französischem Esprit!« Bestsellerautorin Sophie Bonnet
»Lässig, klug, anarchisch und manchmal ziemlich abgedreht - die Krimis von Fred Vargas sind sehr französisch und zum Niederknien gut.« Bestsellerautor Cay Rademacher
»Fred Vargas erschafft nicht nur Figuren, sondern echte Charaktere. Sie kennt die Abgründe, die Sehnsüchte und die Geheimnisse der Menschen - und Commissaire Adamsberg ist für mich einer der spannendsten Ermittler in der zeitgenössischen Literatur.« Bestsellerautor Alexander Oetker
Wenn Ihnen die Krimis um Kommissar Adamsberg gefallen, lesen Sie auch die Evangelisten-Reihe unserer internationalen Bestseller-Autorin Fred Vargas!
Fred Vargas, geboren 1957, ist ausgebildete Archäologin und hat Geschichte studiert. Sie ist heute die bedeutendste französische Kriminalautorin mit internationalem Renommee. 2004 erhielt sie für »Fliehe weit und schnell« den Deutschen Krimipreis, 2012 den Europäischen Krimipreis für ihr Gesamtwerk und 2016 den Deutschen Krimipreis in der Kategorie International für »Das barmherzige Fallbeil«.
3
Hervé Decambrais erschien ein paar Minuten vor dem Beginn des Halb-neun-Ausrufens. Er lehnte sich an den Türrahmen und wartete auf das Erscheinen des Bretonen. Seine Beziehung zu dem Fischer war von Schweigen und Feindseligkeit geprägt. Decambrais gelang es nicht herauszufinden, wieso. Er neigte dazu, die Verantwortung dafür dem ungeschliffenen, wie aus Granit gemeißelten und wahrscheinlich gewalttätigen Burschen zuzuschieben, der vor zwei Jahren mit seiner Kiste, seiner albernen Urne und seiner Ausruferei, mit der er der Öffentlichkeit dreimal am Tag eine Tonne kümmerliche Scheiße vor die Füße warf, aufgetaucht war und die empfindliche Ordnung seines Lebens durcheinandergebracht hatte. Anfangs hatte er dem keine Bedeutung beigemessen, er war überzeugt davon, dass der Kerl keine Woche durchhalten würde. Aber die Sache mit dem Ausrufen hatte bemerkenswert gut funktioniert, der Bretone hatte seine Kundschaft fest vertäut und hatte sozusagen Tag für Tag volles Haus, wirklich eine Belästigung.
Um nichts in der Welt hätte Decambrais auf das Schauspiel dieser Belästigung verzichtet, und um nichts in der Welt hätte er das zugegeben. Jeden Morgen nahm er daher mit einem Buch in der Hand seinen Platz ein, hörte dem Ausrufer mit gesenktem Blick zu und blätterte dabei die Seiten um, wobei er in seiner Lektüre nicht eine Zeile weiterkam. Zwischen zwei Rubriken warf Joss Le Guern ihm manchmal einen kurzen Blick zu. Decambrais mochte diesen kurzen Blick aus blauen Augen nicht. Es schien ihm, als wolle der Ausrufer sich seiner Anwesenheit vergewissern, als stelle er sich vor, auch ihn mit der Zeit an der Angel zu haben wie einen gewöhnlichen Fisch. Denn der Bretone hatte nichts anderes getan, als seine rohen Fischerreflexe auf die Stadt anzuwenden und wie ein wirklich professioneller Fänger die Schwärme der Passanten in seinen Netzen zu fangen, als handele es sich um Kabeljau. Passanten, Fische – das war ein und dasselbe in seinem runden Kopf: Er nahm sie aus, um ein Geschäft zu machen.
Aber Decambrais hatte es gepackt, und er kannte die menschliche Seele zu gut, um das nicht zu wissen. Nur das Buch, das er in der Hand hielt, unterschied ihn noch von den anderen Zuhörern auf dem Platz. Wäre es nicht angemessener, das verdammte Buch wegzulegen und dreimal am Tag dazu zu stehen, dass er nichts war als ein Fisch? Also ein Besiegter, ein von dem albernen Ruf der Straße mitgerissener Homme de lettre?
Joss Le Guern hatte sich an diesem Morgen ein wenig verspätet, was höchst ungewöhnlich war, und aus den Augenwinkeln beobachtete Decambrais, wie der Fischer herbeieilte und die leere Urne solide am Stamm der Platane befestigte, diese Urne in schreiendem Blau mit dem anmaßenden Namen Le Vent de Norois II. Decambrais fragte sich, ob der Fischer noch ganz richtig im Kopf war. Er hätte gern gewusst, ob Le Guern auf diese Weise wohl seinen ganzen Besitz benannt hatte, ob seine Stühle, sein Tisch einen Namen trugen. Dann sah er zu, wie Joss sein schweres Podest mit seinen Hafenarbeiterhänden umdrehte, es ebenso leichthändig auf den Bürgersteig stellte, wie er mit einem Vogel umgegangen wäre, mit einem großen, energischen Schritt hinaufstieg, als ginge er an Bord, und die Blätter aus seiner Matrosenbluse zog. Etwa dreißig Personen warteten geduldig, darunter Lizbeth, immer treu auf ihrem Posten, die Hände an den Hüften.
Lizbeth bewohnte bei ihm das Zimmer Nr. 3, und statt Miete zu zahlen, trug sie dazu bei, dass seine kleine inoffizielle Pension reibungslos funktionierte. Eine entscheidende, strahlende, unersetzbare Hilfe. Decambrais lebte in steter Furcht vor dem Tag, an dem ihm jemand seine herrliche Lizbeth klauen würde. Irgendwann würde dies unweigerlich geschehen. Lizbeth war groß, dick und schwarz und von Weitem zu sehen. Es bestand daher keinerlei Hoffnung, sie vor den Augen der Welt zu verbergen. Umso weniger, als Lizbeth kein diskretes Temperament hatte, laut redete und großzügig ihre Meinung zu allem und jedem verbreitete. Das Gravierendste dabei war, dass Lizbeths Lächeln, das glücklicherweise nicht häufig auf ihrem Gesicht erschien, ein kaum zu unterdrückendes Bedürfnis auslöste, sich in ihre Arme zu werfen, sich gegen ihren dicken Busen zu drücken und sich dort für immer häuslich einzurichten. Sie war zweiunddreißig Jahre alt, und eines Tages würde er sie verlieren. Einstweilen machte Lizbeth dem Ausrufer Vorhaltungen.
»Du bist heute spät dran, Joss«, sagte sie mit zurückgebogenem Oberkörper, den Kopf zu ihm emporgereckt.
»Ich weiß, Lizbeth«, keuchte der Ausrufer außer Atem. »Das liegt am Kaffeesatz.«
Lizbeth war mit zwölf Jahren dem Schwarzenghetto von Detroit entrissen und gleich nach ihrer Ankunft in der französischen Hauptstadt in ein Bordell gesteckt worden, wo sie vierzehn Jahre lang auf dem Straßenstrich der Rue de la Gaîté Französisch gelernt hatte. Bis zu dem Tag, an dem alle Peep-Shows des Viertels sie wegen ihrer Korpulenz vor die Tür gesetzt hatten. Zehn Nächte hatte sie bereits auf einer Bank auf dem Platz verbracht, als Decambrais an einem kalten, regnerischen Abend beschlossen hatte, sie dort aufzusuchen. Von den vier Zimmern, die er im Obergeschoss seines alten Hauses vermietete, war eines frei. Er hatte es ihr angeboten. Lizbeth hatte eingewilligt, sich, kaum war sie im Zimmer, ausgezogen, mit im Nacken verschränkten Armen, den Blick zur Decke gerichtet, auf den Teppich gelegt und darauf gewartet, dass der Alte der Aufforderung nachkam.
»Das ist ein Missverständnis«, hatte Decambrais gemurmelt und ihr ihre Kleider hingestreckt. »Ich habe nichts anderes zum Bezahlen«, hatte Lizbeth geantwortet und sich mit übereinandergeschlagenen Beinen aufgerichtet. »Ich komme mit dem Haushalt, dem Abendessen für die Pensionsgäste, den Einkäufen, dem Servieren hier nicht mehr zurecht«, hatte Decambrais, den Blick starr auf den Teppich geheftet, gesagt. »Helfen Sie mir ein bisschen, und ich überlasse Ihnen das Zimmer.« Lizbeth hatte gelächelt, und Decambrais hätte sich beinahe an ihren Busen geworfen. Aber er fand sich alt, und er war der Ansicht, die Frau habe ein Recht auf Ruhe. Diese Ruhe hatte Lizbeth sich genommen: Sechs Jahre war sie jetzt da, und er wusste von keiner Liebschaft. Lizbeth erholte sich, und er betete darum, dass das noch ein bisschen andauern möge.
Das Ausrufen hatte begonnen, und eine Anzeige folgte auf die nächste. Decambrais merkte, dass er den Anfang verpasst hatte, der Bretone war bereits bei Anzeige Nr. 5. Das war das System. Man merkte sich die Nummer, die einen interessierte, und wandte sich an den Ausrufer »wegen weiterer diesbezüglicher« Einzelheiten. Decambrais fragte sich, wo er diesen Gendarmerieausdruck wohl aufgeschnappt haben mochte.
»Fünf«, rief Joss. »Verkaufe einen Wurf Katzen, drei Kater, zwei Katzen. Sechs: Diejenigen, die gegenüber von Haus Nr. 36 mit ihrer Urwaldmusik die ganze Nacht Radau machen, werden gebeten, damit aufzuhören. Manche Leute möchten schlafen. Sieben: Tischlereiarbeiten aller Art, Restaurierung alter Möbel, bestes Ergebnis, Abholung und Lieferung. Acht: Strom- und Gaswerke sollen sich zum Teufel scheren. Neun: Die Kammerjäger sind die reinsten Abzocker: Hinterher gibt es genauso viele Kakerlaken wie vorher, aber dafür wollen sie sechshundert Francs. Zehn: Ich liebe dich, Hélène. Ich warte heute Abend auf dich im ›Chat qui danse‹. Bernard. Elf: Schon wieder ein verregneter Sommer, und jetzt ist schon September. Zwölf: An den Fleischer am Platz: Das Fleisch gestern war zäh, und das zum dritten Mal diese Woche. Dreizehn: Jean-Christophe, komm zurück. Vierzehn: Bullen gleich korrupt gleich Dreckskerle. Fünfzehn: Verkaufe Äpfel und Birnen aus dem Garten, aromatisch, saftig.«
Decambrais warf Lizbeth einen Blick zu, die sich die Zahl 15 notierte. Seitdem es den Ausrufer gab, fand man ausgezeichnete Ware zu moderaten Preisen, was sich als vorteilhaft für das Abendessen der Pensionsgäste erwies. Decambrais hatte ein Blatt Papier zwischen die Seiten seines Buches gesteckt und wartete, einen Bleistift in der Hand. Seit einiger Zeit, drei Wochen vielleicht, deklamierte der Ausrufer ungewöhnliche Texte, die ihn nicht stärker zu irritieren schienen als der Verkauf von Äpfeln oder Autos. Diese außergewöhnlichen, raffinierten, absurden oder bedrohlichen Botschaften tauchten jetzt regelmäßig in der Morgenausgabe auf. Vor zwei Tagen hatte Decambrais sich entschlossen, sie sich unauffällig zu notieren. Sein vier Zentimeter langer Bleistift verschwand vollständig in seiner Hand.
Der Ausrufer begann gerade mit der Wetterberichtpause. Er verkündete den Wetterbericht, indem er von seinem Podest aus mit emporgestreckter Nase den Himmel studierte, und endete dann mit einem Seewetterbericht, der für alle Umstehenden absolut nutzlos war. Aber niemand, nicht einmal Lizbeth, wäre auf den Gedanken gekommen, ihm zu sagen, er könne seine Rubrik einpacken. Man hörte zu, wie in der Kirche.
»Unwirtliches Septemberwetter«, erklärte der Ausrufer, das Gesicht zum Himmel gewandt. »Aufklaren nicht vor sechzehn Uhr zu erwarten, abends etwas besser, wer ausgehen will, kann das tun, nehmen Sie dennoch was Warmes zum Drüberziehen mit, frischer Wind, nachlassend, dann heiter. Seewetterbericht, Nordatlantik, allgemeine Wetterlage heute und weitere Entwicklung: Hochdruckgebiet 1030 südwestlich Irland, mit sich verstärkendem Hochdruckrücken über dem Kanal. Sektor Cap Finistère, Ost bis Nordost, fünf bis sechs im Norden, sechs bis sieben im Süden. Bewegte See, örtlich stark, West...
Erscheint lt. Verlag | 23.11.2022 |
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Reihe/Serie | Kommissar Adamsberg ermittelt | Kommissar Adamsberg ermittelt |
Übersetzer | Tobias Scheffel |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Pars vite et reviens tard |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2022 • Adrien Danglard • Bannalec • Bei Einbruch der Nacht • Cozy Mystery • Das barmherzige Fallbeil • Der Zorn der Einsiedlerin • Die Kugel • Die Nacht des Zorns • dritter Fall • eBooks • Ermittlerkrimi • Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord • Estalère • Frankreich • frankreich-krimi • Frankreich-Urlaub • Hélène Froissy • Jean-Baptiste Adamsberg • Joss Le Guern • Justin • Kernokian • Kommissar • Krimi • Krimiklassiker • Kriminalromane • Krimis • Lamarres • Louis Veyrenc de Bilhc • Mercadet • Mordent • Mordserie • Neuerscheinung • noël • Paris • Pest • Preisträgerin • Regiokrimi • Spiegel-Bestsellerautorin • Violette Retancourt • Voisenet |
ISBN-10 | 3-641-28946-7 / 3641289467 |
ISBN-13 | 978-3-641-28946-1 / 9783641289461 |
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